Jürgen Kuhlmann

Das Kruzifix-Urteil

Das Zeichen der Liebe widersteht Zwang wie Verdrängung


Anlaß: Passionszeit; Gespräch über das Kreuz-Urteil
Botschaft: Beide Parteien berufen sich auf wahre Prinzi-
pien; diese Einsicht macht Konflikte friedlich lösbar.
Themen: Der Streit verdeutlicht das Geheimnis - a) Fol-
terszenen sind nichts für Kinder - b) der Glaube braucht
Symbole, auch öffentliche - Wahrheit in sich gespannt -
a) Sinn des Zeichens überwiegt das Sein - b) Botschaft des
Kreuzes gilt allen - entscheidend: das liebende Gespräch
Ziel: Der Hörer erkennt die eigene Einstellung als einen Pol
der Heilsspannung und wird so auch der Gegenseite gerecht.


Noch einige Wochen, und wieder erinnern sich auf der ganzen Erde die Christen an Jesu Kreuzestod. Am Karfreitag selbst wird uns nur Schmerz und Glaubenszuversicht erfüllen. Heute aber wollen wir miteinander über die Frage nachdenken, die seit dem Urteil des obersten deutschen Gerichts immer noch nicht zur Ruhe gekommen ist: Gehört das Bild des Gekreuzigten in die Klaßzimmer unserer Schulen oder nicht? Beide Antworten werden von Christen gegeben und gut begründet; Aufgabe des Predigers kann da nicht sein, seine persönliche Ansicht als die richtigere hinzustellen. Mein Ziel ist ein anderes: daß wir uns gemeinsam über die tiefen Wahrheiten klar werden, um die es bei diesem Streit geht. Wenn jeder einsieht, warum und wie auch die Gegenseite grundsätzlich recht hat: dann mag der praktische Meinungskampf ohne Haß weitergehen. Denn so hat Gott seine Schöpfung gewollt, als bunten Reichtum voller Gegensätze, ja Widersprüche. Wie sollte sonst unsere beschränkte Winzigkeit Gottes unendliche Fülle abspiegeln? Sag mal, wurde eine gefragt, wie gehst du eigentlich, mit dem linken oder dem rechten Bein? Ihre Antwort war ein helles Gelächter. Auch in der Kreuzfrage können Christen sich grundsätzlich einig sein und dann praktisch doch der eine dieses wollen und der andere das Gegenteil.

Hören wir uns die beiden Meinungen zunächst einmal an. Jene bayerischen Eltern, die das Urteil erstritten haben, protestierten dagegen, daß ihre Kinder im Klaßzimmer dauernd das schreckliche Bild einer mörderischen Folterung vor Augen haben müssen. Denn das war die Kreuzigung: die grausamste Art, wie im alten Rom die Staatsmacht ihre Feinde zu Tode quälte. Wer wurde gekreuzigt? Aufrührerische Sklaven, Terroristen, Straßenräuber. Das Kreuz war eine unvorstellbar gräßliche Todesart: Stundenlang, manchmal Tage lang hingen die Unglücklichen hilflos ausgestreckt da, konnten sich nicht bewegen, nicht gegen Mücken und Bremsen wehren. Und das andauernd in der furchtbaren Gewißheit: Es gibt keine Rettung, die anderen sind stärker, mit mir ist es aus. Kein Glied kann ich rühren, Arme und Beine sind grausam festgenagelt, die Wunden brennen, die überdehnten Gelenke tun entsetzlich weh, fast kann ich nicht mehr atmen. Und nie mehr, solange ich noch denken kann, hören diese Schmerzen auf. - Und jetzt fragen Sie sich: Möchten Sie im Kinderzimmer einen Galgen stehen haben, an dem ein Erhängter baumelt? Oder das Modell einer Guillotine mit dem Korb dabei, in den gerade ein Kopf rollt? Soll Ihr Kind beim Lernen und Spielen ununterbrochen daran erinnert werden, daß die Erde ein Ort der Bosheit und Qual ist?

Ja, verstehen kann man schon, daß ein Vater, eine Mutter das nicht will. Noch besser begreifen wir es, wenn wir hören, wie ein Außenstehender das Kreuz sieht. Ein japanischer Buddhist stellt fest: »Christus hängt hilflos, voller Traurigkeit, an dem senkrecht aufragenden Kreuz. Für das östliche Empfinden ist der Anblick fast unerträglich.«. Da ist es begreiflich, daß jemand sich in solche Ablehnung des Kreuzes hineinsteigert, bis er fest entschlossen ist: Ich will meinen Kindern das nicht zumuten, damit ist es mir Ernst. Immerhin leben wir in einem demokratischen Staat, wo Religionsfreiheit einer der obersten Grundsätze ist. Wenn ich meinen Kindern das Kreuzbild ersparen will, dann soll der Staat das bitte respektieren. Und wenn die Schulbehörde - wie es in jenem bayerischen Ort anscheinend geschah - sich rücksichtslos über meine Einwände hinwegsetzt, weil das Ganze es angeblich verlangt, dann gehe auch ich aufs Ganze und wende mich ans Gericht, bis hin zum höchsten. Wir wissen, wie das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, mit dem Stimmenverhältnis fünf gegen drei: Die Vorschrift, ohne Rücksicht auf den Glauben der Eltern in jedem Klaßzimmer ein Kreuz anzubringen, sie entspricht nicht dem Grundgesetz.

So sieht es, aus juristischen Gründen, die Mehrheit der Richter. Bemerkenswert ist nun, daß zahlreiche überzeugte Christen derselben Meinung sind, und zwar aus Gründen des Glaubens. Jesus ist auf Anstiften seiner religiösen Obrigkeit gekreuzigt worden, Gott aber hat sich zu ihm, dem geschundenen Einzelnen, bekannt: das bedeutet das Kreuz, deshalb taugt es nicht als Vorschrift für eine Schulordnung. Wer Jesu Kreuz zum Herrschaftssymbol macht, verfälscht und beleidigt es. Früher wurde es sogar vorausgetragen, wenn ein ertappter Ketzer oder eine angebliche Hexe zum Scheiterhaufen gezerrt wurde - kann man sich einen grausigeren Mißbrauch des menschenfreundlichen Gottessohnes denken? Natürlich nicht so schlimm, aber doch in derselben Linie scheint es zu sein, wenn der Gekreuzigte die Sechser und Verweise geplagter Schüler absegnet. Dafür ist das Kreuz zu heilig.

Zudem ist mancherorts schon jedes zehnte Schulkind ein Moslem. Diese Kinder dürfen wir nicht zwingen, ihre Schuljahre unter dem Zentralsymbol eines Glaubens zu verbringen, der nicht der ihre ist, der im Gegenteil zur Zeit der "Kreuz-Züge" böses Leid über ihre Ahnen im Glauben gebracht hat. - Und wie soll die deutsche Einigung sich innerlich vollenden, wenn in Bayern überall Kreuze hängen müssen, während in Ostdeutschland nicht einmal ein Fünftel der Menschen sich als Christen verstehen? Nein - so meinen viele Christen: Eben um der Würde des Kreuzes willen dürfen wir es nicht zu einer Verwaltungssache oder einem Stück Folklore erniedrigen. Das Kreuz gleicht nicht dem Maibaum, gehört allein in den Innenraum des Glaubens, nicht in die profane Öffentlichkeit. So denkt die eine Seite.

Wie widerspricht die andere, z.B. jene Zehntausende von Bayern, die sich im September 1995 in München zu einer Protestdemonstration trafen? Auch ihnen bedeutet das Kreuz viel mehr, als das Auge sieht. Nicht irgendein Mensch wird da gemartert, sondern Jesus Christus: jener Mensch, der Gott selbst in Person ist. Und dessen Lebendigkeit darum mitten in der bittersten Niederlage dennoch wunderbar siegt. Denn indem Christus seinen unverdienten Tod erleidet, zerbricht er die Übermacht des Todes, gewinnt für sich und alle die Seinen das unzerstörbare Leben in Gottes Reich. Seit über anderthalb Jahrtausenden hat dieser Christenglaube im Lande Bayern die Herzen vieler Menschen getröstet und bestärkt, in der Römerstadt Augsburg hat ihn schon um das Jahr 300 die heilige Afra mit ihrem Blut bezeugt. Diese tiefe Wurzel der Landeskultur wird vom Kreuz bedeutet; überall in der Öffentlichkeit ist es zu sehen, »auf Plätzen und Straßen, auf Fluren, Bergen und Friedhöfen« (so der Münchner Kardinal am 23. September). Und der evangelische Landesbischof sagte bei dieser Versammlung: »Das Kreuz ist Zeichen unserer abendländischen Kultur. Das kann auch gar nicht anders sein. Denn Jesus ist Mensch geworden. Er will unter den Menschen wohnen. Das zeigt sich auch in der Kultur und den Traditionen eines Landes.«

Auch diese tiefen geistigen Werte soll die Schule den Kindern nahebringen, nicht bloß Rechtschreibung und Prozentrechnen. Deshalb, so meint in Bayern die Mehrheit, gehört das Kreuzbild Gottes auch in die Öffentlichkeit der Schule. Der Glaube ist zwar persönliche Entscheidung, aber keineswegs Privatsache. Gottes Wort wendet sich an jeden, aber auch an alle! Wie jemand auf es antwortet, ist seine Sache. Da gilt Religionsfreiheit. Worauf er aber antwortet, das ist dem einzelnen vorgegeben, das kann er nicht allein bestimmen. Das Kreuz, so erklärte der Kardinal, ist auch für Nichtchristen ein wesentliches Symbol für Heimat und Geborgenheit. Was in Bayern die Nazis nicht geschafft haben, den Schulkindern das Kreuz wegzunehmen, das darf der Rechtsstaat erst recht nicht versuchen. Das Kreuz bleibt.

Sie sehen: Auf beiden Seiten dieser Front finden sich nicht bloß blindwütige Rechthaber, sondern besorgte Menschen mit guten Gründen. »Selig die Friedenstifter,« verspricht unser Herr; deshalb will ich versuchen, jeder Partei die Wahrheit der anderen nahezubringen. Dem Verteidiger des Kreuzes sage ich: Ja, das Zeichen unserer Erlösung gehört auch in die Öffentlichkeit. Dennoch sollte ein vernünftiger Beamter (erst recht, wenn er sich Christ nennt) im Einzelfall nicht stur auf Recht und Vorschrift bestehen. Denk an die beiden Mütter im Alten Testament. Als König Salomon befahl, das umstrittene Kind zu teilen, da gab die wahre Mutter nach; denn sie liebte ihr Kind mehr als ihr Recht. Ähnlich soll der Christ, wo einem Mitmenschen das Kreuz unerträglich ist, ihn nicht mit dem Zeichen der Liebe verwunden. Wer ein Zeichen gegen dessen Sinn mit Gewalt durchsetzt, verletzt es schlimmer als der andere, der es ablehnt. Stell dir eine Frau vor, die ihrem Mann den Ehering ins Fleisch einbrennt! Ihr gleicht, wer einen Widerstrebenden unter das Kreuz zwingt, statt geduldig nach einem vernünftigen Kompromiß zu suchen. Weil der Prozeß um das Kreuz es aus einem Ziermöbel wieder in ein aufrüttelndes Glaubenszeichen zurückverwandelt hat, deshalb dürfen die Christen den protestierenden Eltern und den gestrengen Richtern im Rückblick sogar dankbar sein.

Einem Gegner des Kreuzes an der Schulwand gebe ich zu bedenken: Ja, das Kreuz bedeutet Gottes liebende Ohnmacht, darf nie Waffe im Machtkampf sein. Die Kreuzzüge waren ein übler Mißbrauch. Den hat die Kirche bereut und überwunden. Das Kreuz in der Schule ist jedoch ein offenes Zeichen und darum allen zumutbar. Nicht deshalb freilich, weil es nun einmal zu unserer Tradition gehört, ähnlich wie der Maibaum oder das Starkbier im Frühjahr. Gegen solche Verharmlosung wenden sich die Kritiker mit Recht. Nein: »Auch den Nichtgläubigen soll das Kreuz auf das Wort vom Kreuz verweisen« (Eberhard Jüngel), d.h. auf die volle christliche Botschaft von Tod und Auferstehung des Gottessohnes. Warum ist es dennoch ein offenes Zeichen? Weil seine Botschaft nicht nur von Kirchenfrommen recht verstanden werden kann. Die Kirche ist nötig, um das Wort vom Kreuz weiterzusagen; ähnlich wie es eine Rundfunkanstalt geben muß, damit man Radio hören kann. Es soll aber nicht jeder Hörer auch Mitarbeiter des Senders sein.

Jesus gehört allen Menschen, nicht den Christen allein! An seine Worte und sein Geschick erinnert das Kreuz - wer dürfte diese Botschaft verdrängen? »Ist das Leid bei den Kindern der Satten ein Tabu?« (Hans Maier) Sterben wird jeder Mensch; daß einer von uns es geschafft hat, durch seinen Tod für soviele Generationen wichtig zu werden - ist das nicht ein Ansporn zu wilder Hoffnung? Keineswegs muß Christus den Sechser und den Verweis bekräftigen. Wer in schlimmer Zeit das Kreuz erblickt, sieht eher den, der mit ihm leidet, erlebt, daß da ein guter Mensch mit ihm solidarisch ist. In einem spanischen Roman (Alarcón, Der Skandal) ist ein ungläubiger Playboy vom Schicksal hart getroffen worden, da sieht er ein Kruzifix und ruft aus: »Du Freund des Menschen, Bruder der Unglücklichen, du hast am Kreuz den Tod für fremde Schuld erlitten. Ich werde für meine eigenen leiden ... o Christus, ich habe dich immer geliebt!«

Die weltliche Frage nach dem Kreuz muß also zweideutig bleiben. Welcher Wahrheitspol jeweils ausgedrückt wird, diese Entscheidung steht allein der friedlichen Vereinbarung der Betroffenen zu. Wie auch immer sie ausfällt: allein, daß man miteinander spricht, ist mehr im Sinne Jesu, als wenn das Zeichen seines Martertodes gewaltsam angebracht oder abgehängt wird. Egal was sich schließlich ergibt: im Wichtigsten sind wir eins. Der Sinn des Leidens ist die Liebe. Bürden wir darum, soweit es an uns liegt, niemandem ein Kreuz auf! Und das eigene Kreuz laßt uns nicht verdrängen. Besser mit Christus zusammen leiden als wie ein Tier allein in einer Ecke. Wenn wir mit ihm leiden, dann denkt er an uns auch in seiner Herrlichkeit: »Wahrlich ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.«


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