Jürgen Kuhlmann

Kleines CREDO für Zeitgenossen


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Et expecto resurrectionem mortuorum et vitam venturi saeculi
Ich erwarte die Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Welt

Gläubig erhoffen läßt sich das Ewige Leben, verstehen nicht. Ein Dauer-Ereignis, das doch nie Zustand wird; ein ewiges Kommen, das immer ganz da ist und nie ganz und gar; eine Träne, die immerfort abgewischt wird, also auch stets neu quillt; ein DANN, das zwar anders sein wird als unser irdisches Jetzt, aber kein anderes Jetzt, sondern die Erfüllung dieses Augenblicks, und dies natürlich auch nicht sein wird, sondern ist (wie wäre es sonst Jetzt?) - dieser Stereo-Begriff des Ewigen Lebens überfordert unseren armen Mono-Verstand, so daß er immer wieder in falsche Alternativen zurücksinkt.

Deshalb werden beide, "Gläubiger" wie "Ungläubiger", immer wieder einmal vom Zweifel gepackt, muß die gläubige Seele auf ihre naive Utopie einer weltentrückten Himmelswiese verzichten und der Ungläubige auf seine grimmige Scheinsicherheit: "Ihr sterbt mit allen Tieren und es kommt nichts nachher." Eben darum findet mancher Christ an diesem Brechtvers seine tolle Freude und der gottlose Dichter meint es nicht nur spöttisch, wenn er seine Seeräuber-Jenny von dem Schiff singen läßt, das eines Abends kommen wird. Als Konfessionen des Verstandes bleiben Religion und Diesseitigkeit Gegner, zugleich aber aneinander verwiesen.

Als Ökumene der glaubenden Vernunft können sie aber je und je das Fest ihrer geistlichen Einheit feiern: Jede Träne gehört abgewischt; der Mensch wird mehr werden, als er ist; JETZT gilt unser Leben, egal was morgen sein wird. Wie bei jeder Ökumene (und in gewissem Sinn ist jede Ehe eine Mischehe) ist auch bei der Frage nach dem Ewigen Leben die Wahrheit allein im Dialog zu finden: Jede Seite hat nur insoweit recht, wie sie auf die andere hört, das eigene Monopol aufgibt und aus ihrem Standpunkt den einen Pol einer Stereo-Polarität werden läßt, die jeder Beteiligte als ganze vernimmt, obwohl er nur den eigenen Pol ausdrücken kann.5

Nicht "es gibt ein ewiges Leben" heißt die Behauptung des Glaubenden, sondern "ich erwarte das Ewige Leben". Jener Satz kann sich zur Jenseits-Ideologie verhärten, dieser ist schlicht wahr. Und nicht "es kommt nichts nachher" heißt die Behauptung des Ehrlichen, sondern "ich glaube, daß es nur auf das jetzige Leben ankommt". Jener Satz ist Diesseits-Ideologie, dieser ist wahr. Die Ideologien schließen sich gegenseitig aus, die Wahrheiten ein. Wetten daß?

Oder lieber nicht ..? Das Folgende ist eine wahre Geschichte:

Wetten wir, um eine Flasche Himmelssekt? Was auftrumpfend klingen sollte, kommt kleinlaut heraus; schon während ich den Vorschlag mache, merke ich, wie unfair er ist. Hätte nämlich sie recht, daß nach dem Tod nichts kommt, dann könnten wir nie wissen, daß sie die Wette gewann - eine Wette aber, die nur einer gewinnen kann, ist nicht ehrlich.

Das Problem läßt mich nicht los. Ich spüre: Es darf nicht sein, daß bei dieser entscheidenden Frage bloß der Fromme recht hat. Wehe euch ihr Reichen, warnt Jesus - welcher Reichtum wäre aber größer als in der Frage aller Fragen allein die Wahrheit zu haben? Es mag verrückt klingen, aber mich entsetzt der Gedanke, meine freundliche Gegnerin müßte DANN mit ihrer Sektflasche ankommen und demütig zugeben, im Gegensatz zu mir habe sie sich geirrt. Das darf nicht sein. So einseitig soll es bei uns nicht zugehen im Ewigen Leben. Wenn christliches Stereo-Denken irgendwo verlangt ist, dann hier. Rechts hofft mein Osterglaube auf Erfüllung ohne Ende. Und was ist die Wahrheit des linken Kanals?

»Laßt euch nicht verführen! Es gibt keine Wiederkehr ... Ihr sterbt mit allen Tieren und es kommt nichts nachher.« Kann ein Christ Bert Brechts Trompetensignal so verstehen, daß es irgendwie stimmt? Ich meine: ja. Es kommt deshalb nichts nachher, weil es genau genommen überhaupt kein Nachher für uns geben kann! Was ist der Mensch? Ein Lebewesen zwischen Zeugung und Tod. Meine begrenzte Lebenszeit gehört zu meiner Definition, vor und nach ihr gibt es viel, nicht aber dieses Individuum, das ich bin.

Ich gleiche einem Klaviertrio der drei geistlichen Instrumente EINS, DU und ICH, es vollzieht sich in den vier Sätzen Kindheit, Jugend, Reife und Alter. Vor der ersten Note des Stücks und nach der letzten ist es nicht, mit dem Schlußakkord verklingt seine Musik »und es kommt nichts nachher«. Daraus folgt aber keineswegs, es gebe diese Musik bloß während der jetzigen Probe und nie im Konzert. Vielmehr wird jeder Ton unserer Lebenslieder DANN im Ganzen klingen, wenn zwar kein anderes Etwas nachher kommt, so gesehen demnach nichts, wohl aber Alles.

»Ja« (2 Kor 1,20): Während die Sänger in den Stimmproben je nur eine Melodie verwirklicht haben, vernehmen sie bei der Aufführung die Fülle des Konzerts und merken, wie ihre in sich oft so simple, zuweilen scheinbar unsinnige Melodie im Wunder des Gesamtklangs JETZT plötzlich stimmt. Merke: Generalprobe gibt es keine. Nach dem Üben deiner Melodie schläfst du ein - und erwachst mitten im rauschenden Konzert, beim all-entscheidenden BLICK zu deinem Einsatz. Darum laß dich während der Probe lieber nicht von einer Nach-meinem-Lied-Wahnidee ablenken. Die brächte dich nur aus dem Takt. Und wäre auch falsch. Denn dein Lied bist du, sonst nichts. Jetzt und in Ewigkeit, zusammen mit allen.

Dasselbe nochmals anders:

»Sie meinen also, daß der Weg das Ziel ist?« fragt die junge Frau.

Ich stocke. Meine ich das wirklich? Freue ich mich nicht auf das strahlende Ziel nach allen Wegen, daheim, in patria, nicht bloß in via? Diese Grundunterscheidung der mittelalterlichen Glaubensdenker wische ich nicht weg. Und doch - was bin ich? Nichts als dieser zeitliche Mensch, unterwegs vom Mutterschoß zur Bahre. Deshalb gehört der Weg wesentlich zu mir, somit auch, wenn es eines gibt, zu meinem Ziel. Was soll ich erwidern?

Statt zu Worten greife ich zum Stift und zeichne eine verworrene Linie aufs Papier, die sich vielfach überkreuzt. Schauen Sie, das ist der Weg. In jedem Moment überblicken wir nur eine winzige Strecke. Er formt sich aber allmählich zu einer Figur. Und die, als ganze, ist zuletzt das Ziel.

So ist der Weg das Ziel und trotzdem ist das Ziel mehr als der Weg, weil es auf einmal und wunderbar zugleich alles in sich faßt, was während des Weges auseinanderlag. Das hoffen wir für jedes Einzelleben, und für uns insgesamt. Alle so verschiedenen Wege ergeben schließlich das unendlich bunte Ziel. Ähnlich, wie im Orchester alle Instrumente zuerst je einzeln üben und sich beim Konzert zu einer Sinfonie zusammenfinden. Das Ziel ist mehr als der Weg, denn kein Musiker, während er in seiner Kammer übt, ahnt die Pracht der Sinfonie. Und doch ist der Weg das Ziel, denn nichts anderes als das neue Ineinander aller je geübten Teilmelodien ist zuletzt das Konzert.

Um so schöner wird es, je aufmerksamer wir jetzt schon auf den Willen des Dirigenten achten, der uns geheimnisvoll nahe ist und mitteilt, wie (Er)[,] das Ganze[,] sich denkt. Denn - hier versagt das Konzert-Gleichnis, aber die Linien-Figur stimmt - nichts anderes ist DANN die Figur als die lebendige Summe aller Jetzt-Etappen des Weges. Scheinbar übst du erst für dich - in Wahrheit sind wir schon mitten bei der Aufführung, deren Gesamtklang uns freilich erst DANN erreicht. Und nie mehr verklingt.

Die beiden Uhren. "Kinder, es ist die letzte Stunde" (1 Joh 2,18). Wie läßt diese erstaunliche Behauptung sich verstehen?

Wie die Sonne über den Himmel, so wandert der Zeiger über das Ziffernblatt - und der Mensch durch sein Leben. Auch es kennt Morgen, Mittag und Abend. Kein Wunder, daß der Betrachter einer Uhr unversehens im Zeiger sich selbst erblickt: meine Zeit, ja die Zeit überhaupt kommt von dem her, was schon war, ist aktuell jetzt, in der Gegenwart, und bewegt sich auf die Zukunft hin. Was wird aus dem Wanderer, wenn "ihm die letzte Stunde schlägt"? Die Idee liegt nahe, daß er vom Ziffernblatt abgehoben und anderswohin verbracht wird, sagen wir in den Himmel, wo es zwar keine Zeit wie hier mehr geben wird, wohl aber hoffentlich uns, die jetzt Zeitverhafteten und im Tod von ihrer Tyrannei Befreiten.

Ganz anders bei der zeigerlosen Uhr, nicht zufällig stammt sie aus Japan. Malen wir uns einen Menschen aus, der nie einen Uhrzeiger gesehen hat, die Zeit immer nur von Digital-Uhren abgelesen hätte. Gäbe es für ihn weder "die Zeit" noch sein "Ich", jederzeit mit sich identisch? Würde er nicht geneigt sein, alles was sich in der Wirklichkeit tut, entsprechend dem zu deuten, was im Sichtfeld der Uhr geschieht? Und das ist keine Bewegung einer Substanz über ein geformtes Feld, vielmehr die je und je wechselnde Erscheinung isolierter Ziffern auf einem formleeren Grund. Die strenge Abfolge der Ziffern, wie sie aus dem Nichts erscheinen und je ins Ende verschwinden, hat etwas Faszinierendes. Wirklich aus dem Nichts kommen sie, werden durch keinerlei Bewegung von irgendwoher ins Blickfeld transportiert. Jede war vor ihrer Erscheinung noch zukünftig, am Kommen; danach ist sie vergangen, gewesen, vorbei.

Der Glaube soll sich keine Hinterwelten malen. Diese Welt, hier und jetzt, wird im selben Augenblick, da sie vergeht, auch schon in Gott hinein verewigt; dieser Augenblick, von der gerade verschwundenen 37 bedeutet, geht nicht verloren. Deshalb fort mit zuchtlosen Himmelsträumereien und der Erde treu geblieben, nichts anderes als die vergöttlichte Erde erwartet uns als Himmel. Insofern ist tatsächlich je jetzt die letzte Stunde! Wem das klar wird, ihm / ihr leuchtet noch der graueste Tag in himmlischem Abendrot.

Aus dem Reich der Möglichkeiten durch das irdische Werden zum ewigen Sein: das ist der Weg, den jeder Einzelne schon unmeßbar oft gegangen ist; der Blick auf die Sekundenziffern zeigt mir einen dieser Werde-Momente nach dem andern. Was ich nicht sehe, als Christ aber glaube und hoffe, ist die einheitliche Neuverwirklichung dieser getrennten Momente in Gott. Weil Gott "alles in allem sein" will (1 Kor,15,28), darum DANN auch du in dir.

Amen

Die hebräische Wurzel bedeutet: Fest sein. Ja, so ist es. Ja, so sei es. Schlußklammer des Credo: Alles Gesagte gilt auch für mich. Amen sagen (von Anfang an: 1 Kor 14,16) alle Christen, auch die Muslime; in sämtlichen Liturgien bleibt es unübersetzt.


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