Jürgen Kuhlmann

Gott täuscht uns nicht,
darum verstehen wir die Welt

Zur Geburt von Descartes 1596

Kernaussage: Im Vertrauen auf Gottes Verläßlichkeit entdeckte er, daß alles Irdische aus berechenbaren Faktoren besteht; deren Zusammenwirken ist jedoch nicht zu berechnen.
Kurzinhalt: Berufungstraum - radikaler Zweifel - ich denke also bin ich - erlebter Gottesbeweis - legt den Grund zur Naturwissenschaft - deren zwei Gesichter
Ziel: Der Hörer findet ein vernünftiges Verhältnis zu den Leistungen und Grenzen der modernen Wissenschaft.

Vor vierhundert Jahren, am 31. März 1596, wurde René Descartes geboren. Daß wegen dieser runden Zahl auf Erden derzeit viele Menschen seiner gedenken, solche Hochschätzung der Zahl ist auch ein Ergebnis seines Wirkens. Denn für sie hat er gearbeitet, seit ihm ein Offenbarungstraum den Weg zur modernen Wissenschaft gewiesen hat. Zu Beginn des dreißigjährigen Krieges lebt er als junger Offizier der Truppen des Herzogs Max von Bayern im Winterquartier bei Neuburg an der Donau in einer überheizten Stube; dort hat er in der Nacht vom zehnten auf den elften November 1619 drei aufwühlende Träume. In einem hört er einen donnerartigen Lärm, den er sich beim Erwachen als das Zeichen des Geistes der Wahrheit deutet, der auf ihn herabstieg, um von ihm Besitz zu ergreifen.

Des Descartes weltverändernde Einsicht, daß nämlich der Sieg über die Natur durch Maß und Zahl errungen wird: sie hat er selbst also als prophetische Berufung empfunden. Dadurch fällt auf den riesigen Wissenschaftsbetrieb der Neuzeit ein ungewohntes Licht. Bestimmt hat der Geist der Wahrheit jenen Sieg, die Entschleierung der Geheimnisse der Natur, als Ziel eines seligen Ringkampfes der Liebe verstanden, voll zarter Rücksicht - daß die Menschheit später Maß und Zahl so mißbrauchen, den Kampf gegen die Natur so grausam führen würde, wie gegen eine rechtlose feindliche Macht, bis hin zu Atombomben und vergifteten Meeren, so daß die Natur allen Grund hat, sich nun ebenfalls gegen uns Menschen zu wehren, an diesem Mißverständnis trägt nicht jener göttliche Auftrag die Schuld, durch den Descartes zum "Vater der modernen Philosophie" wurde. Die war damals "dran", weil der Schöpfer seine Schöpfung einen Grad erwachsener wollte als sie bislang gewesen war. Unsere Sache heute ist es, die schlimme Einseitigkeit zu korrigieren, in welche die Menschheit sich auf dem damals beschrittenen Weg verirrt hat. Damit wir aber nicht in den umgekehrten Fehler fallen und auch das Wertvolle der Moderne schlecht machen, deshalb tun wir gut daran, uns aus Anlaß des runden Geburtstages von René Descartes zu fragen, worum es ihm ging.

Im "Discours de la Méthode" berichtet er 1637 vom Ende seiner Schulzeit: "Ich fand mich verstrickt in soviel Zweifel und Irrtümer, daß es mir schien, als hätte ich aus dem Bemühen, mich zu unterrichten, keinen anderen Nutzen gezogen, als mehr und mehr meine Unwissenheit zu entdecken. Gleichwohl befand ich mich auf einer der berühmtesten Schulen Europas ... So nahm ich mir denn die Freiheit, von meinem Fall auf alle anderen zu schließen und anzunehmen, daß es eine Lehre von der Art, wie man sie mich früher hatte hoffen lassen, auf der Welt nicht gebe" (1,6).

Wie war es zu diesem Zweifel gekommen? Nun, wenn den Menschen einer ganzen Zivilisation jahrhundertelang eingeredet wird, sie hätten absolut recht und im Grunde sei alles klar, dann besteht die Gefahr, daß sie absolut rechthaberisch werden. Brechen dann innerhalb der gemeinsamen Überzeugung Gegensätze auf, deren Vereinbarkeit nicht absehbar ist, so kehrt sich leicht die eine absolute Rechthaberei wider die andere, auf seine Unfehlbarkeit pocht der Papst, "hier stehe ich" trotzt Martin Luther; und wo Reden noch Schriften nichts erreichen, greift man schließlich zu Hellebarden und Schwedentrunk.

Als Descartes 1637 jene Sätze veröffentlichte, wurde Europa bald schon zwanzig Jahre lang vom scheußlichsten Religionskrieg verheert. Konnte eine Theorie stimmen, die zu solchen Konsequenzen führte? Wir verstehen die Verzweiflung an jedem absoluten Standpunkt, die damals in der Luft gelegen haben muß. Der Philosoph sprach nicht bloß für sich selbst mit seinem radikalen Zweifel. Wie sollte er zu neuer Gewißheit finden? Weder bei den Sinnesorganen noch im logischen Verstand, beide täuschen sich zuweilen.

"Endlich erwog ich, daß uns genau die gleichen Vorstellungen, die wir im Wachen haben, auch im Schlafe kommen können, ohne daß in diesem Falle eine davon wahr wäre, und entschloß mich daher zu der Fiktion, daß nichts, was mir jeweils in den Kopf gekommen, wahrer wäre als die Trugbilder meiner Träume. Alsbald aber fiel mir auf, daß, während ich auf diese Weise zu denken vesuchte, alles sei falsch, doch notwendig ich, der es dachte, etwas sei. Und indem ich erkannte, daß diese Wahrheit: ich denke, also bin ich, so fest und sicher ist, daß die ausgefallensten Unterstellungen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so entschied ich, daß ich sie ohne Bedenken als ersten Grundsatz der Philosophie, die ich suchte, ansetzen könne" (4,1).

Ich denke, also bin ich; cogito ergo sum. Wenn Descartes über Jahrhunderte hin der Öffentlichkeit bekannt geblieben ist, dann durch diesen Satz. Daß er stimmt, erfährt jeder, der diese Einsicht nicht bloß äußerlich hört, sondern selbst nach-denkt. Kein Zweifel: Sogar während ich mich als total desorientiert erlebe, weiß ich zugleich gerade deshalb: es gibt mich. Mein Bewußtsein ist wirklich. Wie kam unser Denker aber von solcher Gewißheit weiter, wie hat er den Siegeszug der Naturwissenschaft ermöglicht, so daß wir auch seiner Leistung unsere Autos und Telefone verdanken? Auf erstaunliche Weise. Er beschreibt sie selbst:

"Als ich mir nun weiter überlegte, daß ich zweifelte, daß also mein Wesen nicht ganz vollkommen wäre, - denn ich sah klar, daß Erkennen eine größere Vollkommenheit ist als Zweifeln - erwog ich zu untersuchen, woher mir der Gedanke an etwas Vollkommeneres als ich gekommen sei, und erkannte deutlich, daß er von einem Wesen herrühren müsse, das in Wirklichkeit vollkommener ist ... von Gott (4,4)." Ja: Ich weiß, daß es mich gibt, daß ich aber ein recht armes Bewußtsein bin. Sogar während ich "alles klar" sage, ist mir doch am klarsten, daß mir das meiste nicht klar ist. Kann es sein, daß meine winzige Klarheit das Klarste überhaupt ist? Nein! begreife ich plötzlich. Wenn ich in mir, diesem geringen Bewußtsein, doch wirklich die Idee einer vollkommenen Klarheit vorfinde: wie kann sie in mich kommen? Nur weil sie in sich wirklich ist und sich von mir innerlich ahnen läßt.

Manche Denker, vor Descartes und nach ihm, haben diesen "ontologischen Gottesbeweis" für ungültig erklärt, andere stimmen ihm zu. "Die Gelehrten streiten, wie es ihr Geschäft ist", weiß Chesterton. In diese Frage steigen wir hier nicht ein. Wichtig scheint mir aber: Die moderne Wissenschaft, die zu unserer technischen Welt geführt hat, verdankt sich tatsächlich auch jenem Augenblick, da der zweifelnde junge Franzose mit seiner Vernunft erfaßte, daß Gott nicht bloß eine Idee, sondern wirklich ist. Denn damit war, so wußte er, der Felsengrund für das Gebäude aller übrigen Erkenntnisse gefunden, weil Gott uns unmöglich täuschen kann:

"Die ganze Kraft des Beweisgrundes liegt darin, daß ich anerkenne, daß ich selbst mit dieser meiner Natur - insofern ich nämlich die Idee Gottes in mir habe - unmöglich existieren könnte, wenn nicht Gott auch wirklich existierte, jener Gott, sage ich, dessen Idee in mir ist, d.h. der alle die Vollkommenheiten besitzt, die ich zwar nicht begreifen, aber doch in gewisser Weise in Gedanken erreichen kann, und der durchaus keinen Mängeln unterliegt. Hieraus erhellt zur Genüge, daß er kein Betrüger sein kann, denn es ist mir doch durch die natürliche Einsicht offenbar, daß aller Trug, alle Täuschung durch irgendeinen Mangel bedingt ist" (Med. III,38).

Weil Gott uns nicht täuscht, deshalb passen unsere Gedanken und die Wirklichkeit zusammen. Das bedeutet: Die Welt läßt sich mit Hilfe der Mathematik verstehen. Viele erinnern sich, mit Lust oder Schauder, der Schulstunden, die sie mit x-Achse und y-Achse verbrachten. Deren Erfinder oder Entdecker war Descartes, wir verstehen, warum: Das Allerverständlichste für einen denkenden Menschen ist die Welt der Zahlen. Zwei mal zwei ist vier, das gilt in jeder wirklichen und möglichen Welt. Auf Zahlenverhältnisse nun lassen sich, erstens, sämtliche geometrischen Figuren zurückführen, so fand Descartes zur analytischen Geometrie. Nimmt man zur Gestalt die Bewegung hinzu, so läßt sich, zweitens, auch das physikalisch Wirkliche durch Zahlen verstehen und wir sind mitten in der messsenden, rechnenden Wissenschaft: Klänge unterscheiden sich durch Obertöne, Töne durch Schallfrequenzen, Farben durch Licht-Wellenlängen.

Weiter schreitet die Kraft des Denkens, drittens, zum Verständnis sogar der Lebewesen. Damals war gerade (von dem Engländer Harvey) der Blutkreislauf entdeckt worden; das bestärkte Descartes in seiner Meinung, daß die Leiber der Tiere und Menschen nichts als Maschinen sind, die sich prinzipiell ebenfalls mathematisch durchschauen lassen. Bei Einzelfragen verrannte er sich in Irrtümer (für die er von späteren Forschern heftig gescholten wurde), im Grunde war ihm aber klar, daß er den Zugang zu einem Reich eröffnet hatte, dessen ferne Grenzen er nie sehen würde - auch wir, trotz CDs, Astronautik und Nuklearmedizin, kennen sie noch nicht! In einem Brief (an Picot, A.T. IX/2,20) schreibt Descartes: "Ich weiß auch sehr gut, daß mehrere Jahrhunderte werden verfließen müssen, bevor man aus diesen Prinzipien die Wahrheiten so abgeleitet hat, wie sie abgeleitet werden können."

Wer Zahnweh hat, möchte mit Ludwig XIV. nicht tauschen. Daran kann man ermessen, was die Menschheit dem Vater der Moderne verdankt. Freilich hat auch diese Medaille zwei Seiten. Daß er auf den zuvor verborgenen Aspekt der Berechenbarkeit alles Irdischen aufmerksam gemacht hat, bleibt sein Verdienst; daß er in allzu starrer Konzentration auf seine Entdeckung die Lebewesen zu bloßen Mechanismen ohne Seele erklärt hat, war ein fataler Irrtum. Aus ihm ergab sich mit logischem Recht und tatsächlichem Unrecht die Rücksichtslosigkeit des modernen Abendländers gegen die Natur. Aber das Lebendige ist nicht ein berechenbarer Apparat zu unserer Verfügung, es hat nur einen solchen. Daß unser Verstand ihn mathematisch verstehen und technisch nutzen kann, darin hat Descartes gegen alle früheren Jahrtausende der Menschheit unverlierbar recht; ob und wie wir ihn nutzen sollen, diese Frage zu beantworten brauchen wir andere Prinzipien als den cartesischen Mechanizismus. Der Wald etwa ist nicht bloß eine Holzfabrik, auch mehr als eine Lunge. Dieses Mehr zu würdigen, müssen wir vom Verstand absehen und unserem lebendigen Gefühl trauen. Mit Descartes zu sprechen: Gott ist kein Betrüger. Von ihm stammt nicht nur meine Klarheit bei einem mathematischen Beweis oder meine Befriedigung bei einer technischen Lösung, sondern auch mein Glück im Sommerwald. Dessen Wirkung auf mich ist nicht mathematisch zu verstehen, das sieht in wegweisenden Vertretern allmählich auch die Wissenschaft ein. [Der Biochemiker Rupert Sheldrake z.B. spricht von ganzheitlichen Gestalt-Feldern.]

Der große Denker selbst hat demütig anerkannt, "daß ich gleichsam als ein Mittleres zwischen Gott und das Nichts, d.h. zwischen das Höchste Wesen und das Nichtsein so gestellt bin, daß allerdings, sofern ich vom Höchsten Wesen geschaffen bin, nichts in mir ist, was mich zu Täuschung oder Irrtum verleitete; sofern ich aber auch gewissermaßen am Nichts oder am Nichtsein teilhabe, d.h. sofern ich nicht selbst das Höchste Wesen bin und mir außerordentlich viel mangelt, insofern ist es nicht so sehr verwunderlich, daß ich mich täusche" (Med. 4,4). Gehen wir also den von René Descartes entdeckten Wahrheitsweg weiter und erforschen wir, was sich mit Zahlen verstehen läßt. Verdrängen wir aber nicht länger, wie er, die Würde der Lebewesen, sondern nehmen wir den mechanistischen Irrtum, zu dem er sich im Überschwang seiner Entdeckung hinreißen ließ, ausdrücklich zurück. Nein, weder ein Frosch noch das Universum ist bloß eine Maschine!


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samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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