Jürgen Kuhlmann

EWIGES LEBEN -
TAG UM TAG NEU

Anfang: Das Problem

"Beim Tode trennt sich unsere Seele vom Leibe. Der Leib wird der Erde übergeben und zerfällt. Unsre Seele aber kann nicht zerfallen, weil sie ein Geist ist. Sofort nach dein Tode kommt unsre Seele vor Gottes Gericht. Sie muß Gott Rechenschaft geben über alle Gedanken, Worte und Werke und über die Unterlassung des Guten.

Wer in der Gnade Gottes stirbt und frei von allen Sünden und Sündenstrafen ist, kommt nach dem Tode sofort in den Himmel.

Wer noch für seine Sünden zu büßen hat, kommt erst an einen Reinigungsort, den wir das Fegfeuer (d.h. Reinigungsfeuer) nennen.

Wer bis zuletzt die Liebe und das Erbarmen Gottes von sich gestoßen hat und in der Todsünde gestorben ist, hat sich dadurch selbst für ewig von Gott getrennt. Er wird von Gott verdammt und kommt in die Hölle. Die Verdammten in der Hölle ... verwünschen sich und werden von immerwährender Verzweiflung gequält. Ihre Strafe wird kein Ende nehmen; sie dauert in alle Ewigkeit fort."
[Aus dem katholischen deutschen Einheitskatechismus (3. Auflage 1960)]

Einleitung

In fröhlicher Runde sitzen wir beisammen, der Wein lockert die Zungen. Sag mal, redet der Älteste mich an, du hast doch Theologie studiert. Gesetzt den Fall, von uns hier bin ich als nächster dran, ich liege also da und tu meinen letzten Schnaufer: was dann? Die Katechismus-Antwort kannst du dir sparen, die kenne ich. Deine ganz persönliche Überzeugung möchte ich hören.

Was soll ich sagen? Die Frage ist so alt wie die Menschheit; an Ostern hat die Antwort sich ereignet. Und zwar so überwältigend, daß unsere menschlichen Wörter sie nicht fassen können. Wie die ersten Christen ihr unsagbares Erlebnis doch zu sagen versuchten, das steht im Neuen Testament. Das Katechismus-Zitat auf der vorigen Seite zeigt, wie die Sprachregler der katholischen Amtskirche die Botschaft noch vor zwanzig Jahren weitergemeldet haben.

Zum so verkündeten Glauben bekenne ich mich. Doch kann ich ihn so nicht mehr sagen. In einem Zeitalter, zu dessen Hauptwissenschaften die Informatik gehört, ist dieser Unterschied leicht zu verstehen. Angenommen, mein chinesischer Freund redet auf Englisch vor deutschen Zuhörern und die fragen mich, ob ich das denn glaube. Meine Antwort: Das (was ihr heraushört) glaube ich natürlich nicht es ist ja Unsinn. Ihm aber glaube ich. Englisch ist weder seine Sprache noch eure - kein Wunder, daß unterwegs ein Informationsverlust auftritt. Untersuchen wir deshalb was er meinen könnte.

Die Sprache jener Katechismussätze ist mittelalterlich, d.h. verschieden sowohl von der urchristlichen Sprache als auch von unserer heutigen. Ein Wunder wäre es, käme es da nicht zu Verständigungsproblemen. (Wer früher eine hohe Dame niederträchtig nannte, machte ihr das Kompliment bescheidener Leutseligkeit - auch das kann man heute fast schon nicht mehr sagen.) Die Verständniskrise verursacht schweres Leid. Viele quälen sich, weil sie für Glaubenszweifel halten, was nur zeitgemäßes Denken ist. Andere lehnen alles Kirchliche ab und wissen nicht, wohin mit ihrer Hoffnung. An beide wenden sich die folgenden Gedanken.

A) Die Frage

I. Die Krise der Hoffnung

1) Der Einwand aus der Abstammungslehre

Von einem ewigen Leben der Tiere weiß der Katechismus nichts. Wenn eine einsame Hundefreundin ihrem verendeten Liebling irgendwo einen Grabstein mit Kreuz setzt, empören sich die Christen. Ihre Auferstehungshoffnung beschränkt sich seit jeher auf uns Menschen. Eben deswegen wird sie von Darwinismus und Evolutionslehre in scheinbar ausweglose Schwierigkeiten gestürzt. Denn wenn die Vorstellung stimmt, daß auf den Menschen die Ewigkeit wartet, während die Tiere ins Nichts zurücksinken, dann muß zwischen Tier und Mensch eine scharfe Grenze bestehen. Dieser Gedanke ist jedoch für ein wissenschaftlich geschultes modernes Bewußtsein kaum mehr mitzuvollziehen. Das Problem verdient, wie mir scheint, eine ausführlichere Behandlung.

a) Beim Einzelmenschen führt eine bruchlose Entwicklung vom ungeistigen komplizierten Eiweißklümpchen zum über sich und alles nachdenkenden Philosophen. Ob man die "Beseelung" mit der neueren Scholastik bei der Zeugung oder mit der mittelalterlichen erst später annimmt: sie ist jedenfalls kein empirisches Datum; denn kein Augenblick der kontinuierlichen Differenzierung des Leibes und Klärung des Bewußtseins ist als "Anfang des Menschen" bestimmbar; die Ausgangszelle hat aktuell sicher keine spezifisch menschlichen Fähigkeiten; von den späteren Momenten aber hebt sich keiner entscheidend aus dem langen Werdefluß heraus.

b) Was den Körper angeht, betont ein Abstammungsforscher ausdrücklich, "eine auf rein körperlich-anatomischen Merkmalen sich gründende Definition des Menschen, die ihn scharf vom Tier und dessen Körperbau abhebe, sei seit der Entdeckung der neuen Fossilienformen nicht mehr möglich." [OVERHAGE-RAHNER, Das Problem der Hominisation, Freiburg 1961, S.117]

c) Hinsichtlich des Verhaltens sei kurz zusammengefaßt, wie der führende Forscher die Frage beantwortet: "Was besitzt das menschenähnlichste Tier, der Pongide, daß gerade aus ihm der Mensch werden konnte?" [Konrad LORENZ, Vom Weltbild des Verhaltensforschers, München 1968 (dtv 499), S. 61; die folgenden Zitate ebd 60-78]

Jedes Tier muß sich in seinem Lebensraum orientieren, d.h. auf Außenreize reagieren. Je weniger gleichmäßig, je komplizierter der Lebensraum strukturiert ist, um so orientierungsfähiger, intelligenter müssen die Tiere sein, um darin zu bestehen. Das dümmste mehrzellige Tier, das wir kennen, ist eine bestimmte Quallenart, die sich in der homogenen Hochsee auf gar nichts Besonderes einstellen muß. Gescheiter ist schon ein Küstenfisch, der hinter einer durchsichtigen Wasserpflanze eine Beute wahrnimmt und nun das Hindernis gezielt umgeht. Wie bringt er das fertig? Nun, er reagiert angeborenermaßen räumlich negativ auf die Pflanze (weg von da!) und positiv auf die Beute (dorthin!); sein Verhalten ist nichts weiter als das eindeutige Ergebnis beider Triebe.

"Aber - und dies ist der springende Punkt - von dieser einfachen Resultierenden aus zwei Taxien leiten nun alle denkbaren Zwischenstufen zu Verhaltensweisen empor, die eindeutig und allseits als einsichtig betrachtet werden. Zwischen dem Umweg jenes Fisches und der einsichtigen Methodik höchster Lebewesen besteht keine scharfe Grenze, sondern ein durchaus fließender Übergang. (62) ... Fragt man sich nun, welche Tiere auf ihren täglichen Wegen die kompliziertesten räumlichen Strukturen zu meistern gezwungen sind, so erhält man eine völlig eindeutige Antwort: es sind dies die Baumbewohner und unter ihnen wieder diejenigen, die nicht mit Krallen oder Haftscheiben, sondern mit zangenartig den Ast umfangenden Greifhänden klettern ... Hier müssen nicht nur die Richtung, sondern auch die Entfernung und überhaupt die genaue Lage, in der sich das Ziel des Sprunges darbietet, seine Dicke u. a.m. , vor dem Absprung ganz genau im zentralen Nervensystem des Tieres repräsentiert sein. Denn die Greifhand muß sich in einer ganz bestimmten Raumlage und genau im richtigen Augenblick schließen, weder im offenen Zustande noch auch zur Faust geballt kann sie haften (64 f) ... Es ist mehr als wahrscheinlich, daß das gesamte Denken des Menschen aus diesen von der Motorik gelösten Operationen im vorgestellten Raum seinen Ursprung genommen hat, ja, daß diese ursprüngliche Funktion auch für unsere höchsten und komplexesten Denkakte die unentbehrliche Grundlage bildet." (68)

Auch des Menschen umfassende Anpassungsfähigkeit, seine "Spezialisation auf Nicht-spezialisiert-sein" und seine Neugier, haben ihre tierischen Vorformen. Beim jungen Raben z. B. ist zunächst nichts festgelegt, außer einige Instinkthandlungen vielseitigster Verwendbarkeit. Die wendet er nun auf alle unbekannten Objekte an. Vorsichtig untersucht er jedes Ding, ob es ungefährlich und freßbar sei. Diese Neugier ist ein sehr starker Trieb: "Meine Kolkraben konnte ich, wenn alle stärksten Lockmittel, rohe Eier und lebende Heuschrecken, versagten, immer noch dadurch in ihren Käfig locken, daß ich meine - Kamera hinstellte, die sie aus naheliegenden Gründen noch nie untersuchen durften." Dieses Neugierverhalten ist nicht etwa auf Fressen aus, sondern sachbezogen! Denn "erstens hört das neugierige Forschen sofort auf, wenn das Tier ernstlich hungrig wird: in diesem Falle wendet es sich alsbald einer bereits bekannten Nahrungsquelle zu." (74) Zweitens wird mäßiger Hunger vom Forschtrieb überspielt: "Bietet man einem Jungraben, der eben eifrig beim Untersuchen eines unbekannten Gegenstandes ist, irgendeinen Leckerbissen an, so verschmäht er ihn fast stets. All dies bedeutet vermenschlichend ausgedrückt: das Tier will gar nicht fressen, sondern es will wissen, ob gerade dieser Gegenstand ‚theoretisch' freßbar sei!" (74) Was der Rabe solcherart gelernt hat, behält er auch und kann im Ernstfall darauf zurückgreifen. Das bedeutet aber: "Durch dieses Erlernen der den Dingen anhaftenden Eigenschaften, unabhängig vom augenblicklichen physiologischen Zustand und Bedarf des Organismus, wirkt das Neugierverhalten objektivierend in des Wortes buchstäblicher und gewichtigster Bedeutung. Erst durch das Neugier-Lernen entstehen Gegenstände in der Umwelt des Tieres wie des Menschen." 75) Das Tier tut also etwas, um etwas zu erfahren. In diesem Verhalten steckt bereits das Prinzip der Frage. Das Tier steht dadurch "in einem gewissermaßen dialogischen Verhältnis zur außersubjektiven Realität.

Man sieht, wie manches sogenannte "typisch menschliche" Verhalten keimhaft schon beim Tier auftritt. Fügt man in dieses Bild das oft tierhafte, eben "brutale" Verhalten von uns Menschen ein, dann fällt es nicht schwer, das unbekannte "Übergangsfeld zwischen Affe und Mensch", wenn schon nicht wissenschaftlich (das ist bei den kargen Anhaltspunkten unmöglich), so doch mit der Phantasie einigermaßen auszufüllen.

d) Für das wissenschaftlich geformte zeitgenössische Bewußtsein gibt es einen einzigen Begriff der Entwicklung, der auf die Einzelevolution und die Gesamtevolution entsprechend angewandt wird. Daraus folgt: Wie der Professor bruchlos, ohne bestimmten Punkt der Menschwerdung, aus der befruchteten Eizelle entsteht, deshalb ist auch in der Naturgeschichte ein solcher Punkt nicht nur unauffindbar sondern undenkbar. Man lasse schon den "homo faber" einen Menschen sein, weil er Werkzeuge herstellte - oder aber erst den "homo sapiens", weil er ein ausgebildetes Selbstbewußtsein hatte. In jedem Fall sind die Übergänge ebenso fließend wie beim seelischen Wachstum des Einzelnen vom träumenden Embryo zum hellbewußten Leser dieser Zeilen. "Adam", der erste Mensch, ist also für die Wissenschaft ein Unbegriff. Hat es aber einen ersten Menschen nicht gegeben, dann kann auch nicht Adam, der Mensch, sich vom Tier durch seine unsterbliche Geistseele unterscheiden:

"In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß eine scharfe Gegenüberstellung von Tier und Mensch im wissenschaftlichen Sinne seit Darwin, zumindest aber seit den neueren Primaten-Studien in Japan und Afrika nicht haltbar ist. Wenn wir bei objektiv feststellbaren Kriterien bleiben, dann hat ein Regenwurm mit einem Schimpansen unendlich viel weniger gemeinsam als letzterer mit dem Menschen. Wer dennoch Regenwurm und Schimpansen dem Menschen als "Tiere" gegenüberstellt, klassifiziert nach seinem durch Weltanschauung festgelegten Geschmack, nicht aber nach naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten. Wenn wir vorn Menschen sprechen, dann im Sinne einer Artbezeichnung. Auch wir stellen die Spezies Mensch in diesem Sinne oft anderen gegenüber, klammern sie aber keineswegs aus dem Tierreich aus, mit dem sie ja eine natürliche Verwandtschaft verbindet." [Irenäus EIBL-EIBESFELDT, Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung, München 1967, 448]

Aus all dem ergibt sich: Zu Unrecht belächeln heutige Christen die heftige Reaktion vieler Gläubiger des 19. Jahrhunderts auf die Abstammungslehre. Mag ihr Kampf gegen die Evolutionstheorie wissenschaftlich aussichtslos sein: dennoch ist ihr Einsatz für die ewige Bedeutung des Menschen aller Achtung wert. Uns ist es aufgetragen, sie nicht mehr gegen den Entwicklungsgedanken, sondern innerhalb seiner zu verteidigen.

Im Holländischen Katechismus ist das so versucht worden: "Natürlich muß die Menschheit einmal im ersten Menschen einen Anfang genommen haben. Wenn auch der Übergang, rein äußerlich betrachtet, allmählich verlief, so ist die Menschwerdung doch eine solch neue Daseinsweise gegenüber der des Tieres, daß einmal lebende Wesen nicht mehr ,etwas' sondern ,jemand' gewesen sein müssen. Dieser Ursprung ist jedoch für immer im Dunkel der Geschichte verschwunden." [S.14]

Von der Naturwissenschaft her ist diese Sicht unangreifbar; denn empirisch-natürlich haben Adams Vater und Adam dasselbe Wesen. Theologisch sagt sie mir aber nicht zu. Sie stimmt nicht zum Ganzen der Offenbarung. Sie vergißt - Adams Mutter! Wir wissen, wie der zweite Adam seine Mutter geliebt hat. Ist es da denkbar, daß Adam sich ewig im Himmel freut, während seine Mutter, die ihn geboren und aufgezogen hat, die ja von Natur her ihm völlig gleich war, trotzdem gerade noch keine Person und für immer im Nichts verloren sein soll? Indem Gott zum erstenmal ein Geschöpf in seine persönliche Partnerschaft ruft, soll er willkürlich alles Vorige abschneiden und dadurch dem ersten Menschen auf ewig das Liebste nehmen, seine Mutter? Wer so dächte, müßte am 15. August tief erröten!

2) Schwierigkeiten aus der Kybernetik.

Nicht nur seine Ahnen, auch die Kinder seines Hirns lassen den heutigen Menschen an seinem ewigen Werte zweifeln. Seele, was ist das noch? Bei Norbert Wiener, dem Pionier der Kybernetik, lesen wir: "Eines ist jedenfalls klar. Die physische Identität eines Individuums besteht nicht in der Materie, aus der es gemacht ist ... Vom Standpunkt der Rechenmaschine aus liegt die Individualität eines Geistes in der Bewahrung früherer Prägungen und der beständigen Entwicklung entlang vorgegebenen Linien Nichts spricht innerlich dagegen, daß ein lebendiges Individuum sich in zwei Individuen gable, welche dieselbe Vergangenheit teilen, aber mehr und mehr verschieden werden. Das geschieht bei eineiigen Zwillingen; es gibt aber keinen Grund, warum es nicht bei dem, was wir Geist nennen, geschehen könnte, ohne entsprechende Spaltung des Körpers ... Die geistige Identität, die für die kirchliche Sicht der Individualität der Seele nötig ist, sie existiert gewiß nicht in dem absoluten Sinn, welcher für die Kirche annehmbar wäre." [Norbert WIENER, The Human Use of Human Beings, 1950, 108 f.]

1952-58 hat ein perfekter Fall von Persönlichkeitsspaltung Wieners Hypothese furchtbar bestätigt: eine Amerikanerin lebte abwechselnd als zwei oder drei ganz verschiedene Frauen, anders in Gesicht, Stimme und ohne Identitätsbewußtsein! Eine war auf die andere neidisch und wollte selber "draußen sein", d.h. den Körper kontrollieren. [LIFE v. 19. 5. 1958,]

Im kybernetischen Horizont heißt Wirklichkeit soviel wie Information. Von der einfachsten Zelle bis zu Einsteins Gehirn gibt es einen fortschreitenden Zuwachs an artlicher und individueller Information. Die lyrischste Empfindung, der tiefste Gedanke ist de facto eine hochkomplizierte Information in einem Binär-Code, dessen Geheimnisse die Biochemiker mehr und mehr erforschen. Natürlich lassen sich die Extreme möglicher Informationsganzheiten - etwa eine kluge Verkäuferin einerseits, ihre Addiermaschine andererseits - nur unter dem leersten ) nichtssagendsten kybernetischen Allgemeinbegriff bringen; gehe ich aber von jener zu der einen Zelle zurück, aus der sie sich in zwanzig Jahren oder auch in Jahrmillionen entwickelt hat, und andererseits von dieser zu den Computern weiter, die die verwickeltsten Denk-Aufgaben lösen, ja sogar sich selbst programmieren: dann erscheint ein Vergleich schon eher möglich und man wundert sich am Ende nicht einmal mehr über die folgenden Sätze eines deutschen Kybernetikers: "Die Frage nach dem Bewußtsein der Maschinen ist vorläufig, möglicherweise sogar endgültig, nicht beantwortbar. Es gibt auch kein praktisches Problem, dessen optimale Lösung von der Beantwortung dieser Frage abhängt." [Karl STEINBUCH, Falsch Programmiert (Stuttgart 1968), 94]

Eine weitere extreme Folgerung daraus, daß der Mensch eine ungeheure Summe von Informationen ist, stammt wieder von Norbert Wiener; er meint, "daß es begrifflich möglich ist, einen Menschen durch die Telegrafenleitung zu senden", wenngleich das praktisch wohl nie durchführbar sein werde. [Norbert WIENER, Gott & Golem Inc. (Düsseldorf 1965), 58]

Kann aber ein Wesen, dessen Einheit nichts anderes als die stets neu auszubalancierende Ganzheit eines unermeßlich verzweigten Regelkreises von Regelkreisen ist, kann es sich ernsthaft für unvergänglich halten, obwohl das System eines nicht fernen Tages offenkundig zusammenbricht? "Die Seele ist die Form des Körpers" - dieser Satz der thomistischen Tradition wird also im kybernetischen Kontext zur mehr und mehr verbreiteten Behauptung, die Seele sei "nichts als" die Informationsstruktur des Körpers. So verstanden, ist der Begriff "Form" dem technischen Geist auf einmal wieder zugänglich, kann allerdings noch weniger als früher die Last der Ewigkeit aushalten:

"Nach der gewöhnlichen Natur-Analogie zu urteilen, kann keine Form fortdauern, wenn sie in einen Lebenszustand versetzt wird, der von dem ursprünglich innegehabten sehr verschieden ist. Bäume gehen im Wasser zugrunde, Fische in der Luft, Tiere in der Erde. Selbst eine so geringe Verschiedenheit wie die klimatische ist oft verhängnisvoll. Mit welchem Recht stellt man sich dann vor, eine solch unermeßliche Änderung, wie die Seele sie bei der Auflösung ihres Leibes und all ihrer Denk- und Fühlorgane erleidet, könne ohne Auflösung des Ganzen bewirkt werden?" [David HUME, Of the Immortality of the Soul; The Philosophical Works (London 1882) IV, 404]

Dasselbe anders gesagt:
"Stets hat das Bewußtsein sich mir nicht als Ursache, sondern als Produkt und Resultat des organischen Lebens gezeigt, indem es infolge desselben stieg und sank, nämlich in den verschiedenen Lebensaltern, in Gesundheit und Krankheit, in Schlaf, Ohnmacht, Erwachen usw. , also stets als Wirkung, nie als Ursache des organischen Lebens auftrat, stets sich zeigte als etwas, das entsteht und vergeht und wieder entsteht, so lange hiezu die Bedingungen noch da sind, aber außerdem nicht." [Arthur SCHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung, II. Bd. , 4. Buch, 41. Kap. Sämtliche Werke (Stuttgart/Frankfurt 1960) II, 600]

In der Tat: wenn der Mensch eine Art Supercomputer ist: wie soll sein informationelles Innenleben weitergehen, wenn einmal der Todesblitz alle Drähte und Transistoren zerschmolzen hat? Nicht einmal die leichte Funktionsminderung im Schlaf, noch weniger die Störung durch eine Ohnmacht wird vom Bewußtsein überdauert, erst recht nicht also die völlige Vernichtung des gesamten Apparates.

3) Das philosophische Problem

Die dargestellten fließenden Übergänge zwischen Mensch, Tier und Computer reißen den christlichen Glauben dadurch in die Krise, daß sie die bisherige Auslegung seiner Ewigkeitshoffnung unmöglich machen. Die unsterbliche Seele des Katholiken ebenso wie die aufzuerweckende Person des Protestanten waren deutliche Fixpunkte, in sich stehende Wirklichkeiten, "ungeteilt in sich und getrennt von allem anderen" wie die alte Definition des Individuums besagt. Diese Fixpunkte werden für das heutige Bewußtsein zusehends in den einen umfassenden Werdestrom eingeschmolzen, der das Sein der Welt ausmacht. Ähnlich wie der Tisch, an dem ich schreibe, sich für den Physiker aus einer Unzahl von ständig wechselnden Energiezuständen zusammensetzt, so darf es auch im zeitlichen Prozeß nichts Festes mehr geben. Aus Einzelwesen werden Wellen, Schwingungen -was für Schopenhauer eher noch ein Gleichnis war, erscheint uns bereits als exakter Begriff, der also das langsame biologisch-psychologische Geschehen ebenso erklärt wie die schnellen Vorgänge im Atom:
"Einem unvergleichlich länger lebenden Auge, welches mit einem Blick das Menschengeschlecht in seiner ganzen Dauer umfaßte, würde der stete Wechsel von Geburt und Tod sich nur darstellen wie eine anhaltende Vibration und demnach ihm gar nicht einfallen, darin ein stets neues Werden aus Nichts zu Nichts zu sehen; sondern ihm würde, gleichwie unserm Blick der schnell gedrehte Funke als bleibender Kreis, die schnell vibrierende Feder als beharrendes Dreieck, die schwingende Saite als Spindel erscheint, die Gattung als das Seiende und Bleibende erscheinen, Tod und Geburt als Vibrationen." [SCHOPENHAUER, ebd. 615]. Somit ist, was der Schlaf für das Individuum, der Tod für die Gattung - erquickende Pause:
"Die Sorgfalt mit der das Insekt eine Zelle oder Grube oder ein Nest bereitet, sein Ei hineinlegt nebst Futter für die im kommenden Frühling daraus hervorgehende Larve und dann ruhig stirbt gleicht ganz der Sorgfalt, mit der ein Mensch am Abend sein Kleid und sein Frühstück für den kommenden Morgen bereitlegt und dann ruhig schlafen geht - und könnte im Grunde gar nicht statthaben, wenn nicht, an sich und seinem wahren Wesen nach, das im Herbst sterbende Insekt mit dem im Frühling auskriechenden ebensowohl identisch wäre, wie der sich schlafen legende Mensch mit dem aufstehenden." [SCHOPENHAUER, ebd. 609]

"Außerhalb des Menschlichen" hält auch Karl Rahner diese Ansicht für wahrscheinlich:
"Man müßte zeigen, daß zwischen Wachstum desselben Organismus und seiner ihn in der raumzeitlichen Erscheinung multiplizierenden Fortpflanzung so fließende Übergänge sind, daß die erscheinungsmäßige Multiplikation desselben Organismus am besten als Erscheinen des einen und selben substantiellen Formprinzips an verschiedenen Raumzeitpunkten und nicht als substantielle Vervielfältigung der ‚Entelechie' gedacht wird." [OVERHAGE - RAHNER, ebd. 81, Anm. 16]

Schopenhauer ist radikaler: für ihn gibt es, wie auch für die Darwinisten, zwischen Tier und Mensch keinen so ungeheuren metaphysischen Sprung, daß die Form bei den Tieren allgemein-identisch, nur bei der Menschheit je einzeln wäre: was für jene recht ist, hat dieser billig zu sein. Er scheut nicht den Vergleich von Grab und Grube:
"Wie wir nun hiebei allezeit zufrieden sind, die Form zu erhalten, ohne die abgeworfene Materie zu betrauern; so haben wir uns auf gleicher Weise zu verhalten, wenn im Tode dasselbe in erhöhter Potenz und im ganzen geschieht, was täglich und stündlich im einzelnen bei der Exkretion vor sich geht: wie wir beim ersteren gleichgültig sind, sollten wir beim andern nicht zurückbeben. Von diesem Standpunkt aus erscheint es daher ebenso verkehrt, die Fortdauer seiner Individualität zu verlangen, welche durch andere Individuen ersetzt wird, als den Bestand der Materie seines Leibes, die stets durch neue ersetzt wird: es erscheint ebenso töricht, Leichen einzubalsamieren, als es wäre, seine Auswürfe sorgfältig zu bewahren." [SCHOPENHAUER, ebd I. Bd. 4. Buch § 54; (1, 383)]

Die stolze individuelle Geistperson - tiefer als in diesem Vergleich kann sie nicht mehr fallen, und doch entspricht er genau dem heutigen Empfinden. Wer Bilder von Auschwitz kennt, wer an die Massengräber von Kambodscha denkt, wie soll der jedes einzelne Menschenatom für unvergänglich halten?

4) Das Gegenprinzip: der Wert des Jetzt

Doch nicht nur Schreckliches erfüllt unsere Tage. Wer in einer freundschaftlichen Runde statt den anderen in die Augen ständig zum Fenster hinaus schaut, immer wieder einen Blick auf die Uhr wirft und überhaupt geistesabwesend wirkt, gleich als warte er nur auf ein Signal, um erleichtert auf und davon zu stürzen: der gilt als unhöflich und macht sich nicht beliebt.

Eben diese Haltung werfen viele den Christen vor. Sie seien der Erde nicht treu, weil sie ja doch immer schon heimlich an den Himmel dächten. Dagegen wehrt sich aggressiv ein verbreiteter Diesseitsstolz: alles komme darauf an, daß wir aus jedem Jetzt - für uns und andere - möglichst reichen Sinn schöpfen. Die jetzt-entfremdete Einstellung der Jenseits-Vernarrten hingegen vertue nur das einzige Leben, das uns geschenkt sei. Beim dritten Schluck Bier schon wehmütig ans leere Glas denken und zum Trost von Himmelsnektar träumen, welch erbärmliche Seelenschwäche. Nein! Genießt oder verschenkt, was ihr habt, und ist es vorbei, dann laßt unverkrampft los. Wehe aber dem, der unverdorbenen Kindern ihre Augenblicksvitalität madig und ihr Herz nach der Jenseits-Droge süchtig macht - dagegen muß ein anständiger Staat kämpfen ...

Diese letzte Folgerung wird im Westen (noch?) nicht gezogen; daß die genannte Stimmung aber auch im ehedem "christlichen Abendland" zusehends Wurzeln faßt, unterliegt keinem Zweifel. Auch bei Amtsträgern der Kirchen hat sie ihre Vertreter. "Wenn eine Oma im Sterben liegt und sich schon freut, daß sie gleich ihren Mann wiedersieht, dann kläre ich sie natürlich nicht auf", sagt ein angesehener Pfarrer. Im Unterricht hingegen mache er den jungen Leuten durchaus klar, was die Bibel mit dem "ewigen Leben" meine: "Wir wissen, daß wir vom Tod zum Leben hinübergeschritten sind, weil wir die Brüder lieben" (1 Joh 3,14). Nicht alle Anhänger der "rein präsentischen Eschatologie" sagen so offen, was sie denken. Beim persönlichen Gespräch aber erklärt dir so mancher Theologe genau, wieso die Idee einer postmortalen Existenz zwar verständlich, aber doch recht naiv, egoistisch und jedenfalls für einen gebildeten Christen völlig unwichtig sei.

Die Frage "was ist der Mensch?" tritt also heute weithin innerhalb eines Horizontes auf, in welchem für eine unvergängliche Fortdauer des Einzelnen von vornherein kein Platz scheint. Abstammungslehre, Kybernetik und die ihnen zugrunde liegende Werde-Philosophie können jede derartige Hoffnung nur als illusionären Traum eines in sich vernarrten Individuums ansehen. Zwischen Geburt und Tod liegt eine einzige Schwingung des Lebens - nicht aber indem sie zu ewiger Dauer gefriert, sondern dadurch, daß sie krampflos in die nächste übergeht, erfüllt eine Schwingung den Sinn ihres Seins. Wer das nicht sehen oder nicht annehmen kann, ist naiv.

Gegen dieses Grundgefühl vieler Mitmenschen einfach die alten Katechismussätze herzusagen hilft nicht weiter. Wer die Wahrheit des andern nicht erfaßt, wird seinen Irrtum nicht heilen. "Und es kommt nichts nachher" - was ist die Wahrheit dieses Bekenntnisses? Hilft die Einsicht uns weiter, daß auch bei einer Schallplatte nach der letzten Rille keine mehr kommt?

5) Am besten Schweigen

Die Nonne Khem, eine weisheitsberühmte Jüngerin Buddhas, wurde einst von König Pasenadi gefragt: Ist der Vollendete jenseits des Todes? Sie fragte dagegen, ob der König einen Zählbeamten habe, der das Wasser im Ozean zu messen vermöchte. Den habe er nicht. Darauf sie: "Der Vollendete, großer König, ist frei davon, daß sein Wesen mit den Zahlen der Körperwelt zählbar wäre; er ist tief, unermeßlich, unergründlich wie der große Ozean. Daß der Vollendete jenseits des Todes ist, trifft nicht zu; daß der Vollendete jenseits des Todes nicht ist, trifft auch nicht zu; daß der Vollendete jenseits des Todes zugleich ist und nicht ist, trifft auch nicht zu; daß der Vollendete jenseits des Todes weder ist noch nicht ist, trifft auch nicht zu." In Ehrfurcht neigte sich der König. [Samjutta-Nikaja IV, 374]

Ja, wovon man nichts wissen kann, davon soll man still sein. Gerade bei wahrhaftigen, feinfühligen Menschen begegnet uns diese Überzeugung. Ein redlicher Mensch macht keine Worte über das Geheimnis des Dann. Beweisen läßt sich hier grundsätzlich nichts, über Unbeweisbares groß zu tönen zeigt einen kleinen Geist. Warten wir’s ab, sagen die nicht so Frommen; wer an Gott glaubt, stimmt in hohen Momenten Simone Weil zu: "Meine Sache ist es, mich um Gott zu kümmern, Gottes Sache ist es, sich um mich zu kümmern."

Diese Haltung ist großartig und steht Einzelnen, die zu ihr berufen sind, wohl an. Die Kirche darf nicht so sprechen. Nicht nur von ihrem grenzenlosen Vertrauen hat sie Zeugnis zu geben, auch von ihrer Osterhoffnung. Nicht jeder Christ muß jede Glaubenswahrheit von innen heraus weitersagen (solche Nivellierungssucht war der Fehler der inquisitorischen Kirche von gestern). Doch muß es in der Kirche stets auch die klare Sprache der Hoffnung geben, ansteckend für die Vielen.

Ein anderer Einwand gegen das „redliche Schweigen" bezieht sich nicht auf die Kirche, sondern auf die Gesellschaft. Könnte diese Einstellung nicht mit ein Grund für das Tabu sein, womit man sich bei uns vor dem Tod abschirmt? Das Sterben wird aus den Wohnungen abgedrängt, Leichenwagen fahren vorwiegend nachts. Muß nicht, wer jedes Dann nur beschweigt, auch das Sterben möglichst ausblenden? So ehrenwert jenes Schweigegebot zunächst auch scheint: für alle taugt es nicht. Sich einer Erfahrung mutig aussetzen, obwohl jeglicher Verständnisversuch von vornherein sinnlos ist, das bringen nur wenige fertig. Tapfer an den Tod zu denken, ohne nach seinem Sinn für mich ganz persönlich zu fragen, das übersteigt die normale menschliche Kraft. Wer aber fragt, der muß auch verschiedene Antworten abwägen dürfen.

Soweit ich sehe, sind die heute verbreitetsten Antworten auf die uralte Frage was dann: Entweder etwas kommt nachher oder nichts, oder es bleibt das Gewesene, oder statt des Jenseits kommt ein weiteres Leben diesseits, oder man redet von der ganzen Frage klugerweise überhaupt nicht. Alle diese Einstellungen haben ihre Vertreter. Was sage ich ihnen als Christ?


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