Jürgen Kuhlmann

Man sieht nur mit dem Herzen gut.

Anlaß: Der fünfzigste Todestag des Dichters Antoine de
Saint-Exupéry am 31. Juli 1994
Kernaussage: Seine Botschaft geht alle an, den Christen
hilft sie gegen die Versuchung unreifer Religiosität.
Kurzinhalt: Sein Absturz - der kleine Prinz - dessen Krise -
Weisheit des Fuchses - wir Menschen gestalten Gott mit.
Ziel: Der Hörer freut sich über seine "Zähmung" durch Gott.

Vor fünfzig Jahren, am 31. Juli 1944, startete um 8.30 Uhr in Korsika ein Flugzeug zu einem Aufklärungsflug über die Gegend östlich von Lyon. Obwohl das offizielle Höchstalter für Piloten dieser Maschine 30 Jahre betrug, war der einzige Insasse bereits 44. Seine Vorgesetzten hatten ihm, auf seine dringenden Bitten hin, nach acht solchen Flügen noch einen neunten, letzten erlaubt. Es wurde der allerletzte: Antoine de Saint-Exupéry ist nicht zurückgekehrt und nie gefunden worden. Abschuß durch einen deutschen Jäger? Panne über dem Meer? Man wird es nie wissen. [Zusatz 2009: Inzwischen weiß man mehr. Einem aufmerksamen Leser verdanke ich den Hinweis: Im Jahr 2000 entdeckte Luc Vanrell Teile der Maschine auf dem Grund des Mittelmeers nahe der Île de Riou, die im Herbst 2003 geborgen wurden. Die im Turbolader eines der beiden Motoren eingravierte Nummer "2734" identifiziert das Wrack als Flugzeug von Saint-Exupéry. Die Wrackteile wurden im Juni 2004 dem Musée de l'Air et de l'Espace in Le Bourget übergeben und sind zusammen mit dem 1998 gefundenen Silberarmband dort ausgestellt. Der deutsche Jagdflieger Horst Rippert hat bestätigt, dass er als Angehöriger des JG 200 die Maschine Saint-Exupérys abgeschossen hat und dies sehr bedauert.] Ohne Abschied ist der Dichter zuletzt in dasselbe Geheimnis zurückgekehrt wie sein liebenswertestes Geschöpf. Auch der Körper des kleinen Prinzen wurde "nicht wiedergefunden". In seinem letzten Brief vor dem Abflug hatte Saint-Exupéry noch an einen Freund geschrieben: "Sollte ich abgeschossen werden, werde ich rein gar nichts bedauern. Vor dem künftigen Termitenhaufen graust mir. Und ich hasse ihre Robotertugend. Ich war dazu geschaffen, Gärtner zu sein."

Diese Bestimmung hat er erfüllt. Eines seiner geistigen Saatkörner ist besonders prächtig aufgegangen: eben die Erzählung vom kleinen Prinzen. Angefangen hat es mit ihr 1942 an einem Restauranttisch in New York. Saint-Exupéry kritzelte auf dem weißen Tischtuch; ein Verleger, der dabeisaß, fragte, was er da zeichne. "Ach, nicht viel," war die Antwort, "nur ein Kerlchen, das ich in meinem Herzen herumtrage." Warum er um das Kerlchen herum nicht eine Geschichte schreibe, schlug der andere vor, für ein Kinderbuch.

Ein Satz aus diesem Buch ist schon zum Sprichwort geworden: "Man sieht nur mit dem Herzen gut," so offenbart der Fuchs dem Prinzen das, was er sein "Geheimnis" nennt. An dieser Botschaft lag dem Dichter viel; nicht umsonst spricht er noch in den letzten Zeilen seines Lebens vom "Termitenhaufen". Wie überwinden wir dessen sinnloses Gewimmel, wodurch ist oder wird ein Mensch mehr als eine Termite? Lernen wir vom klugen Fuchs. Als er den Prinzen traf, steckte dieser in einer Lebenskrise. Seine Freundin war eine Rose, die einzige Rose auf seinem winzigen Heimatplaneten. Diese Gewißheit gab ihm Mut. Dann lesen wir: "Da war ein blühender Rosengarten. 'Guten Tag', sagten die Rosen. Der kleine Prinz sah sie an. Sie glichen alle seiner Blume. 'Wer seid ihr?' fragte er sie höchst erstaunt. 'Wir sind Rosen', sagten die Rosen. 'Ach!' sagte der kleine Prinz. Und er fühlte sich sehr unglücklich. Seine Blume hatte ihm erzählt, daß sie auf der ganzen Welt einzig in ihrer Art sei. Und siehe!, da waren fünftausend davon, alle gleich, in einem einzigen Garten! ... Ich glaubte, ich sei reich durch eine einzigartige Blume, und ich besitze nur eine gewöhnliche Rose. Und er warf sich ins Gras und weinte." ...

Es bestand also die Gefahr, daß aus dem Prinzen und seiner Rose zwei verdrossene Termiten würden. Zum Glück erschien da der Fuchs und erklärte dem Prinzen, was "Zähmen" ist, d.h. "Sich-vertraut-Machen": "Noch bist du für mich nichts als ein kleiner Junge, der hunderttausend kleinen Jungen völlig gleicht. Ich brauche dich nicht, und du brauchst mich ebensowenig. Ich bin für dich nur ein Fuchs, der hunderttausend anderen Füchsen gleicht. Aber wenn du mich zähmst, werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzig sein in der Welt. Ich werde für dich einzig sein in der Welt.' 'Ich beginne zu verstehen', sagte der kleine Prinz. 'Es gibt eine Blume ... ich glaube, sie hat mich gezähmt...' 'Das ist möglich' sagte der Fuchs. ...

Mein Leben ist eintönig. Ich jage Hühner, die Menschen jagen mich. Alle Hühner gleichen einander, und alle Menschen gleichen einander. Ich langweile mich also ein wenig. Aber wenn du mich zähmst, wird mein Leben wie durchsonnt sein. Ich werde den Klang deines Schrittes kennen, der sich von allen anderen unterscheidet. Die anderen Schritte jagen mich unter die Erde. Der deine wird mich wie Musik aus dem Bau locken. Und dann schau! Du siehst da drüben die Weizenfelder? Ich esse kein Brot. Für mich ist der Weizen zwecklos. Die Weizenfelder erinnern mich an nichts. Und das ist traurig. Aber du hast weizenblondes Haar. Oh, es wird wunderbar sein, wenn du mich einmal gezähmt hast! Das Gold der Weizenfelder wird mich an dich erinnern. Und ich werde das Rauschen des Windes im Getreide liebgewinnen.' Der Fuchs verstummte und schaute den kleinen Prinzen lange an: 'Bitte ... zähme mich!' sagte er."

Später "ging der kleine Prinz, die Rosen wiederzusehn: 'Ihr gleicht meiner Rose gar nicht, ihr seid noch nichts', sagte er zu ihnen. 'Niemand hat sich euch vertraut gemacht, und auch ihr habt euch niemandem vertraut gemacht. ... Ihr seid schön, aber ihr seid leer', sagte er noch. 'Man kann für euch nicht sterben. Gewiß, ein Irgendwer, der vorübergeht, könnte glauben, meine Rose ähnle euch. Aber in sich selbst ist sie wichtiger als ihr alle, da sie es ist, die ich begossen habe ... Da sie es ist, deren Raupen ich getötet habe (außer den zwei oder drei um der Schmetterlinge willen). Da sie es ist, die ich klagen oder sich rühmen gehört habe oder auch manchmal schweigen. Da es meine Rose ist."

Deshalb sieht man nur mit dem Herzen gut, nicht weil das Herz eine Art Röntgenauge besäße, mit dem es irgendein verborgenes Wesen hinter den Dingen erkennen könnte. Keine Hinterwelt spendet uns den lebensnotwendigen Sinn, nur diese "Erde der Menschen" (so heißt, im Original, das Buch "Wind, Sand und Sterne"), wenn wir jeden Tag neu unser Herz an sie setzen. So formen sich allmählich Kraftlinien in der Wüste. Sonst Gleichgültiges wird mit bedeutsamen Erinnerungen aufgeladen; sie bleiben nicht in der Vergangenheit zurück, sondern bilden, als lebendige Prägungen, miteinander jenes Herzensauge, das allein die einmalige Wahrheit der Menschen und Dinge sehen kann, wo einem fremden Blick nur wimmelnde Termiten erscheinen.

War Saint-Exupéry ein Christ? Nur Gott kennt die Antwort. Fragen wir lieber anders: Welche göttliche Wahrheit können Christen von ihm lernen? In seinen Notizen wendet er sich einmal an einen Dominikaner: "Durch das Christentum sind wir, was wir sind, und wir sind es - das wissen wir - für das Christentum. Wir wissen, daß wir Gott in unseren Bedürfnissen, unserer anscheinend so spontanen Geistigkeit, in uns selbst, im Weltall wiederfinden werden ... Und wir nennen das Wahrheit. Ja, aber Wahrheit in uns und nicht außerhalb unseres Ich. Gott ist wahr, aber vielleicht von uns erschaffen."

Das geht frommen Ohren schwer ein - und ist doch exakt das Gegengift wider religiöse Selbstentfremdung. Oft erblickt die kirchliche Seele ihren Gott nur als Jemanden anderen, der längst schon da ist und über sie herrscht. Das ist wahr, aber nur ein offenbarter Pol. Den anderen, ohne den Religion zu Engherzigkeit entartet - denken wir an den älteren Sohn in Jesu Gleichnis! - finden wir bei Saint-Exupéry. Gott lebt ebenso in unserem Ich (vgl. Gal 2,20) und nimmt insofern auch durch unsere Entschlüsse, Taten, Leiden seine ewige Gestalt an: "Bis Christus in euch gestaltet worden ist" (Gal 4,19) - was Paulus so klar wußte, ist in der Christenheit allzusehr an den Rand geraten. Nehmen wir deshalb die Botschaft des unkirchlichen Propheten demütig an. "Ein Stück Rinde weiß nichts vom Baum, den es mit anderen bildet ... So weißt du nichts von Gott" (Die Stadt in der Wüste, Nr. 72). Auch für seine Gläubigen bleibt Gott der unbegreifliche Horizont, der alles umschließt, und die unmittelbar in jedem Wesen sprudelnde Sinnquelle. Um so dankbarer dürfen wir uns freuen, daß Gott uns "gezähmt", d.h. sich uns, in Jesus, freundschaftlich vertraut gemacht hat.

Ehren wir das Andenken dieses gütigen, tapferen Menschen; lesen und empfehlen wir seine Bücher. Sie gehören zu dem, was von unserem Jahrhundert bleibt.


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