Jürgen Kuhlmann

Wo kämen wir da hin?

Gesetz und Freiheit im konkreten Handeln

Zwei Szenen

In einer neunten Mädchenklasse: "Herr Lehrer, sind Sie dagegen, daß wir Sie duzen?" "Nein." "Also erlauben Sie es uns?" "Nein." "Wie, Sie verbieten es dennoch?" Nein." "Das verstehen wir nicht." "Bitte überlegt einmal: Die Schulordnung ist dagegen; wollte ich es Euch erlauben, müßte der Direktor es verbieten. Wo kämen wir hin, wenn jede Rotznase die Lehrer duzen könnte. Aber ich persönlich habe nichts dagegen und verbiete es deshalb auch nicht. Wißt Ihr, eine Freiheit läßt man sich nicht geben; man nimmt sie sich; sonst ist es keine Freiheit." Damals, um 1970, traute sich keines der Mädchen, mich zu duzen.

Acht Jahre vorher. Ich war in Rom, zum Gespräch bei P. Hürth SJ. Er galt als einer der großen alten Männer der päpstlichen Universität Gregoriana. Er hatte, so hieß es, maßgeblichen Anteil an der Ehe-Enzyklika Casti Connubii Papst Pius' XI. Das Gespräch fand wenige Monate vor seinem Tode statt. Dabei sagte er mir ungefähr folgendes: "Wer leugnet, daß es Ehen gibt, die eigentlich gar keine Ehen mehr sind, der leugnet Tatsachen. Versuchen wir aber einmal, uns auf Gottes Standpunkt zu stellen. Was geschähe, wenn er eine Scheidung dieser mißlungenen Ehe zuließe? Dann würden soundsoviele junge Ehepaare bei der ersten schweren Krise, statt sie zu bestehen, gleich an Scheidung denken. Und aus der Möglichkeit der Scheidung würde ihre häufige Tatsächlichkeit entspringen. Wo kämen wir da hin! Deshalb hat Gott es in seiner Weisheit anders geregelt." Soweit P. Hürth.

Ein jüdisches Lob des Gesetzes

Betrachten wir das Problem einmal aus ungewohnter Sicht. Wohl jeder Student der Moraltheologie und auch jeder andere, der mit ihren subtilen Unterscheidungen in Berührung kommt, gewinnt irgendwann den Eindruck, die ganze ausgefeilte Kasuistik rieche doch sehr nach längst überwundener jüdischer Gesetzlichkeit. Daß die aber geistlos und menschenunwürdig ist, steht für einen Christen - noch bevor er sich persönlich damit beschäftigt hat - von vornherein fest. Hat Jesus nicht mit Vorliebe am Sabbat geheilt, um die buchstabenversklavten Pharisäer zu provozieren?

Um so überraschter war ich neulich, als ich auf folgenden Text aus jüdischer Feder stieß: "Alle Religionen sprechen von der Güte, Gerechtigkeit und Liebe im Allgemeinen. Das Judentum konkretisiert und spezifiziert. Gerechtigkeit zum Beispiel bedeutet, nur einen Satz Gewichte zu besitzen, sich nicht bestechen zu lassen ... Man liebt seinen Nächsten, wenn man ihm mit seiner Last hilft und ihm seine verirrten Tiere wieder zurückbringt. Man sorgt für die Armen, wenn man ihnen die Nachlese auf dem Feld und im Weinberg überläßt ... Das Zeremoniell ist das Mittel, durch welches das Spüren der Anwesenheit Gottes ins tägliche Leben eindringt. Wie immer es demnach im einzelnen aussehen mag, seine Gesamt-Absicht ist moralisch. Ähnlich besteht Sittlichkeit nicht darin, den Mund mit abstrakten Prinzipien vollzunehmen, sondern in bestimmter Weise zu handeln. Die sittlich auferlegten Pflichten sind spezifischer Art und deshalb in gewissem Sinn zeremoniell. Denn das Leben ist eine alltägliche Angelegenheit. Es vollzieht sich in bestimmten Handlungen. Wenn aber Handlungen keinen Rhythmus oder kein Muster haben, sind sie Ursache von Unordnung und Unzufriedenheit. Die Kunst des Lebens besteht darin, in das wahllose Durcheinander von Gefühlen, Leidenschaften, Trieben, Emotionen und Phantasie, die das Rohmaterial unseres Lebens ausmachen, eine Form zu bringen. Wenn dies für unser Leben als Individuum gilt, dann gilt es noch mehr für unser Zusammenleben in Gruppen und im sozialen Ganzen ... Wie der wöchentliche Sabbat den Menschen gemahnt, daß er nicht ein bloßer Arbeitssklave ist, so hilft ihm die Abstinenz von bestimmten Nahrungsmitteln und eine überlegte Verzögerung ihrer Zubereitung, sich nicht als bloßes Tier zu benehmen, nicht gleich im Augenblick des Verlangens gierig zuzugreifen. Speisegesetze und tägliche Gebete fördern nicht weniger als Sabbat und Versöhnungstag ein qualitatives und sinnvolles Leben. Sie erheben die Trivialität des Alltags zum fortwährenden Gottesdienst."[Roth, Leon, Judentum, in: Lachmann, F. R., Die jüdische Religion, Kastellaun 1977, 55-59]

So überzeugend nun diese positive Innensicht des Judentums leuchtet, so wehmütig manche Leser wohl an die ähnlich hilfreiche Geschlossenheit des Katholizismus von ehedem zurückdenken - wahr bleibt gleichfalls, daß der geistvollste Gesetzesrahmen stets auch zum bedrückenden Buchstabendienst verleiten kann, demgegenüber das Freiheitspathos Jesu, der Urchristen und auch der heute Progressiven berechtigt ist: "Der Sabbat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Sabbats willen" (Mk 2,27). Aber nur dann kann der Sabbat gelten und somit für den Menschen da sein, wenn er grundsätzlich der Willkür des Menschen entzogen ist und es folglich dem Menschen immer wieder so vorkommen muß, als sei doch er für den Sabbat da. Je mehr die junge Kirche aus einer freiheitsbewußten Gegengruppe zum neuen Gottesvolk heranwuchs, um so mehr verlagerte sie den Akzent von der Freiheit auf die Ordnung. Doch kann, was am Anfang gut war, jetzt nicht nur schlecht sein. Wie verhalten sich für einen überzeugten Katholiken im Konfliktfall kirchliche Ordnung und persönliche Gewissensfreiheit zueinander?

Biologisches, soziales und göttliches Heil

Unterscheiden wir an der Kirche zweierlei: sie ist Volk Gottes, und sie ist Leib Christi. Um rundum glücklich zu sein, muß jemand auch voll zu seinem Volk gehören, an dessen Leben ohne Einschränkung teilnehmen dürfen. Denn der Mensch ist ebenso tief Individuum wie Glied des sozialen Ganzen. Wer je am Rand oder gar außerhalb seiner Bezugsgruppe stand, kennt die verzehrende Sehnsucht, dabei zu sein, dazuzugehören. Bei sogenannten "primitiven" Völkern, so berichtet man, führt der bloße Ausschluß aus der Gemeinschaft zum Tod des einzelnen.

Wer durch Taufe und Glauben Glied der Kirche ist, für den bedeutet die volle Zugehörigkeit zur Kirche ein wesentliches Stück des eigenen Wohlseins. Ähnlich wie von biologischer Gesundheit kann man auch von juristisch-soziologischer Gesundheit sprechen. Ihrer erfreut sich z. B. der Katholik nach einer guten Beichte, wenn er überzeugt sein darf: jetzt lebe ich in Frieden mit dem Volk Gottes, gehöre ganz dazu. Der soziale Friede ist ein Wesensstück des Menschen.

Unendlich tiefer als die biologische oder soziologische Gesundheit reicht für den Christen die göttliche Gesundheit, das Heil. Körperlich beschwerdefreie Menschen ebenso wie sozial Integrierte können zuinnerst unheil sein; umgekehrt gibt es leiblich oder gesellschaftlich Kranke, die in Gottes Heil leben. In dieser Dimension heißt die Kirche Gemeinschaft der Heiligen oder Leib Christi.

Die begriffliche Unterscheidung der drei Heilsdimensionen darf uns aber nicht zu ihrer Trennung verleiten. Leibliche, gesellschaftliche und göttliche Gesundheit sind zwar nicht schlechthin dasselbe, fallen aber auch nicht beziehungslos auseinander. Das zeigt sich schon sprachlich: "heil-heilig", "health-whole". Auch Wörter wie "Kranken-Salbung" oder "Sozial-Medizin" zeigen an: das volle Heil soll, in verschiedenen Dimensionen, eines sein. Wie stehen die drei Dimensionen aber zueinander in Beziehung?

Einmal in der Beziehung von Ursache und Wirkung. Mein Hausarzt meint, über die Hälfte der Krankheiten seien seelisch, d. h. meist: gesellschaftlich verursacht. "Dein Glaube hat dich geheilt", sagt Jesus im Evangelium und muß der verblüffte Arzt von Lourdes anerkennen.

Eine andere Beziehung ist die von Sinn und Zeichen. Leibliche Gesundheit wie soziales Wohlbefinden sind Zeichen, bedeuten das absolute göttliche Heil, ähnlich wie der Ehering den Liebesbund bedeutet.

Beide Beziehungen, die von Ursache und Wirkung ebenso wie die von Sinn und Zeichen, gelten freilich nicht einfachhin und überall; die heile Welt gibt es nur im Kitschroman. In der Wirklichkeit finden sich alle möglichen Varianten gestörter Beziehungen zwischen den Heilsdimensionen. "Es gibt Schafe drinnen und Böcke draußen", wußte schon Augustinus. Auch hier ist die Formel des Konzils von Chalkedon (451 ) wie ein goldener Schlüssel. Chalkedon lehrt von Jesus, daß er Gott und Mensch ist, zwei Naturen "unvermischt und ungetrennt". Übertragen auf unser Anliegen: leibliches, soziales und göttliches Heil sind unvermischt und ungetrennt. "Ungetrennt": was auf einer Ebene gesund ist, gilt auch für die anderen Ebenen der Einheit. "Unvermischt": die negative Besetzung auf einer Ebene darf nicht einfachhin auf alle anderen Ebenen durchschlagen. Körperbehinderte (biologisch negativ besetzt) z.B. sollen nicht auch sozial am Rande stehen. Einem Strafgefangenen (sozial negativ besetzt) steht Hilfe zu, wenn er an seiner Situation erkrankt. Und vor allem: der leidvolle, sozial mißlungene Zustand eines "schwarzen Kirchenschafes" darf dieses nicht an seinem persönlichen Heil und an Gottes stets anwesender Gnade verzweifeln lassen.

Der glühende Ehering

Damit sind die Kategorien erarbeitet, das aufgeworfene Problem näher anzugehen. Was ist zu tun, wenn in einer schwierigen Situation die katholisch-soziale und die göttliche Heilsdimension deshalb einander widerstreiten, weil der tiefe Sinn, der bei uns sozialen Leibwesen an sich die Greifbarkeit des Zeichens erreichen will, im Einzelfall dieses Zeichen verbietet? Mit dem Himmelreich ist es wie mit Eheleuten, die einander schworen, niemals ihren Trauring abzulegen. Eines Tages aber mußte der Mann an einer starken Batterie hantieren. Daß Gold den Strom leitet, war ihm klar; trotzdem blieb er treu, wie er "treu" verstand. Wirklich geriet er mit dem Ring in den Stromkreis (dieser Teil der Geschichte ist tatsächlich passiert!). Als er seiner Frau den verbrannten Finger zeigte, sagte sie: "mein Dummerchen".

Die Parabel lehrt: Wenn die Verwirklichung eines Zeichens dem inneren Sinn des Zeichens widerspricht, hat sie zu unterbleiben; das Zeichen würde sonst zur Lüge.

Meine These ist nun: das soziale Heil des Katholiken, die Übereinstimmung seines Lebens mit der Ordnung des Volkes Gottes, ist ein (grundsätzlich notwendiges) Zeichen für sein göttliches Heil, für die Zugehörigkeit zum Leib Christi.

Gott will die körperliche Gesundheit des Menschen; niemand darf sich willkürlich ein Bein abhacken. So will Gott auch das soziale Heil und erwartet, daß ein Katholik sich um den Frieden mit seiner Kirche bemüht - nicht nur wegen des "Heils" des einzelnen, sondern weil die Kirche, "das unter den Völkern aufgerichtete Zeichen", für diese Völker, aufs Ganze gesehen, heilsnotwendig ist.

Doch leben nicht auch Einbeinige in der Gnade? Übertragen: wenn in einem bestimmten Fall (der nur vom konkreten Gewissen bewertet werden kann) der Gehorsam gegen die allgemeinen Kirchenregeln (in denen sich Gottes Heil niedergeschlagen hat) eine unverantwortbare Lieblosigkeit wäre, was dann? Wo solche Fälle sich verobjektivieren und verallgemeinern lassen, kann die Moraltheologie leicht eine Antwort geben: die Mutter, die ihr krankes Kind pflegen muß, ist von der Sonntagspflicht befreit; denn der Sinn des liturgischen Zeichens ist die unbedingte Liebe - und dieser Sinn geht seinem Zeichen vor.

Das formale Prinzip "Gewissen vor Gesetz" gilt aber auch dann, wenn ein Fall wegen der Gefahr der Verallgemeinerung und Rückkopplung - "wo kämen wir da hin?" - nicht mehr inhaltlich entfaltet und verallgemeinert werden kann. Hier scheint etwas Ähnliches zu gelten wie in der Physik die Heisenbergsche Unschärferelation: zu genaues Bestimmen verfälscht das zu Bestimmende - (zu) lautes Bedenken verfälscht das Bedachte. Deshalb muß ich mich jetzt auch aller Beispiele enthalten. Würden Beispiele in der Objektivation der Sprache ausgebreitet, dann hätten es die Bösen noch leichter, gezielt auf solche schlimme Grenzsituationen hinzuarbeiten; für die Laxen würde sich der Grenzbereich der Entscheidung zusehends ausdehnen. Wo ein Mensch im Gewissen überzeugt ist, daß etwas in der sozialen Ordnung Verbotenes hier und jetzt für ihn dennoch zu tun sei, da braucht er keine Stütze. Wenn einer die Stütze noch braucht, dann ist die Instanz, die dies verlangt, vermutlich nicht sein inneres Gewissen, sondern Selbstsucht, oder das Über-Ich, oder etwa (wie es die Transaktionsanalyse benennt) das Eltern-Ich.

Mir scheint: mag das Gewissen in seinem Werden und seiner Entfaltung noch so vielfach abhängig sein (von Lehre, von Gesellschaft, von Eltern usw.) - in seinem aktuellen Vollzug ist es die Stimme Gottes, und damit gleich weit entfernt von einer bloß egoistischen Autonomie (die der jüngere Sohn im Gleichnis vom verlorenen Sohn provokativ lebte) wie von einer bloß heteronomen Über-Ich-Steuerung (beim älteren Sohn im Gleichnis!). Auf sein Gewissen zu hören, ist deshalb ein lebenslanger Reifeprozeß zwischen Entfremdung und Selbstsucht.

Im Angesicht des Jüngsten Tages

Läuft das alles aber nicht auf die von der Kirche (1956) verworfene Situationsethik hinaus? Heute bezweifelt kaum noch jemand, daß in der konkreten Situation einer Entscheidung Faktoren ins Spiel kommen, die das überschreiten, was man in allgemeinen Gesetzen und Sätzen aussprechen kann; etwas also, das nur die Klugheit des einzelnen sittlich bewerten und entscheiden kann. Aber "das Urteil der Klugheit besagt nie etwas gegen die Allgemeingültigkeit der Grundsätze".[Häring, Bernhard, Das Gesetz Christi, Freiburg 1959, 316]

Mir scheint: falsch ist eine Situationsethik, die im Grunde weltlos ist, wenn sie das einzelne aus dem Gesamtzusammenhang von Gesetzen und Einsichten herauslöst und so tut, als habe der Augenblick der Entscheidung mit den Gesetzen Gottes und der Kirche nichts zu tun, als stünde dieser Augenblick in sich wie ein Freiheitsatom. Ich bin und bleibe ein Element des Ganzen und alles, was ich tue, muß im Zusammenhang des Ganzen verantwortet werden. "Aller Dinge Einheit ist Gott", schreibt Nikolaus von Cues. Die sittliche Frage einer Situation ist also vom Licht des Ganzen her zu beurteilen. Ich habe mich sehr wohl nach den Prinzipien der moralischen Welt zu richten, die ich vor aller Welt - christlich gesprochen: im Angesicht des Jüngsten Gerichts - bekennen muß.

Aber die Geltung der moralischen Prinzipien über jede Situation hinaus ist eines, ihre Anwendung auf eine konkrete Situation ist etwas anderes. Bei der Frage ihrer Geltung muß jeder, der im Namen oder mit Billigung der Kirche spricht, noch den fatalen Rückkopplungsmechanismus dazu berücksichtigen -" Wo kämen wir sonst hin?" - und darf keine objektiv erlaubten Ausnahmen konstruieren, die dem Laxismus Tor und Tür öffneten. Sonst könnte jemand nach der gierigen Lektüre eines pastoral noch so ausgewogenen Euthanasie-Fachartikels hergehen und dem todkranken Großvater vorschlagen: "Schau her, Opa, sogar die Kirche gibt zu, daß man - unter gewissen Umständen wie durch einen aufreibenden Dienst an Kranken - sein Leben verkürzen darf. Wäre es nicht vernünftiger, da du sowieso am Leben keinen rechten Spaß mehr hast und unser schönes Erbe nun an Ärzte und Apotheken verschwendet wird, daß wir ..." Man sieht, jeder Versuch, das von der Situationsethik gestellte Problem mittels allgemeiner Sätze und allgemein gültiger Grundsätze zu lösen, öffnet dem Mißbrauch Tür und Tor. Beim Thema Lügen heißt das Prinzip: Du darfst niemals lügen. Beim Thema Liebe heißt der Grundsatz: Du darfst niemals lieblos sein. Was aber ist zu tun, wenn Wahrheit und Wahrhaftigkeit lieblos wären? Wer in einer solchen Situation steht, muß auf alle Prinzipien und Einsichten der Moral achten - nur helfen sie ihm im Augenblick nicht weiter. Das Denken in allgemeinen Grundsätzen stößt an seine Grenze. Jetzt ist eine konkrete Beurteilung der Rangordnung der Prinzipien gefragt. Steht jetzt konkret die verläßliche Wahrhaftigkeit (in der ich dem Todkranken die Wahrheit sage) oder der Lebensmut des Kranken, aus dem sich noch Hoffnung auf Überwindung der Krankheit auftut (indem ich ihm seine Lage verberge) höher? Sobald ich in solcher Situation stehe, tun sich Fragen über Fragen auf. Die existentielle Wahl der konkreten Rangordnung darf aber weder vom Zuspruch irgendeiner öffentlichen Meinung her noch in Eigenwillkür erfolgen; sie kommt einzig Gott und dem ihm zugewandten Gewissen zu - dem Gewissen des einzelnen oder dem einer lebendigen Gruppe. Wer Gott um das Brot seiner Weisung bittet, dem gibt er keinen Stein. Aber wir wissen alle, daß ein solches Gewissensurteil oft nur nach hartem, innerem Ringen und nach vielen ehrlichen Gesprächen von Gott her geschenkt wird.

Sollte sich jemand im konkreten Fall gegen die (kirchliche, staatliche oder sonstige) Ordnung entscheiden müssen, dann hat er über die Gewissensverantwortung vor Gott hinaus alles zu tun, um jede Rückkopplung möglichst zu vermeiden. Der Gewissensfreiheit müssen Diskretion und Verantwortung vor dem gültigen Sittengesetz entsprechen. Denn erst beim Jüngsten Gericht, wenn vor Gott alles aufgedeckt dasteht, verliert die Frage "Wo kämen wir da hin?" ihre Aktualität. In der auf Erden weiterlaufenden Geschichte aber bin ich an den auflösenden, zerstörerischen Folgen meiner Taten mit schuld, hätte ich sie durch mehr Vorsicht und Rücksicht verhindern können.

Nicht zu viel fragen

Wenn Sinn und Zeichen, göttliches und soziales Heil, auseinanderbrechen, geht die Mahnung, den Sinn und das göttliche Heil dem Zeichen und dem sozialen Heil vorzuziehen, nicht nur an die Kirche (z.B. beim Beichtgespräch zwischen Priester und Gläubigen, wo der Priester im Zeichen der Kirche den Sinn Gottes vertreten muß). Sie geht auch an den Betroffenen selbst. Zugleich auf einem Nebenweg und auf der breiten Straße mit allen Gläubigen wandern zu wollen, ist zu viel verlangt. Hier stehen wir vor der - jüngst wieder bekräftigten - Zurückhaltung der Amtskirche in der "Geschiedenenpastoral". Es ist "dein" göttliches Recht, das zu tun, was du in Gewissensverantwortung vor Gott zu tun hast; aber ein anderes ist die soziale, womöglich feierliche Bestätigung dieses deines Rechtes durch die Rechtsgemeinschaft derer, gegen die sich dein "Recht" zu kehren scheint. Was beim Spruch des Jüngsten Gerichtes klar werden wird, bleibt in unserer Pilgerzeit noch verschleiert. Wie juristische, objektive Ordnung (der Allgemeingültigkeit und Unauflöslichkeit des Ehebandes) und subjektive persönliche Gewissensfreiheit in einem solchen Extremfall tatsächlich zusammenklingen, ist in diesem Leben nicht mehr objektiv festzustellen. Nur gilt dann für den einzelnen: Juristische Wehleidigkeit und Jammerei passen schlecht zu persönlicher Gewissenskühnheit.

Nicht nur in der Kirche, sondern in jedem Verband - so lehrt uns die Organisationssoziologie - gibt es Grauzonen, also Verhaltensweisen, die von der objektiven Ordnung (vom Zeichen) und ihren Vertretern auf keinen Fall erlaubt, ja nicht einmal ausdrücklich geduldet werden dürfen - "wo käme man sonst hin!"; angesichts derer aber die objektive Ordnung in ihren Vertretern beide Augen zudrücken soll und darf - solange eben niemand mit Fragen Antworten herausfordert. "Müßt ihr immer fragen?!", soll Kardinal Döpfner einer Gruppe einmal seufzend geantwortet haben. Es ist doch selbstverständlich: Der Vorgesetzte ist für das Ganze verantwortlich, sein Nachgeben würde einen Präzedenzfall schaffen, auf den sich dann jeder berufen könnte - auch wenn sein Fall ganz anders liegt.

Wenn du nicht den Mut aufbringst, den für dich überschaubaren Bereich vor Gott nach deinem Gewissen zu regeln, mit welchem Recht verlangst du dann von deinem Bruder, der für viele Sorge tragen muß, daß er dir dein Gewissen abnehme? Du Heuchler, trau erst selber deinem Gewissen, und dann geh hin und sprich mit deinem Bruder unter vier Augen, nicht aber auf dem Marktplatz.

Und wenn du meinst, du müßtest nicht nur dein persönliches Gewissen klären und zur Entscheidung bringen, sondern auch die prinzipiellen Fragen weiterführen oder gar die Prinzipien ändern - dann frage dich zuerst genau, ob du auch weißt, was du tust. Sind nicht die ethischen Grundsätze aus langen und verantwortungsvollen Prozessen erwachsen? Wurde in ihnen nicht die Erfahrung von Jahrhunderten ausformuliert? Glaubst du wirklich - da du zufällig in dieser Situation lebst -, daß man die Jahrhunderteerfahrung so leicht auf den Scherbenhaufen der Geschichte werfen kann? "Tradition ist Demokratie über die Zeiten hin", sagt G. K. Chesterton. Wenn du dich ihr stellst, stellst du dich dem demokratischen Selbstverständnis des modernen Menschen. Autoritäre Abschafferei hat schon manches Leben ärmer gemacht.

Verantwortliches Leben in Ordnung und Freiheit ist heute gewiß eine große Herausforderung und Aufgabe und wirft viele Fragen auf. Der Christ muß sich dem Problem stellen. Hier wurde eine weiterführende Antwort versucht. "Dürfen wir Sie duzen?" "Nein, liebe Kinder. Nicht, solange ihr mich fragt. Wo kämen wir da hin!"

Veröffentlicht in "Geist und Leben" 54/1981, 226-232

Volle Internet-Adresse dieser Seite: http://www.stereo-denken.de/frei-lex.htm

Zurück zur Leitseite von Jürgen Kuhlmann

Siehe auch des Verfassers Predigtkorb auf dem katholischen Server www.kath.de

sowie seinen neuen (seit Ende 2000) Internet-Auftritt Stereo-Denken
samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

Schriftenverzeichnis

Kommentare bitte an Jürgen Kuhlmann