Jürgen Kuhlmann

Ursünde und Erbsünde

Texte der christlichen Tradition

Der heilige Bischof Irenaeus von Lyon schrieb um das Jahr 190:

Sollte aber jemand sagen: "Wie denn? Konnte Gott nicht von Anfang an den Menschen vollkommen machen?" so soll er wissen, daß Gott, der Unveränderliche und Unerschaffene, an und für sich alles vermag, das Erschaffene aber, eben weil es seinen Anfang erst später genommen hat, deshalb auch seinem Schöpfer nachstehen muß. Was eben geworden ist, kann nicht unerschaffen sein. Weil sie nicht unerschaffen sind, daher bleiben sie hinter dem Vollkommenen zurück. Weil sie jünger sind, darum sind sie gleichsam Kinder und folglich noch nicht gewöhnt und ungeübt in der Wissenschaft des Vollkommenen. Wie nämlich die Mutter ihrem Kinde vollkommene Speise reichen könnte, das Kind aber die zu starke Speise nicht vertragen kann, so war auch Gott imstande, dem Menschen die Vollkommenheit von Anfang an zu gewähren, der Mensch aber war unfähig, sie aufzunehmen; denn er war noch ein Kind. Und deswegen kam unser Herr in den letzten Zeiten, indem er alles in sich rekapitulierte, zu uns, nicht wie er selber hätte können, sondern wie wir ihn zu sehen vermochten. Er hätte nämlich in seiner unaussprechlichen Herrlichkeit zu uns kommen können; aber wir waren nicht im geringsten imstande, die Größe seiner Herrlichkeit zu ertragen. Und deshalb gab er, der das vollkommene Brot des Vaters war, sich uns gleichsam wie Kindern als Milch - denn das war seine menschliche Ankunft - damit wir gleichsam von der Mutterbrust seines Fleisches genährt, durch solche Milchnahrung gewöhnt würden, das Wort Gottes "zu essen und zu trinken", und damit wir imstande wären, das Brot der Unsterblichkeit, welches der Geist des Vaters ist, in uns zu bewahren. [Contra Haereses IV,38,1] ...

Gemäß seiner Güte gab er uns gütig das Gute und machte die Menschen sich ähnlich durch den freien Willen, gemäß seiner, Vorsehung aber kannte er die Schwäche der Menschen, und was daraus folgen würde. Gemäß Seiner Liebe und Kraft jedoch wird er das Wesen der erschaffenen Natur überwinden. Zuerst aber mußte die Natur erscheinen, dann das Sterbliche von dem Unsterblichen besiegt und verschlungen werden und das Vergängliche von dem Unvergänglichen, und der Mensch nach dem Bild und Gleichnis Gottes werden, nachdem er die Kenntnis des Guten und Bösen erlangt hatte. [Contra Haereses IV,38,4]

Es empfing also der Mensch die Kenntnis des Guten und Bösen. Gut ist es aber, Gott zu gehorchen und ihm zu glauben und seine Gebote zu beobachten; und das ist das Leben des Menschen, wie Gott nicht zu gehorchen, böse ist und der Tod des Menschen. Indem also Gott sich großmütig zeigte, lernte der Mensch das Gute des Gehorsams und das Böse des Ungehorsams, damit das Auge seines Geistes beides kennen lernte, für die Wahl des Besseren sich einsichtig entscheide und niemals träge oder nachlässig in den Geboten Gottes werde, und niemals mehr das, was ihm das Leben wegnimmt, nämlich den Ungehorsam gegen Gott - denn das ist böse - erprobe, oder es jemals versuche. Was aber das Leben erhält, den Gehorsam gegen Gott, sollte er mit aller Sorgfalt gewissenhaft beobachten, erkennend, daß das gut ist Deshalb auch hatte er die doppelte Einsicht, welche die Kenntnis von beidem enthielt, damit er die Wahl des Besseren mit Verständnis vollziehe, diese aber hätte er nicht haben können, wenn er nicht das Gegenteil vom Guten kannte. Denn sicherer und zweifelloser ist die Kenntnis realer Dinge als die auf Vermutungen beruhende Meinung. Wie nämlich die Zunge durch den Geschmack die Kenntnis des Süßen und Bitteren empfängt und das Auge durch das Gesicht das Schwarze vom Weißen unterscheidet und das Ohr durch das Gehör die Unterschiede der Töne wahrnimmt, so empfing auch der Geist durch die Erfahrung des Guten und Bösen das Verständnis für das Gute und wurde gefestigt, es durch den Gehorsam gegen Gott zu bewahren. Zunächst verabscheute er den Ungehorsam durch die Buße, da er bitter und böse ist, und lernte dann aus eigener Wahrnehmung, wie entgegengesetzt er dem Guten und Süßen ist, so daß er fortan nicht einmal versucht, den Ungehorsam gegen Gott zu verkosten. Wenn aber jemand sich der Erkenntnis beider und dem doppelten Verständnis für die Erkenntnis entziehen wollte, so tötet er sich heimlich als Menschen.

Wie will der also Gott werden, der noch nicht einmal Mensch geworden ist? Wie will vollkommen werden, der eben erst gemacht ist, unsterblich, der in seiner sterblichen Natur dem Schöpfer nicht gehorcht? Er muß doch zuerst die Ordnung im Menschen bewahren, bevor er teilnehmen kann an der Herrlichkeit Gottes, Denn du machst Gott nicht, sondern Gott macht dich. Wenn du also ein Werk Gottes bist, so erwarte die Hand deines Künstlers, die alles zur rechten Zeit macht, zur rechten Zeit nämlich für dich, der du gemacht wirst. Bringe ihm aber ein weiches und williges Herz entgegen und bewahre die Gestalt, die dir der Künstler gegeben, und halte die Feuchtigkeit in dir fest, damit du nicht verhärtest und die Spur seiner Finger verlierest. Wenn du so das Gefüge behütest, so wirst du zur Vollkommenheit emporsteigen, denn durch die Kunst Gottes wird der Lehm in dir verborgen. Gemacht hat den Stoff in dir seine Hand, umgeben wird sie dich von innen und außen mit reinem Gold und Silber und wird so sehr dich schmücken, daß sogar "der König nach deiner Schönheit verlangt" (Ps 45,12). [Contra Haereses IV,39,1-2] ...

Daß sichtbar der Herr in sein Eigentum kommen und seine eigene Schöpfung, die von ihm getragen wird, ihn tragen werde, und daß er den Ungehorsam am Holze durch den Gehorsam am Holze rekapitulieren werde und jene Verführung aufheben, der so übel unterlag die Jungfrau Eva, die schon einem Manne bestimmt war - das ist trefflich von dem Engel der Jungfrau Maria, die auch schon in der Gewalt des Mannes war, verkündet worden. Wie nämlich jene durch die Rede eines Engels verführt wurde, sich Gott zu entziehen und seinem Worte sich zu verschließen, so empfing jene durch das Wort des Engels die Kunde, daß sie Gott tragen sollte, weil sie seinem Worte gehorsam war. War jene Gott ungehorsam, so folgte diese Gott willig, damit die Jungfrau Maria der Anwalt der Jungfrau Eva wurde. Und wie das Menschengeschlecht durch eine Jungfrau mit dem Tode behaftet wurde, so wird es auch gerettet durch eine Jungfrau. Gleichmäßig aufgewogen wurde der Ungehorsam der Jungfrau durch den Gehorsam der Jungfrau. Weiterhin wurde die Sünde des ersten Menschen durch die Bestrafung des Erstgeborenen ausgeglichen und die Klugheit der Schlange besiegt durch die Einfalt der Taube, und gelöst wurden die Bande, durch die wir mit dem Tode verbunden waren. [Contra Haereses V,19,1]

Augustinus über kindliche Bosheit:

"So ist nur die Schwäche der kindlichen Gliedmaßen unschuldig, nicht die Kindesseele. Mit eigenen Augen beobachtete ich ein zorniges Kind; noch konnte es nicht sprechen und doch sah es bleich mit feindselig-bitterem Blick auf seinen Milchbruder. Doch das weiß jeder. Mutter und Ammen sagen, daß sich das gebe und durch irgendwelche Mittel verliere. Ist es aber etwa auch Unschuld, an der Quelle, die reichlich, ja überreichlich eine Fülle von Milch hervorströmen läßt, den der Hilfe so bedürftigen Bruder nicht zu dulden, der doch nur durch dies eine Nahrungsmittel sein Leben fristen kann? Doch man erträgt es in blinder Zärtlichkeit, nicht als ob es geringfügig oder von gar keiner Bedeutung wäre, sondern weil es sich mit den Jahren verlieren wird. Fände man dasselbe freilich bei einem älteren Menschen, so würde man es nicht mit dem Gleichmute ertragen wie in diesem Falle." [Bekenntnisse, I,7]

Karl Barth [1926] zu Röm 5,12:

"'Durch einen Menschen' das alles! Wer ist dieser Eine? Adam? Ja, Adam als der Eine, der als Täter der unanschaulichen Sünde des Abfalls von Gott dem Tode Eingang in die Welt gab. Aber - dieser Eine ist Adam nicht in historischer Beziehungslosigkeit, sondern in seiner unhistorischen Beziehung zum Christus. Ohne die Anschauung der unanschaulichen Gerechtigkeit des im Gehorsam sterbenden Christus - wie kämen wir zu der Anschauung der unanschaulichen Sünde des im Ungehorsam lebenden Adam? Woher wüßten wir, was das heißt: aus Gott - fallen? Wie vermöchten wir, den Absturz Adams aus dem Leben zum Tode auch nur zu denken, wenn uns nicht die Erhöhung des Christus vom Tode zum Leben vor Augen stünde? Woher wüßten wir, was das heißt: leben - um zu sterben? Also nicht auf der Fläche der historisch-psychologischen Erscheinungen existiert Adam als dieser Eine, sondern als der erste Adam der das Vorbild des zweiten, kommenden ist, als der Schatten, der vom Lichte des zweiten lebt. Er existiert als das rückwärtige Moment der im Christus siegreich nach vorwärts gerichteten Bewegung, Drehung und Wendung des Menschen und seiner Welt vom Fall zur Gerechtigkeit, vom Tode zum Leben, vom Alten zum Neuen. Er existiert also nicht an sich, nicht als positive zweite Größe, nicht als eigener Pol in der Bewegung, sondern nur in seiner Aufhebung. Er ist bejaht, indem er im Christus verneint ist. Es versteht sich also von selbst, daß er mit dem auferstandenen, zum Leben Gottes eingesetzten Christus und als dessen Projektion keine ‚historische' Gestalt ist. Denn mag es sich mit dem ersten Menschen verhalten haben, wie es will: die Sünde, die Adam in die Welt gebracht hat, liegt vor dem Tode, gerade wie die Gerechtigkeit, die Christus in die Welt gebracht hat, hinter dem Tode liegt. Wir aber leben mit unserm historischen Erkennen unerbittlich eingeschlossen hinter dem Tode Adams und vor dem Tode Christi."

Gaston Fessard SJ:

"Die Adamssünde ist konstitutiv für unser geschichtliches Bewußtsein, und insofern die erste Bedingung seiner Objektivität. Wie alle anderen Kategorien der Vernunft, ist sie uns nie als solche, im reinen Zustand gegeben, ebenso wenig wie das z.B. der Raum , die Zeit, die Bewegung usw. für das Bewußtsein des Wissenschaftlers sind. Wer würde jedoch daraus zu schließen wagen, daß diese Kategorien nicht objektiv seien, oder es weniger seien als die dank ihrer bestimmten Maße der Sinnendinge? Ebenso ist es beim Historiker: die Wahrheit der Daten, die er zu erstellen und zu verstehen sucht, sei es in der menschlichen oder der natürlichen Ordnung, läßt sich bewerten und begründen nur dank einer umfassenden Sicht des Menschen als Sein-in-der-Welt und im besonderen der fundamentalen Beziehung seiner Freiheit zur Welt sowie zu Gott. Adam als konstitutive Kategorie der Geschichtlichkeit zu definieren heißt überdies keineswegs, seine Wirklichkeit zu schmälern um seine Objektivität sicherzustellen. Denn die Wirklichkeit dieser Kategorie umfaßt nicht weniger als die bei den wesentlichen Elementen aller menschlichen Geschichtlichkeit: den Vollzug einer Freiheit, die sich setzt, und die Sprache, die den Sinn einer solchen Setzung ausdrückt - wobei ihre Einheit nur innerhalb einer ebenso offenbarten wie offenbarenden Tradition bestehen kann. Der Philosoph oder Theologe auf der Suche nach dem Verständnis seines Glaubens spricht von ‚Kategorie', wo der Gläubige einfach 'geschichtliche Tatsache' sagt - wie übrigens auch die Dokumente des Lehramts, dem es mehr darum geht, den Inhalt des Glaubens zu bestimmen als seinen erkenntnistheoretischen Status zu verdeutlichen. Beide Redeweisen schließen sich nicht nur nicht aus, sie bekräftigen einander sogar." (Gaston Fessard SJ, La dialectique des exercices spirituels (II), Paris 1966, 94 f, Anm. 2).

Edward Brennan, um 1960 mein US-amerikanischer Mitstudent an der Gregoriana in Rom:

"It is true that we need help in order to meet our spiritual potential. But by the same token we need help to meet all our potentials. Who could fulfill her or his potential for music or art or mathematics or science, for anything at all, without help? St. Paul was deeply aware of our need for help in meeting our greatest potential of all, overcoming our egoic self. His epistle to the Romans, which describes our felt need for help, is insightful and can be read to one's spiritual advantage. It is not, however, an expression of our ultimate condition in reality. I think Paul had something practical in mind, and his letter can serve as useful spiritual instruction. Paul's feel for life obviously resonated with that of many others, particularly with Augustine, and then with Luther. It is not surprising that his experience speaks to others. The problem is that Paul's sense of his own life, which he projected as a description of all human experience, is so powerful that it came to be seen as an ultimate statement of the human condition.

My criticism here, then, is that Paul's sense of our predicament was raised in the Church to a metaphysical description of our ultimate condition, even to the point of eclipsing the gospel of Jesus. It is this error, 1 assert, that became a doctrinal misdiagnosis of our human condition and a tragic error in spiritual teaching.

It can happen that the misdiagnosis of a serious problem is a fatal flaw in addressing the problem. This, I feel, is precisely the case with the place of Original Sin within Christianity. A partial vision was substituted for a vision of the whole. Paul's insight into our need for personal spiritual help supplanted, within Christendom, the good-news-gospel of Jesus. The acceptance of this misdiagnosis of our basic human condition by the Church has had spiritually devastating consequences. Before detailing these consequences 1 would like to point out what I see to be the meaning and validity of the myth of Original Sin.

Like all myths, the myth of Adam and Eve's Fall does have significance. But the myth of the Fall presents only an angled vision. Joseph Campbell recognized the myth of the Fall as an expression of a common mythical theme of the Separation of heaven and earth. It is not, however, the ultimate truth; indeed it must finally be rejected if we are to be united with our Source: "Once you reject the idea of the Fall in the Garden, man is not cut off from his source." Nevertheless, we human beings do experience our life and our earth as separated or disconnected from heaven, its source. But both our impulse and our desired goal is unity.

What is to be noted about the myth of Original Sin is that the Separation it envisions is essentially a matter of our experience. Disconnection is the way we happen to experience life. This does not make disconnectedness the essential truth of our existence. That we experience life in some particular way does not demonstrate that that is the way life is. There can be a great gulf between how things really are and how we experience them. In other words there is often a great discrepancy between appearance and reality.

The distinction between appearance and reality is a well known theme. Illusion is a common experience. When a stick appears bent in water, for instance, this does not mean that the stick is bent. Or to take a more personal example, we can easily imagine an adopted child who feels unloved, cut off. The child may feel this way even though her or his new parents and family are loving and caring persons. In this case the problem is basically within the child. Being unloved is not this child's truth; it is only the way she experiences family life.

Original Sin cannot be considered a Great Myth. With its focus on Separation, it does not speak our full truth. It offers only a partial vision. In a word, the story of the Fall does not present us with a vision of the whole. Original Sin only highlights our experience of disconnection. It lights up our subjective feeling, the feeling that gives rise to our religious impulse. This is its simple truth: we do feel a radical disconnection; we do feel our earth, ourselves, as separated from heaven. For that reason the myth of Original Sin can help us ponder the yearning of our own heart, our felt urgency to make connection. Paul's description of our subjective experience has that much validity. It does not, however, envision for us our ultimate condition in relationship to the whole of existence." [Edward Brennan, The Radical Reform of Christianity - a focus on Catholicism (Notre Dame 1995), 98 f]

Das kommentierte ich: "Your contrasting Jesus and Paul is evident the moment one sees (with your eyes) this gulf. I never did so. Your explanation of Original Sin as a correct partial picture of our experience yet wrong metaphysics convinced me immediately. The Eudes citation [Saint John Eudes: "It is a subject of humiliation of all the mothers of the children of Adam to know that while they are with child, they carry within them an infant ... who is the enemy of God, the object of his hatred and malediction, and the shrine of the demon." (p. 96)] is horrible. Yes: What had such silly consequences must be severely judged.

On the other hand I suppose that no mature Christian ever saw the Fall as something total. From Eternity on it was related to Easter. Had I been a Christian mother with a baby in my womb I should have laughed this ass into his face and said: Oh no, in me there is a creature loved by God and called to be a member of Christ, even before Adam sinned! Let us hope a good parish priest or sage hag said so to the disturbed mother."

Elaine Pagels steuert wichtige Gesichtspunkte bei: "Der Augustinismus - wir haben es schon wiederholt feststellen können - bedeutete einen radikalen Bruch mit der vorausgegangenen Glaubenstradition, und viele Christen damaliger Zeit hielten ihn schlichtweg für ein Unheil: in ihren Augen stieß die "Erbsünde"-Doktrin - die These, daß Adams Sünde und Sündenschuld in ununterbrochener Folge auf alle nachgeborenen Geschlechter übertragen wird - die beiden Grundpfeiler des christlichen Glaubens um, nämlich den Glauben an die Vollkommenheit von Gottes Schöpfung und den Glauben an die menschliche Willensfreiheit. Mag auf Ungetauften auch der Makel der Sünde - der Sünde Adarns wie ihrer eigenen Sündhaftigkeit - lasten: die Taufe, so lautete der prä-augustinische Minimalkonsens unter Christen, wäscht den Gläubigen von aller Sünde rein, so daß, um es mit den Worten des ägyptischen Kirchenschriftstellers Didymos der Blinde zu sagen, "wir jetzt abermals so befunden werden, wie wir als Erstgeschaffene waren, nämlich sündenfrei und selbstherrlich". Pelagius und die Pelagianer konnten sich also in der Auseinandersetzung mit Augustinus darauf berufen, daß sie sich mit den ehrwürdigsten Kirchenvätern einig wußten, angefangen mit Justinus, Irenäus, Tertullian und Clemens von Alexandria im zweiten Jahrhundert bis hin zu Johannes Chrysostomos, ihrem Zeitgenossen an der Wende des vierten zum fünften Jahrhundert. )(268 f)...

Warum machte sich die katholische Christenheit Augustins paradoxale, ja mancher würde vielleicht sogar sagen: abstruse Ansichten zu eigen? Von seiten der Geschichtsschreibung wird die Erklärung angeboten, daß die augustinische Erbsündetheorie dazu diente, den Autoritätsanspruch der Kirche gegenüber den Gläubigen zu legitimieren; denn wenn die existentielle Situation des Menschen mit Krankheit gleichzusetzen ist, dann läßt sich die Rolle des Katholizismus definieren als die des Guten Doktors, der allein die geistliche Arznei und die Regeln der Lebensführung kennt und verordnet, die zur Heilung führen. Und ganz ohne Frage dienten die Theoreme des Augustinus ... in diesem Sinn den Interessen der damals entstehenden Zwitterbildungen "Staatskirche" und "christlicher Staat". (292) ...

Erklärungsmodelle, die das Konzept der "sozialen Kontrolle" in den Mittelpunkt stellen, gehen davon aus, daß die Idee der Schuld das Manipulationsinstrument einer religiösen Führungselite ist, von dieser eigens dazu erfunden, die leichtgläubige Masse des Fußvolks zu einer anders nicht durchzusetzenden ungeliebten Disziplin zu vergattern. Doch die menschliche Bereitschaft, die Schuld für das eigene Unglück bei sich selbst zu suchen, läßt sich ebensogut an modernen Skeptikern und Atheisten wie an den Hopi oder den Juden und Christen des Altertums beobachten: sie ist unabhängig vom religiösen Glauben, in einer "archaischeren" Seelenregion zu Hause als dieser. Die politischen Verhältnisse mögen sein, wie sie wollen, es wird immer Menschen in großer Zahl geben, die verzweifelt nach einer Erklärung ihres Leidens suchen. Und wäre Augustins Doktrin nicht einem solchen tiefsitzenden Bedürfnis entgegengekommen - einem Bedürfnis, das zu dem Schluß berechtigt, daß die Menschen sich in vielen Fällen lieber schuldig als total ohnmächtig fühlen -, dann hätte die Erbsündetheorie nach meinem Dafürhalten das fünfte Jahrhundert nicht überleben und erst recht nicht das Fundament abgeben können, auf dem seit 1600 Jahren das gesamte Gebäude der christlichen Dogmatik ruht. (295) ...

Augustins Botschaft an den Leidenden lautet in der Quintessenz: "Dich trifft keine persönliche Schuld an deinem Unglück. Die Schuld ist vielmehr uralten Datums, denn sie geht zu Lasten unser aller Voreltern Adam und Eva." Indem er dem Leidenden versichert, das Leiden als solches sei etwas Widernatürliches, der Tod ein Feind und beide zusammen fremde Invasoren im Kreis der Normalbedingungen menschlichen Daseins, verschafft Augustinus sich Gehör und Beifall in den tiefinnerlichsten Seelenregionen seines Hörers, dort, wo das unausrottbare allgemeinmenschliche Verlangen nach einem Leben frei von Schmerzen zu Hause ist. Doch im selben Zug versichert er uns auch, kein Leiden sei ohne Sinn noch konkreten Grund. (297) ... Augustins naturferne Totalsicht der Natur - eine Sicht, in der es möglich ist, daß der Wille eines einzelnen Menschen (im konkreten Fall: der Wille Adams) unmittelbar auf das Naturgeschehen durchschlägt, und in der das Leiden einzig in menschlicher Verfehlung seinen Grund hat - eine solch gegenstandsferne, gegenstandsfremde Sicht der Natur, meine ich, schmeichelt dem menschlich-allzumenschlichen Bedürfnis, sich, sei's auch um den Preis des Schuldgefühls, in der Phantasie als omnipotenten Herrn der Natur zu erleben." (300) [Elaine Pagels, Adam, Eva und die Schlange (Reinbek 1994)]

[Mein Kommentar dazu:] Wie wollen wir heutigen Christen uns zum Pessimismus des großen Kirchenlehrers stellen? Zeitgenossen der Greuel meiner Lebenszeit haben keinen Anlaß, die Welt minder finster zu sehen als er. Kain steht in der Zeitung, der Turm von Babel schreit mancherorts nach Gottes Zorn. Die Macht des Bösen kann man nicht überschätzen. Die Macht des Guten aber noch weniger! Auf dessen Übergewicht, auf die österliche Unbalance kommt es an. Deshalb darf jemand Augustinus widersprechen. Er hat gewußt: Ich bin nur eine Stimme im Konzert. Warum immer sie - was z.B. die Heilsmöglichkeit Ungetaufter angeht - die Gegenstimme kat-holischer Hoffnung so schlimm übergellte: Heute ist diese Einseitigkeit vorbei. Auch schon wieder die Versuchung zur gegenteiligen Kuscheltheologie? Wer sich zu wohl fühlt, nehme (auch drinnen) die massa damnata wahr, wer zu schlecht, höre Mozart.

Bischof Joachim Wanke von Erfurt schrieb zu Weihnachten 2001 im CiG: "Das Kind soll ein Immanuel, ein "Gott mit uns" sein. Der Name deutet an, welcher Horizont hier aufgetan werden soll. Es geht um nichts weniger als um eine neue Genesis-Erzählung. Hier wird einer geboren, der nicht nur zur Gottebenbildlichkeit bestimmt ist, sondern der sie in seiner Person ganz und real ist. Er wird der Prototyp einer neuen Schöpfung sein, die den Ungehorsam und die Sünde der "vielen", das heißt aller Menschen, umfangen wird in einer neuen, noch radikaleren Zuwendung Gottes zu seinen Geschöpfen, einer Erlösung, welche die Schuldgeschichte der Menschheit nicht übersieht, sie aber nicht zum letzten Wort im Gespräch zwischen Gott und der Menschheit werden läßt."


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samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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