Jürgen Kuhlmann: Kat-holische Gedanken

Wer bin ich?

KATHOLISCH ODER EVANGELISCH? - BEIDES!


Werk oder Glaube - was macht einen Menschen zur Person?

"Ich muß doch auch leben" schmeichelte der Bettler. "Ich sehe da keine Notwendigkeit" erwiderte Talleyrand. Zweihundert Jahre später drückt dieselbe Haltung sich gröber aus. "Euer Elend kotzt mich an," verkündet ein Sportwagen-Aufkleber. Es zählt nur das, was zählt. Wer sich fressen läßt, ist selber schuld.

In ihrem Nein zu solchem Zynismus sind alle christlichen Bekenntnisse eins. Auseinander gehen ihre Antworten auf die Frage, wodurch ein Mensch letztlich, nämlich vor Gott, wertvoll wird. Das ist der berühmte Streit um die Rechtfertigung. Er wird zwar an der Basis kaum mehr begriffen, manche protestantischen und katholischen Glaubenswächter legen aber großen Wert auf die scharfe Kontur der eigenen Position. Weil die Frage "wodurch werde ich wertvoll?" jeden Menschen umtreibt, darum lohnt es sich, die christliche Antwort zu erforschen. Falls sich herausstellt, daß diese Antwort in sich gespannt ist und bleiben muß, dann bekommt der protestantisch/katholische Gegensatz seinen wichtigen Sinn: jeder Christ denke und spreche auf seine Weise, wisse aber, daß seine Sätze vor dem Absturz in eine unchristliche Ideologie nur dadurch bewahrt werden, daß er sie immer wieder neu von der konfessionellen Gegenposition in Frage stellen, vor irriger Auslegung schützen läßt.

Was macht den Menschen zur anerkennenswerten Person? Von Aristoteles bis Niklas Luhmann weiß das Abendland: nicht die Situation sondern die freie Tat. "Indem wir das Gerechte tun, werden wir gerecht", lehrt Aristoteles [Nik. Eth. B,1103 a 34-b1], und Luhmann definiert: "Von Moral wollen wir sprechen, wo immer Individuen einander als Individuen, also als unterscheidbare Personen behandeln und ihre Reaktionen aufeinander von einem Urteil über die Person statt über die Situation abhängig machen." [Ges.Ges.244] Egal ob jemandes Situation golden oder schlimm ist: seinen Wert als Person legt er selbst fest.

Nichts anderes verkündet Jesus: Der gute Samariter lebte als irrgläubiger Ausländer zwar in einer üblen Situation, dank seines liebevollen Verhaltens wird er aber allen kommenden Jahrtausenden als leuchtendes Vorbild hingestellt. In Jesu Gerichtsgleichnis urteilt der König gemäß keiner gesellschaftlichen oder ideologischen Situation sondern allein danach, wozu eine Person durch ihr Tun oder Nichttun sich selber macht: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt oder nicht, das habt ihr mir getan. Oder nicht. "Und diese werden hingehen in unendliche Pein, die Gerechten aber in unendliches Leben" (Mt 25,46).

In dieser Sicht des Christentums bringt der Glaube keine andere Ethik als die vernünftige Philosophie sondern verschafft ihr unendliches Echo: nicht bloß zwischen irdischer Achtung und Mißachtung entscheidet eine Person durch ihr Tun sondern zwischen Himmel und Hölle. Ob der Mensch Jesus mich zuletzt achtet oder mißachtet, das ist wegen seiner göttlichen Würde ein Unterschied, der einen unendlichen und ewigen Unterschied macht.

Meinem Ältesten verdanke ich einen Tip. Beim Thema Stereo-Denken riet er: Du machst es falsch, wenn du immer zeigen willst, wieso alle recht haben. Das führt nicht weiter. Du mußt zeigen, wieso alle unrecht haben. - Machen wir uns deshalb klar, wozu dieser Sinnpol entartet, wenn er jemanden allein prägt, ohne Beziehung zum Gegenpol. Dann ist das Ergebnis pharisäische Werkgerechtigkeit. Die Tat macht die Person? Dann hat, wer Gutes tut, auch guten Grund, Nachlässigere, erst recht Übeltäter zu verachten. Sooft im Seminar ein gefräßiger Wiener neben mir sich zwei Schnitzel nahm, so daß zuletzt eines fehlte, mußte ich alle Seelenkraft zusammennehmen, ihn weder heidnisch zu beneiden noch pharisäisch zu verurteilen. Und dann natürlich, wofern mir das gelang, dem noch schlimmeren Hochmut zu widersagen, daß ich Gott sei Dank kein Pharisäer bin ... Einer solchen dialektischen Teufelsspirale entgeht ein Christ zuletzt durch herzliches Gelächter Aug' in Auge mit seinem auferstandenen Freund.

Daß die Tat den Wert der Person bestimme, dieser Lehre wird von drei Seiten her widersprochen. Von unten oder von oben her reduziert man die Person auf eine sie total bestimmende Situation. Von unten her spricht die materialistische Gehirnforschung uns echte Freiheit ab: nicht entscheide frei die Person sondern im Gehirn laufe ein naturgesetzlich festgelegter Kausalprozeß ab, unser Freiheitsgefühl sei bloß Illusion. Von oben her wird die Person durch die theologische Lehre der doppelten Prädestination entwürdigt. Sie ist von der Kirche als Irrlehre verworfen worden. Daß statt der Person doch eine Situation das absolute Unheil bewirke, nämlich ein uns vorausliegender Ratschluß eines allmächtigen Bestimmers: diese verzweifelte Angst gehört vor dem Forum der Vernunft als seelische Krankheit und in der Sprache des Glaubens als teuflische Versuchung bekämpft.

Notwendig ist hingegen der dritte Widerspruch gegen die Werkgerechtigkeit: das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders. Hier schlägt das Herz nicht nur der evangelischen Kirche sondern des Christentums überhaupt. Im ersten Kanon der 6. Sitzung des Konzils von Trient (1547) lesen auch Katholiken: "Wer behauptet, daß der Mensch durch Werke, die durch die Kräfte der menschlichen Natur oder in der Lehre des Gesetzes vollbracht werden ohne die göttliche Gnade, die da ist in Jesus Christus, vor Gott gerechtfertigt werden könne, der sei ausgeschlossen." Das klingt Normalohren heute freilich nicht aufregender als das protestantische Gegenstück "Rechtfertigung des Gottlosen". Läßt diese Wahrheit sich so sagen, daß ein klerikal unberührtes oder, schlimmer, überfüttertes Gemüt auf einmal merkt: Mensch, sollte das stimmen, das wäre toll!?

Wer bin ich? "Der Glaube macht die Person", heißt ein Kernsatz Martin Luthers. [WA 39/I,283,1] Also nicht die Situation, aber auch nicht die Tat, sondern überhaupt nichts Irdisches. "Fides facit personam." Das ist ein starkes Wort. Einem Laserstrahl gleich durchdringt es den Nebel meiner Identitätskonfusion, beleuchtet plötzlich wie den Abgrund, über dem ich schwebe, so auch das unzerreißbare Seil, an dem nicht nur ich hänge sondern auch der Boden, auf dem ich - scheinbar, jedoch dank dem Seil auch wirklich - fest stehe und sicher auftrete. Weil "der Glaube macht die Person" manch eher weltlicher Leserin aber vielleicht doch nur als fromme Floskel vorkommt, deshalb bezeuge ein großer Christ des vergangenen Jahrhunderts, was ungefähr der Satz auch jenem Reformator bedeutet haben mag, der ihn formuliert hat. Ich versichere: Wer sich in dem folgenden Gedicht nicht wiederfindet, hat noch keine Ahnung, was Christsein bedeutet. So im Berliner Zuchthaus sein Inneres offenbart hat 1944 der evangelische Martyrer Dietrich Bonhoeffer, im April 1945 haben die Nazis ihn aufgehängt.

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WER BIN ICH?

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

"Der Glaube macht die Person." Bonhoeffers Glaubensgenosse Eberhard Jüngel hat recht, wenn er dieses Evangelium als totale Perspektivenumkehr beschreibt: "Wer vor Freude auf dem Kopf geht, sieht die Welt mit anderen Augen, sieht sie auf jeden Fall aus einer neuen Perspektive." [Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens (Tü 1998),226] Welche Perspektive verwandelt sich? Jüngel erklärt, daß "in der aufgeklärten Neuzeit der Mensch in jeder Hinsicht als der Täter auf dem Plan ist. Im Bereich der theoretischen Vernunft Welten entwerfend und den Dingen ihre Gesetze vorschreibend, im Bereich der praktischen Vernunft eine moralische Welt bauend und die natürliche Umwelt in eine künstliche Umwelt transformierend, tritt der moderne Mensch allemal als Handelnder auf - Mensch sein heißt Täter sein. Die Sabbatruhe, in der der Mensch Person und nichts als Person ist, fehlt diesem Menschen. Ja, er tut nicht nur immer etwas, handelnd macht er sogar sich selbst zu dem, was er ist. Durch Taten bewirkt er seine Anerkennung, durch Untaten verwirkt er sie: opus facit personam - gilt hier in positiver und negativer Hinsicht." [104]

Nein, widerspricht der Christ: Der Glaube macht die Person. Jüngel verdeutlicht: "Zu dieser neuen Perspektive und dem ihr entsprechenden Verhalten gehört vor allem, daß wir den unbedingten Vorrang der Person vor ihren Werken nicht nur in geistlicher, sondern in jeder Hinsicht bejahen und zur Geltung bringen. Wer aus der Gerechtigkeit Gottes lebt, der weiß, daß wir unsere eigene Anerkennung nicht selber ins Werk setzen müssen. Gerechtfertigt sein heißt: eine unwiderruflich anerkannte Person sein. Wer aus der Gerechtigkeit Gottes lebt, der wird aber auch im anderen Menschen eine von Gott unwiderruflich anerkannte Person respektieren: allen ihren möglichen Leistungen und Erfolgen zuvorkommend, allen ihren faktischen Fehlleistungen und Mißerfolgen zum Trotz. Nicht was ein Mensch aus sich macht, entscheidet über ihn, sondern daß Gott aus Sündern Gerechte gemacht hat, entscheidet über unser ewiges und deshalb auch über unser zeitliches Leben. Wer aus der Gerechtigkeit Gottes lebt, der wird in jeder menschlichen Person mehr sehen als nur einen Täter oder Untäter. Die Rechtfertigung des Sünders verbietet es, die beste Tat, aber auch die schlimmste Untat, mit dem Ich zu identifizieren, das sie tat. Sie entmythologisiert den Mythos vom sich durch seine Erfolge selber übertreffenden Übermenschen und läßt uns hinter der Fassade des sich mit seinem Lebenswerk verwechselnden Selbstgerechten einen erbarmungswürdigen Menschen entdecken. Sie entmythologisiert aber genauso den Mythos vom sich durch seine Untaten zur Unperson machenden Unmenschen und läßt uns auch im schlimmsten Fall hinter einer trostlosen Lebensgeschichte die menschliche Person entdecken, deren sich Gott selber erbarmt hat. Wer aus der Gerechtigkeit Gottes lebt, kennt keine hoffnungslosen Fälle. Er erkennt in jedem Fall eine Person, der göttliche Erbarmung widerfahren ist und die eben deshalb auch unter Menschen erbarmungswürdig ist ? wie jeder von uns. Es gibt unmenschliche Taten. Es gibt unheimlich viele unmenschliche Taten. Doch Gottes Gerechtigkeit verbietet es uns, die unmenschliche Tat kategorial so auszuweiten, daß ihr Subjekt mit ihr identifiziert und dadurch zum Unmenschen erklärt wird. Die Kategorie des Unmenschen ist selber eine unmenschliche Kategorie." [226 f]

Ich gestehe: Beim Lesen dieser Sätze bin ich meines christlichen Glaubens auf eine Weise neu froh geworden, die jahrelanges katholisches Theologiestudium mir so nicht beschert hat. Jüngels Versprechen [2] hat sich an mir erfüllt: "Wer sich die Anstrengung des Nachdenkens abverlangt, für den wird das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen das, was es in seinem Kern ist, nämlich ganz einfach."

Und doch ist damit nicht alles gesagt. Kein menschliches Wort sagt alles. Zweideutig bleibt auch dies strahlende Evangelium. Es fleischlich mißzuverstehen ist nicht schwer. "Sündige fest aber glaube fester", auch dieser Rat wird Martin Luther zugeschrieben. Wer durch solche Gemütskrisen gegangen ist, vor des Allmächtigen Zorn so gezittert hat wie jener Mönch, den bringt auch eine dermaßen überspitzte Formel nicht in Gefahr. Wer sie aber mit ungereinigtem Herzen als offizielle Lehre seiner Kirche gierig aufschnappt und zum Lebensprogramm macht, der hält schließlich für Glauben, was bloß die zynische Ideologie billiger Gnade ist. Die Verwechslung der Sicherheit des Fleisches mit Glaubensgewißheit ist aber kein Heilsweg! Gegen diese irrige Auslegung der evangelischen Wahrheit hat das Konzil von Trient [Kap. 7] mit Recht seinen Grundsatz gestellt, daß ein liebloser Glaube keineswegs rechtfertigt: "Wenn zum Glauben nicht Hoffnung und Liebe hinzutreten, einigt er nicht vollkommen mit Christus und macht nicht zum lebendigen Glied seines Leibes. Deshalb heißt es mit Recht: ‚Ohne Werke ist der Glaube tot' (Jak 2,17) und: ‚In Christus Jesus gilt weder Beschnittensein etwas noch Unbeschnittensein, sondern der Glaube, der in der Liebe wirkt' (Gal 5,6)."

Diese Bibelstelle wird von Jüngel so erklärt: "Der rechtfertigende Glaube ist Gottes Werk. Der Glaube des Gerechtfertigten fordert das weltliche Werk des Menschen (keine iustitia activa!). Gottes Werk der Liebe ruft die Menschen zum durch die Liebe für die Liebe befreiten Werk: Der Mensch kann und soll deshalb liebevoll handeln. So macht der Glaube Gott zu dem, der er ist, und den Menschen zu dem, der er sein soll. Das Kriterium dafür aber sind - in negativer und positiver Hinsicht - die Werke des Menschen." [Paulus und Jesus (Tü 1962),65]

Spüren Sie, wie unser Verstand an seine Grenzen stößt? Gegen den Irrtum der Werkgerechtigkeit besteht evangelischer Glaube darauf, daß über mein Sein allein Gottes Erbarmen bestimmt, nicht mein Werk, weder eins der Liebe noch eins der Bosheit, sonst müßte ich verzweifeln - werfe ich nicht immer wieder eine vorgedruckte Spendenüberweisung in den Papierkorb, obwohl jene armen Aussätzigen oder Erblindenden oder Taubblinden oder Obdachlosen oder Hungrigen diese 20 Euro nötiger brauchen als wir? Dank sei aber Gott: Wer ich bin, bestimmt allein Deine Gnade, die mich rettet, egal wohin Egoismus mein Tun sich verirren läßt.

Sobald solche Glaubensgewißheit aber zu Sicherheit des Fleisches umkippt, mahnt katholischer Glaube: Vorsicht! An jenem Tag wird der König dich nicht fragen, welcher Glaubenstheorie du anhingst (auch derlei Unterscheidungen sind Werke!), sondern was du seinen geringsten Geschwistern getan oder nicht getan hast. Denn weil Gott ein Mensch, wahrhaft einer aus uns geworden ist, urteilt ER nach menschlichem Maß. Ist ein Mensch aber am Verdursten, so verlangt er nur nach Wasser und ist jeder Person dankbar, die es ihm reicht; was sie dabei denkt, aus welchem Glauben heraus sie ihm hilft, daran liegt dem Verdurstenden nichts, auch nicht dem Ewigen Richter, der sich mit jedem Verdurstenden identifiziert. Entscheidet also doch die freie Tat über unser Heil und nicht die eine oder andere Glaubenssituation?

Ertragen oder Verschieben der Paradoxie

Wer sich in dieser Zwickmühle zwischen katholischem und evangelischem Rechtfertigungsglauben vorfindet, hat zwei Möglichkeiten. Entweder er bekennt das Geheimnis als unbegreiflich. Dann kann er entweder sein konfessionelles ICH vollziehen und im überkommenen Sinn gut evangelisch oder gut katholisch sein, d.h. innerhalb des eigenen Sprachspiels den Standpunkt der anderen Konfession als ungehörig ausgrenzen und folglich die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigung bekämpfen. Oder er vollzieht das gemeinsame UNS, verhält sich ökumenisch und abstrahiert von den alten Widersprüchen, indem er sie zu damals zeitbedingten, jetzt überwundenen Mißverständnissen umdeklariert. Die dadurch neu aufbrechenden innerkonfessionellen Parteiungen lassen sich aushalten, schließlich feiert man miteinander Eucharistie. Interkonfessionell tun die Ökumeniker das auch, erfahren dabei die Einheit der Kirche. Daß konfessionell Fühlende das gemeinsame Abendmahl ablehnen, ist nur konsequent; mit welchem Recht sie es auch den Ökumenikern verbieten, ist umstritten. Klaus Bergers Argument, wegen der mangelnden Kircheneinheit sei es eine Lüge, halte ich deshalb für falsch, weil die (vertikale) Spaltung konfessionell/ökumenisch innerhalb jeder Konfession geistlich mindestens so schwer wiegt wie die (horizontale) zwischen den Bekenntnissen, jedoch eine gemeinsame Eucharistie z.B. von Ratzinger und Küng nicht hindert. Göttlich gewirkte Einheit in einer Dimension überstrahlt die bloß reale Spaltung in der anderen. Das lehrt uns Paulus: "Wo die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden" (Röm 5,20). Dem gemäß waren die Berliner Kommunionfeiern kirchlich in Ordnung.

Das Geheimnis an dieser Stelle zu respektieren ist der eine Umgang mit einer geistlichen Zwickmühle. Der andere besteht darin, sie als Paradoxie zu nehmen und dann zu versuchen, diese aufzulösen, indem das Unbegreifliche an eine andere Stelle verschoben wird. Hören wir den hier zuständigen Meister Niklas Luhmann: "Die paradoxe Formulierung hat eigentlich wenig Sinn, wenn man nicht zugleich eine Überführungsformel hat, also eine Auflösungsformel des Paradoxes ... Wenn etwas zugleich unterschieden und nicht unterschieden, also dasselbe sein soll, steht man vor einer Paradoxie. Ich möchte noch einmal von der Frage ausgehen, wie man mit Paradoxien umgehen kann, wenn man sie bemerkt. Es gibt viele Paradoxien, die man nicht bemerkt. Zum Beispiel war ich vor einigen Monaten in einem kleinen Appartementhotel in Brisbane direkt am Brisbane River, in dem ein Telefon an der Wand hing, auf dem, wenn man es abnahm, ein kleiner Zettel mit dem Text "If defect, call ...", dann die Nummer, befestigt war. Das heißt: Wenn du nicht handeln kannst dann handele." Was macht man mit einer solchen Paradoxie? Man löst sie durch die Unterscheidung von defekten und nichtdefekten Telefonen auf, schreibt sich die Nummer ab, geht zu einem anderen Telefon und ruft die angegebene Nummer an. Man geht mit Paradoxien um, indem man eine für sie passende Unterscheidung sucht, Identitäten fixiert ? dies Telefon, andere Telefone ? und auf diese Weise zumindest handlungsfähig bleibt." [Einführung in die Systemtheorie (Bielefelder Vorlesung 1991/92), Heidelberg 2002, 88.91f.]

Person in sich gestuft

Können wir eine ähnlich Methode auf unsere Frage anwenden? Luhmann stellt fest: "Wenn etwas zugleich unterschieden und nicht unterschieden, also dasselbe sein soll, steht man vor einer Paradoxie." Das ist genau unser Problem. Glaube und Liebe sind konfessionell unterschieden, ökumenisch dasselbe: in Liebe sich auswirkender Glaube. Welche andere "passende Unterscheidung" löst die Rechtfertigungsparadoxie auf?

Halten wir bei der Person zwei verschieden tiefe Schichten auseinander: weiter außen das, wozu sie sich frei selbst macht (die menschliche Schale), weiter innen das, wozu sie um Christi willen (dem sie ähnlich als Glied angehört wie dir ein Finger) von Gottes Gnade gemacht wird (ihr eigentlicher Kern). Schon ist das Paradox aufgelöst: die Person im äußeren Sinn verdankt sich keiner Situation sondern ihrer eigenen Tat, die eigentliche Person hingegen allein dem sie aus reiner Liebe in sich aufnehmenden Gott. Jetzt stimmen beide einander scheinbar ausschließenden Sätze: "Das Werk macht die Person" (als frei sich bestimmende Schale), "der Glaube macht die Person" als in Gott geglaubten Kern.

Das ist keine neue Einsicht, sie steht schon im Neuen Testament. "Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus. Ob aber jemand auf dem Grund mit Gold, Silber, kostbaren Steinen, mit Holz, Heu oder Stroh weiterbaut: das Werk eines jeden wird offenbar werden; jener Tag wird es sichtbar machen, weil es im Feuer offenbart wird. Das Feuer wird prüfen, was das Werk eines jeden taugt. Hält das stand, was er aufgebaut hat, so empfängt er Lohn. Brennt es nieder, dann muß er den Verlust tragen. Er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durch Feuer hindurch" (1 Kor 3,11-15).

Paulus verwandelt den unbegreiflichen Gegensatz Glaube allein / freies Werk in ein verstehbar gestuftes Ereignis: Einerseits wird (gut evangelisch) meine Person nicht von meinem Werk bestimmt sondern allein von Gottes Gnade: "Er selbst aber wird gerettet werden." Anderseits bin ich (gut katholisch) die Summe meiner Taten und "das Feuer wird prüfen, was das Werk eines jeden taugt". Es ist also sehr einfach: Jegliche winzige Lieblosigkeit kommt dann vor aller Welt auf, ähnlich wie auf dem Fußballplatz jedes vor dem Schiedsrichter versteckte Foul dank der Zeitlupe sofort den Millionen offenbar wird. Was ich jetzt Übles tue, dafür werde ich mich DANN vor jedem Betroffenen und der universalen Öffentlichkeit schämen. Weil unser Geist dann erwachsen ist, wird das Brennen solcher Schamröte schmerzlicher sein als das Lodern jener physikalischen Höllenflammen, die kaum noch jemand ernst nimmt. Mit Recht, denn Gott ist kein Folterer. Doch schneidet seine Gerechtigkeit unendlich scharf in jede Bosheit, die Rechnung billiger Gnade geht nicht auf. Nicht von irdischen Situationen (einschließlich ideologischer Positionen) wird meine Person bestimmt, als sie gilt nicht, was ich dank der Umstände bin, sondern wozu ich mich durch mein Tun selber mache. Diese Person steht DANN - das heißt: je jetzt! - vor Gottes Gericht. Deshalb mahnt Paulus seine lieben Philipper: "Müht euch mit Furcht und Zittern um euer Heil!" Verglichen mit unseren Ängsten um Irdisches ist solche Furcht um soviel ernster, wie bei einem Betrüger die Furcht vor seinem Strafprozeß die Sorge um den Verlust eines Stücks Schokolade übersteigt, in traditionell katholischer Sprache sagte man, eine Stunde Fegfeuer sei schlimmer als alle ausdenkbaren irdischen Leiden zusammen.

Und doch: "Er selbst wird gerettet werden." Das heißt: Die allertiefste, am grausamsten quälende Angst ist dem Christen genommen. ICH gehe nicht verloren. Wer sich bedingungslos auf Gottes Treue verläßt, die wir an Ostern und jedem Sonntag feiern, kann sein Leben nicht total verfehlen.

Eins in gespannter Hoffnung

So einleuchtend diese Lösung scheint, macht doch auch sie den Glauben nicht zu Wissen. Weiß ich denn, ob ich mich wirklich auf Gott verlasse? Rede ich mir das vielleicht nur ein und hänge in Wahrheit meinem fortdauernden Egoismus bloß ein religiöses Mäntelchen um? Auch Adolf Hitler war katholisch. Angenommen, er hätte vor dem Tod noch schnell ein Vater Unser gesprochen und dabei auch um die Vergebung seiner Millionen Morde gebeten: hätte das schon als Glaube gegolten? Wenn ja, scheint der Glaube das leichteste aller Werke; wenn nein: wo ist die Grenze zwischen glauben und nicht glauben? Wenn der Glaube die Person macht, was ist dann mit den Ungläubigen - vielleicht also auch mit mir? Gemäß der eben getroffenen Unterscheidung wäre ihr Personkern leer, eine taube Nuß, als Person bleibt ihnen dann nur die Schale ihrer Taten, die im Gericht nicht bestehen. Meist aber auch keine unendliche Höllenstrafe verdienen. Wie schafft der Richter es, Böcke und Schafe zu trennen? Sind wir nicht alle zusammengestoppelte Mischwesen? Wenn ich in südlicher Stadt der einen Bettlerin vor der Kirchentür etwas reiche und an der nächsten vorbeischreite, wie wirkt sich das zuletzt aus?

Hilft Luhmanns Methode weiter? Mit welcher anderen Unterscheidung lösen wir die Paradoxie auf, daß vermeintlicher und echter Glaube "zugleich unterschieden und nicht unterschieden, also dasselbe sein soll"? Jetzt brauchen wir, zu Glaube und Liebe hinzu, ihr Drittes: die Hoffnung. Diese drei bleiben, jubelt Paulus (1 Kor 13,13). Unterscheiden wir zwischen Hoffen und Wissen. Wissen können wir nicht, ob die Hölle leer sei, hoffen dürfen wir es. Wissen können wir es nicht: Ohne unsere Verbundenheit mit Christus wären wir alle Böcke, angesichts der geschuldeten vollen Solidarität zu so vielen - uns erreichbaren! - Notleidenden steht es niemandem an, sich als unbedrohtes Gutschaf aufzuspielen. Jener katholische Schüler, der zeitweise - da er sein Taschengeld in Eis steckte statt es hungrigen Kindern in Indien zu schenken - jedes Suppenhuhn beneidete, weil es nur zum Kochtopf unterwegs war, nicht zur Hölle, er hatte sehr wohl einen Pol des Entscheidenden begriffen.

Nicht den andern, sonst wäre er, statt vom Katholizismus in die Skepsis zu springen, zum Christentum durchgebrochen, zum Glauben, daß Jesu Solidarität mit den Seinen jedes noch so dunkel gefleckte Mischwesen eindeutig auf die Seite der erlösten Schafe herüberzieht, wenn ein Mensch sich von Herzen auf ihn verläßt. Wie steht es mit der Höllenangst, ist sie krankhaft, eine Kollektivneurose der Christenheit? Mir scheint: ja und nein. Ja: bei den vielen, die durch einseitige Verkündigung in sie gestoßen werden, ohne daß dann auch das Evangelium von Jesu Sieg über Hölle und Tod ihr Herz trifft. Denken wir an Mütter, die keine frohe Stunde mehr haben, seit sie ein "in Todsünde" gestorbenes Kind in der Hölle vermuten müssen. Verglichen mit ihrem trostlosen Seelenzustand wirkt die ruhige Selbstgewißheit eines Cicero beneidenswert. Wie er seinem Tod entgegensieht, läßt den zuweilen gehörten Wunsch "ach hätte es doch nie ein Christentum gegeben!" plausibel erscheinen: "Erbärmlich wäre der Alte, der nach so langer Zeit immer noch nicht eingesehen hätte, daß der Tod verachtet gehört. Denn an dem liegt entweder gar nichts, falls er das Gemüt völlig auslöscht, oder er ist sogar zu wünschen, falls er es anderswohin geleitet, wo es ewig sein wird. Ein Drittes ist gewiß nicht zu finden." [Cato Maior, Über das Alter, XIX,66]

Doch, man hat ein Drittes gefunden. Es ist die Hölle. Vergleichen wir den aufgeklärten Heiden jedoch, statt mit den Opfern klerikaler Inkompetenz, mit mündigen Christen wie Franziskus und Albert Schweitzer, Martin Luther King und Mutter Teresa, dann darf uns Dank erfüllen über den Einbruch des Absoluten in die Welt. Wer vom Bild des Ewigen Richters erst in Höllenangst getrieben und gerichtet: innerlich hingerichtet wird um dann jedoch, indem des Richters Strenge sich als Anspruch eines Freundes offenbart, neu gerichtet: zum engagierten Mitarbeiter an Gottes Reich der Liebe aufgerichtet, hergerichtet zu werden: er oder sie kennt Höllenangst nicht mehr als Zustand, nur als oft erneuten Schrecken, der dann auch die Hoffnung in neue Tiefe treibt. Unvergeßlich der Moment, da ich in der Bibliothek des Germanikums bei Urs von Balthasar las, daß der Glaube weder vom doppelten Ausgang der Geschichte noch von der Allversöhnung weiß, so daß ein Katholik zwar nicht an der Möglichkeit der Hölle zweifeln darf, wohl aber mag er hoffen, daß die Hölle leer ist.

Hoffen, und zwar für alle. Nicht aber für sich davon ausgehen! "Für mich bleibt die Sache beständig die: die andern alle, die werden schon selig, das ist sicher genug - nur mit mir mag es seine Mißlichkeit haben." [Kierkegaard, zitiert bei Paul Althaus, Die Letzten Dinge, S. 194] An jedes Ich richtet sich das Wort der Kirche. Stellen wir uns vor, sie verkünde die Leerheit der Hölle als sicheres Wissen: womit könnte ein von der SS zu Tode Gequälter seine Schinder dann noch zur Besinnung bringen? Nein: zitternd hoffen, daß deren Hölle sich zuletzt, nach der erschütternden Begegnung mit jedem einzelnen Opfer, doch noch als nur das Fegfeuer herausstellen möge, ist das eine - in den Chor zur Banalität runterentwickelter Progressiver einstimmen: "eine Hölle gibt es nicht", ist das andere und kommt einem wachen Christen nicht in den Sinn. Rette uns, Herr, vor dem ewigen Feuer!

Die innere Spannung nichtwissender Hoffnung ist allen Christen gemeinsam. Sie läßt sich in der Erdenzeit nicht auflösen. Paradox wäre sie nur für jemanden, der sich mit seinem wissen wollenden Verstand ohne Rest identifiziert, das tun Vernünftige aber nicht, weil sie einsehen: ein Gehirn, das sich aus dem Tierreich herausentwickelt hat, kann das Geheimnis des Ganzen unmöglich begreifen. Vielmehr bildet die nichtwissende Hoffnung zusammen mit nicht sehendem Glauben und nicht urteilender Liebe das eine JA des Menschenherzens zu seinem und aller Heil.


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Siehe auch des Verfassers alten Predigtkorb von 1996 an,

seine kat-holische Theorie-Baustelle

sowie seinen Internet-Auftritt Stereo-Denken
samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

Schriftenverzeichnis

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