Jürgen Kuhlmann

Die Wehrkreuze von Avignon

Vorbemerkung: Der kleine Essay wurde veröffentlicht in “Christ in der Gegenwart” vom 30. Juli 1989 (Nr. 31). Die roten Stellen hat die Redaktion gestrichen, die blauen hinzugefügt. Den Schluß hat sie bestimmt verbessert; die übrigen Beispiele mögen dem Leser einen kleinen Blick hinter die Kulissen erlauben. Nicht immer wird die Substanz so treu bewahrt. (Später hat  Richard Schmitt mich aufgeklärt: alle Schießscharten seien kreuzförmig, einfach damit man überallhin zielen kann. Mag sein.)

Gefällt dir dieses Haus? Die fünfjährige Iris antwortet: Das ist kein Haus. Was denn? Eine Burg, sagt sie. Wir stehen vor dem Massiv des Papstpalastes in Avignon. Wuchtig springt die gewaltige Fassade uns an; daß jene Macht eine geistliche war, zeigt sich nicht. Oder doch ? Plötzlich staune ich: die Schießscharten haben Kreuzesform.

Das ist ein Schock. Ich sehe, wie der päpstliche Pfeilschütze auf eine Brust zielt, und aus dem Kreuz heraus fährt in sie der Todesblitz. Militärischen Zweck und christlichen Sinn derart ineins zu riihren: hieß das nicht Gott lästern ? Meurtrière heißt in der Landessprache sowohl Schießscharte als auch Mörderin. Mein Zeitgeist ist empört.

Später stelle ich mir den Papst vor, wie er den Zinnen-Entwurf prüft. Gut, sagt er, so wollen wir es machen. Durch das Kreuz hat Christus uns aus der Gewalt des bösen Feindes erlöst, durch diese Kreuze hier soll auch die Burg seines Stellvertreters gegen allen Ansturm böser Feinde verteidigt werden. Schießscharten sind keine Angriffswaffen; nur wer selbst angreift, hat sie zu fürchten; Notwehr ist in Gottes Sinn. Daß Jesus seine Jünger wie Schafe unter die Wölfe sandte, ist lange her. Inzwischen ist seine Kirche - Gott sei Dank - die Ordnungsmacht des Erdkreises  geworden und bedarf um seinetwillen des Schutzes. Wirklich, lieber Baumeister, deine Idee der kreuzförmigen Schießscharten ist excellent.

Gemessen verneigt sich der Baumeister, doch ohne zu lächeln. Wenn eure Heiligkeit wüßte, denkt er, was dieses Zeichen mir selbst bedeutet! Ihr Kleriker habt aus der friedlichen, menschenliebenden Jesusgemeinde eine zähnefletschende Bestie gemacht. Jenes Kreuz, an das unser Herr sich mit wehrlos ausgestreckten Händen annageln ließ, ist ihr habt es zum Symbol einer blutrünstigen Unterdrückungsmaschinerie vergiftet geworden, die sendet im Namen des Kreuzes, aber eurer auch sehr weltlichenr Politik zuliebe die ungerechtesten Bannstrahlen in alle Welt aussendet, denkt der kritisch-sensible Künstler. Ihr Theologen und laßt dieses das Kreuz sogar vorantragen, wo immer ein armer, gutmeinender Ketzer zum Scheiterhaufen gekarrt wird. La croix meurtrière: so ist es und so will ich sei es auch im Stein allen gezeigt zeigen, die Augen haben, zu sehen. Solch äußerste Verkehrung des Glaubens, sie wird von meiner künstlerischen Idee an den Pranger der Jahrhunderte gestellt ...

Verstummt ist mein Zeitgeist. Sich in seinem Namen zum Richter über die Schöpfer solcher Werke aufzuspielen, die seiner Wehleidigkeit mißfallen, das ist ein törichtes Spiel. Ja, ihr Erbauer dieser Zinnen, ihr hattet recht: es ist eine und dieselbe Welt, die ohne Gewalt nicht sein kann und die zuinnerst zumindest vom Kreuz bestimmt wird, an dem Gottes Sohn uns gewaltlos erlöst hat. Diese doppelte Bestimmtheit des Wirklichen drückt euer schlichtes Symbol packend aus.

Wenn aber beide recht haben, der handelnde Papst wie der ironische Künstler: wie komme ich, wie kommen wir heute mit solcher Spannung zurecht? Ist sie nicht das Ende allen klaren Denkens und Fühlens? - Nein. Wir müssen nur endlich mit der kindischen Annahme Schluß machen, Wahrheit sei so etwas wie ein Klotz, den man vor sich hinstellen und in Ruhe betrachten kann. "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" (Joh 14,6), sagt Christus: zwischen Weg und Leben nennt er die Wahrheit, an beiden hat sie Anteil. Nur wer selbst lebendig unterwegs ist, gehört zu ihr.

Sehen wir deshalb jene Spannung wie eine schwingende Saite an, befestigt an den beiden Polen Papst und Künstler. Tatsächlich müssen wir entlang dieser Saite hin und her wandern; was den äußeren Lebensausdruck betrifft, halte jeder sich - seinem Gewissen folgend - jeweils an oder irgendwo zwischen den Extremen von Aktion und Kritik auf. In der Wahrheit ist er dabei jedoch nur, wenn er geistlich mit der ganzen Saite mitschwingt; denn es ist (in Teilhabe am dreieinig in sich gespannten Gott) allein die lebendige Spannung unser Heil. Jede prinzipielle Einseitigkeit ist vom Übel.

Bedeuten die Kreuze in der Festungsmauer mir nur so etwas wie Edelsteine in der Krone einer makellosen Kirche, dann bin ich der Häresie eines unkritischen Katholizismus erlegen; dagegen steht der harte Satz Jesu (Mt 16,23), wo Petrus Satan und Stolperstein genannt wird (Wortsinn von skandalon). Versteht einer jene Kreuze dagegen bloß als zynische Ironie, gesteht er den Bewohnern des Papstpalastes kein Recht auf ihr christliches Ja zur aktiven Verteidigung zu, dann verweigert er dem Papst das, was jeder Mensch darf, bricht ihn (gar aus unbewußter Papstverhimmelung?) aus der Menschengemeinschaft heraus und leugnet erst recht das andere Wort Jesu (Mt 16,18), wo Petrus zum Grundstein der Kirche erklärt wird.

Stolperstein und Grundstein ist das Papsttum; leicht macht es die Offenbarung dem Katholiken nicht. Kindisch bloß folgsame Papstgetreue und jugendlich bloß störrische Papstgegner sind beide häretisch; nur wenn wir uns mündig auf das zwischen beiden Polen zitternde Glaubensseil wagen, dies wenigstens immer wieder versuchen, nennen wir uns mit Recht katholisch Christen, die das Ganze umformen und aus dem Christusglauben leben wollen.

September 1987

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samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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