Jürgen Kuhlmann

Wird der Pfingstfunke zünden?

I. Kann der Papst in Köln Neues sagen?

Nein, wehren die einen ab: Jesus hat die endgültige Offenbarung gebracht, seit bald zweitausend Jahren soll die Kirche nichts anderes tun als seine Botschaft den Menschen ausrichten. Wer als Theologe Neues sagt, macht sich verdächtig.

Hoffentlich! mahnen die anderen. So, wie die Kirche vor der Öffentlichkeit dasteht, darf sie nicht bleiben. Dieses Allein-recht-haben-Wollen ist den Menschen unerträglich. Wer alle anderen Glaubensweisen und Lebensformen schlechtredet, nur das Eigene als vollwertig gelten läßt - obwohl jeder weiß, welche Scheußlichkeiten in den vergangenen anderthalb Jahrtausenden mit kirchlicher Billigung verübt worden sind: wer sich dermaßen lächerlich aufspreizt, den nimmt man nicht mehr ernst. Dauernd von "Gott", "Liebe", "Wahrheit" reden und zugleich den allermeisten Mitmenschen heillosen Irrtum vorwerfen, all denen nämlich, die nicht zu den "guten Katholiken" gehören - das ist ein so schreiender Widerspruch, daß er die ganze angeblich frohe Botschaft der Kirche entwertet. Man hört nicht mehr hin. Aus einer verschimmelten Flasche gehört der beste Wein in die Spüle gegossen, nicht ins Glas. Wird der Papst Neues sagen? Kann er die Flasche so gründlich reinigen, daß der Schimmel verschwindet, und sie neu füllen mit unverdorbenem Wein?

II. Die Spannung von Zeichen und Sinn

Die Schimmel-Metapher bezeichnet ein tiefsitzendes Selbstmißverständnis der Kirche. Sie weiß sich mit Recht als Zeichen des allumfassenden göttlichen Heils, hat aber lange das Fehlen des Zeichens mit dem Fehlen der von ihm bedeuteten Wirklichkeit ineinsgesetzt. Ähnlich aber, wie eine Frau auch ohne Ehering am Finger eine treue Gattin sein kann, so können Menschen auch ohne ausdrückliches Ja zum kirchlichen Heils-Zeichen dennoch in der von ihm bedeuteten Wirklichkeit leben: in ihrer persönlichen, vor Gott gültigen Wahrheit. Obwohl die sich bei vielen auf der Zeichen-Ebene, nach dem Buchstaben, nicht mit der kirchlichen Botschaft verträgt, stimmen beide möglicherweise doch in der Dimension überein, auf die es ankommt: im geistlichen Verständnis des Sinnes, den der Buchstabe bedeutet. Machen wir uns das durch ein Gleichnis klar.

"ALLE BUCHSTABEN" schreibt die Lehrerin an die Tafel. "Stimmt das?" fragt sie die Kinder. Die meisten meinen: Ja. Es ist richtig geschrieben. Nur Simone meldet Zweifel an: "Eigentlich stimmt es nicht. Es sind ja nicht alle Buchstaben. Die meisten fehlen." "Du hast recht. Trotzdem stimmt, was an der Tafel steht. Damit ALLE BUCHSTABEN alle Buchstaben bedeutet, dürfen es nicht alle Buchstaben sein. Wenn ich die anderen dazuschreibe, so: ACLFLJEKQBMURCXHYSWTZADBGEONP - heißt es nichts mehr. Das Zeichen ist kaputt. Aber deine Wahrheit ist auch wichtig. Nur kannst du sie nicht ins Zeichen hineinschreiben, sondern daneben, vielleicht so: ZU ALLEN BUCHSTABEN GEHÖRT AUCH X." - "Auf englisch gehört auch das R zum Zeichen", meldet sich John: "ALL LETTERS". "Und auf spanisch sind U und B draußen, O und D drin", ergänzt Manuel: "TODAS LAS LETRAS". "Richtig", faßt die Lehrerin zusammen. "In den verschiedenen Sprachen sind andere Buchstaben ein- und andere ausgeschlossen. Aber in jeder Sprache müssen viele Buchstaben ausgeschlossen sein, damit das Zeichen seinen Sinn bedeuten kann."

Christentum heißt: HEIL FÜR ALLE. Damit es das bedeuten kann, sind in christlicher Sprache bestimmte Denk- und Lebensformen ungültig. Weil zum Beispiel für den Verstand der Vielen (der auf der öffentlichen Zeichen-Ebene maßgebend ist) Buddhas oder Feuerbachs Botschaft der christlichen widerspricht, deshalb muß diese vor jeder Vermischung mit jenen freigehalten werden. Solche Abgrenzung ist das Prinzip des Buchstabens aber nur, um den wahren geistlichen Sinn des Zeichens den Menschen ins Herz zu leuchten: Jeder, ob Jude oder Christ, Moslem oder Bahai, Buddhist, Skeptiker oder Atheist, ist samt seiner persönlichen Wahrheit von Gott geliebt und von den Christen hochzuachten, auch wenn sie die überlogische Vereinbarkeit der fremden Wahrheiten mit der eigenen christlichen auf Erden nicht begreifen. Mystiker und Brückenmenschen, die solche Vereinbarkeit wenigstens ahnen, vermitteln Normalchristen hilfreiche Impulse; wichtig ist aber, daß auch die offizielle Kirche deutlicher als bisher den Sinn ihrer Botschaft erklärt. Wird sie es in Zukunft besser können?

III. Das Zeitalter des Heiligen Geistes

Das zu hoffen, gibt es seit der letzten Papstwahl einen guten Grund. Die Kirche muß sich nur eines ihrer Großen erinnern. Der ist zwar seit achthundert Jahren so gut wie vergessen, nur mehr Spezialisten bekannt - ein solcher Spezialist ist aber der jetzige Papst. Er weiß über Joachim von Fiore gut Bescheid, war die Zukunftsvision des kalabrischen Abtes (+ 1202) doch ein Hauptthema seiner Habilitationsschrift von 1959. Joachim hat als erster Christ den Gedanken einer künftigen Dritten Offenbarung Gottes gefaßt, die ein Neues Zeitalter des Heiligen Geistes heraufführen werde, und zwar - wie die ersten beiden Offenbarungen an Abraham und in Jesus - nicht am Ende der Zeiten, sondern in der Geschichte. Versuchen wir, uns als heutige Menschen dieser Idee zu nähern.

Jeder Mensch ist immer schon vor das Unendliche gestellt. Das Rätsel des Ganzen bleibt unbegreiflich. Mal beglückt, mal entsetzt es ihn, nie läßt es sich fassen. Wohl kann er es mit symbolischen Projektionen überziehen und wird vielleicht, wie er sich auf Erden vor Höheren neigt, einen himmlischen Hofstaat von Göttern und Göttinnen verehren. Echtes Wissen waren diese Versuche aber nie; spätestens seit Immanuel Kant weiß die Menschheit, daß sie von sich aus die Wahrheit des Ganzen nicht wissen kann.

Einmal jedoch - so glauben Juden und Christen - ist das Unendliche aus seinem Schweigen herausgetreten und hat sich bestimmten Menschen als Person offenbart, als der/die Unendliche: ICH BIN WER ICH BIN. Seither beziehen Menschen sich nicht nur auf selbstgemachte Gottesbilder ("Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde", steht auf dem Feuerbach-Denkmal in Nürnberg), sondern wahrhaft auf Gott selbst. Nicht weil wir so klug wären, sondern weil DU, Gott, dich uns zeigen willst. Das glaubt der eine, bezweifelt die andere, leugnet ein dritter. Für das Wissen entscheidbar ist die Frage nicht. Doch sollte klar geworden sein, was der Glaube mit dem Ersten Zeitalter des Vaters meint: Das Unendliche tritt von sich aus bestimmten Menschen - Abraham, Moses - als ihr DU gegenüber, das sie zugleich fordert und bejaht.

An das Zweite Zeitalter des Sohnes glauben die Christen. Eines Tages offenbarst DU dich uns in einem bestimmten menschlichen Ich: Jesus, Gott und Mensch zugleich. Wer sein Jünger sein will, gehört zum Reich des Sohnes, zur Kirche. - Was ist dann aber mit dem Dritten Zeitalter des Heiligen Geistes gemeint? Ist ein dritter, ähnlich tief eingreifender Fortschritt wie der vom rätselhaften WAS zum offenbarten WER und dann vom himmlischen Gott zum irdisch-himmlischen Gott-Menschen überhaupt denkbar?

Bis vor kurzem war er in der Kirche nicht denkbar, außer von wenigen "Joachimiten". So nannte man um 1250 solche radikalen Franziskaner, die Joachims Prophetie kirchenpolitisch verschärften und laut verkündeten, mit der hierarchisch organisierten "Kirche des Buchstabens" sei es bald vorbei, auf sie werde die geistliche Kirche folgen, in der nicht mehr Papst und Bischöfe, sondern erleuchtete Mönche das Sagen haben würden. Verständlich, daß die kirchliche Obrigkeit diesem Treiben nicht tatenlos zusah: Im Sommer 1255 vor jetzt exakt einem Dreivierteljahrtausend ließ eine Kommission von Kardinälen ein ketzerisches Buch ins Feuer werfen und verbannte seinen Autor zu lebenslänglicher Klosterhaft. Der Joachimismus schien am Ende.

Jetzt wird es aufregend. Den Ausschlag gab nämlich eine Parallele, die damals von beiden Seiten falsch gezogen wurde. Die Joachimiten argumentierten: Ebenso, wie beim Übergang vom Ersten zum Zweiten Zeitalter der Erste Bund (Gottes mit Israel) endete und der Zweite Bund (Gottes mit der Kirche Christi) begann, so würde (nahm man logischerweise an) beim Übergang vom Zweiten zum Dritten Zeitalter die Buchstabenkirche enden und die Geistkirche ihr Erbe antreten. Weil auch die Kardinäle so dachten, mußten sie den Anbruch des Geist-Zeitalters ausschließen: hätte er doch das Ende der kirchlichen Organisation mit sich gebracht.

Seit kurzem weiß die Kirche: Gottes Bund mit Israel ist am Karfreitag nicht gekündigt worden. Er gilt weiter. Nicht beerbt wurde Israel von der Kirche, sondern Gottes Neues Volk ist dem Alten an die Seite getreten. Beide Etappen der Gott-menschlichen Liebesgeschichte haben bis zum Ende der Zeit je ihre Wahrheit. Deshalb hat die Kirche jetzt, anders als 1255, keinen Grund mehr, die Entsprechung zwischen beiden Übergängen und ein bewußtes Sich-Einschwingen ins anbrechende Zeitalter des Heiligen Geistes für unkatholisch zu erklären. Joachims Glaube an einen gewaltigen drei-einigen Geschichts-Rhythmus darf wieder, wie vor 800 Jahren, die wachsten Christen begeistern. Er unterschied zwischen der Kirche des Buchstabens im Zweiten Zeitalter und der Kirche des Geistes im Dritten. Heute weitergedacht, könnte das heißen: Die Buchstabenkirche glaubt an Gottes Heil für alle, die seine Offenbarung in Jesus Christus annehmen. Er ist, samt seinen Jüngern durch die Zeiten hin, das deutliche Zeichen des umfassenden Heils. Die Geist-Kirche glaubt dasselbe, erfaßt und verkündet darüber hinaus aber auch öffentlich vernehmbar den wahren Sinn des Zeichens, eben Gottes Heil für alle überhaupt, die es im Herzen annehmen - unabhängig davon, wie sie ihren Glauben, ihre Hoffnung ausdrücken.

Im Detail hat Joachim sich geirrt. Weder brach, wie er meinte, das Zeitalter des Geistes schon 1260 herein noch besteht es in der Herrschaft eines radikalen Ordens. Doch sprechen die revolutionären Umkehrungen des kirchlichen Selbstverständnisses seit dem zweiten Vatikanischen Konzil eine deutliche Sprache. Das Zeitalter des bloßen Buchstabens ist für pfingstliche Christen vorbei. Was früher einzelne Mystiker und Heilige hofften, ist jetzt öffentliche Lehre: Allen Menschen guten Willens gilt Gottes Heil. Das steht zwar schon im Neuen Testament, nur als abstraktes Prinzip jedoch. Es wurde im Laufe der realen Kirchengeschichte von einer Menge konkreter Ausnahmen de facto verdunkelt, bis es keinerlei Einfluß mehr hatte auf das Verdammungsurteil von Normalchristen über wirkliche Juden und Muslime, Buddhisten, Hindus oder gar Atheisten.

Heute hingegen sollte unsere gemeinsame Hoffnung alle Verantwortlichen der Buchstabenkirche - friedlich aber machtvoll - dazu drängen, daß sie neben der sorgsam gehüteten eigenen Botschaft auch die grundsätzliche Zugehörigkeit der vom Zeichen ausgeschlossenen fremden Lebenswirklichkeiten zu dessen Sinn öffentlich anerkennen. Auch X und Y gehören zu allen Buchstaben. Auch link Religionskritik und Einheitsmystik werden, obwohl sie das christliche Zeichen nicht mit bilden, von ihm doch in aller Wahrheit mitgemeint.

IV. Vom Grenzwächter zum Brückenbauer

»Das Christentum ist voll unentdeckter Dimensionen«, sagte Papst Benedikt vor kurzem in Radio Vatikan. Das klingt gut joachimitisch. Es ist dem Papst wichtig, daß der Glaube der Kirche "sozusagen aus dem frischen Quell Gottes selber kommt, von daher wo das wirklich Neue und Erneuernde da ist. Das ist nicht eine abgestandene Kost, die wir seit 2000 Jahren haben und die immer wieder aufgekocht wird, sondern Gott selbst ist der Quell aller Jugend und allen Lebens." Benedikt XVI. freut sich auf die Begegnung mit der Jugend, "weil sie voller Probleme - vielleicht - aber auch voller Hoffnung, voller Schwung und Erwartungen ist, weil in ihr die Dynamik der Zukunft steckt." Diese Idee hat, als theologischen Begriff, tatsächlich Joachim ins Denken der Christenheit eingeführt. Das Interview erweckt den Eindruck, daß der Papst bewußt an die Einsichten seiner Jugend anknüpft. Wird er aus ihnen auch die praktischen Folgerungen ziehen, auf welche die heutigen "Spiritualen" so herzlich hoffen? Anders als die mittelalterlichen, die - wie auch die Kardinäle - in jener falschen Parallele festsaßen, haben die von heute keinen Grund, prinzipiell antihierarchisch zu denken, tun das in ihrer großen Mehrheit auch nicht. Wie weit wird, umgekehrt, das kirchliche Amt sich der Neuen Wahrheit des Heiligen Atems öffnen? Macht der Papst es ihm vor?

Nach der Papstwahl hatte man in Südeuropa Spaß an einem Wortspiel. "Pastor alemán" heißt auf spanisch, "pastore tedesco" auf italienisch nicht nur deutscher Hirt sondern auch Deutscher Schäferhund. Als Präfekt der Glaubenskongregation mußte Kardinal Ratzinger die Pferchgrenze vor Wölfen schützen. Seine Verantwortung als Ober-Hirt reicht weiter, erstreckt sich auch auf jene "anderen Schafe" (Joh 10,16), die für kirchlich gehaltene Augen in Wolfspelzen stecken. "HEIL FÜR ALLE" schließt niemanden aus. Letztlich nicht einmal solche, die sich durch Bosheit gegen ihr Heil wehren. Das kann freilich nicht mehr der christliche Glaube behaupten, er bezieht sich auf Gott, nicht auf die Abgründe menschlicher Freiheit. Hoffen aber dürfen wir, daß selbst der Böseste vom Strahl der Liebe erreicht wird. Irgendwann war sein Herz offen, ohne Bosheit - von diesem Augenblick her, auch wenn er im schlimmsten Falle nur einen Moment dauerte, möge sich das Tor für ihn öffnen.

Wie die Kirche des Sohnes das Bundesvolk Gottes nicht abgelöst sondern ergänzt hat, so wird auch die Geist-Kirche des Dritten Zeitalters die Buchstabenkirche des Zweiten nicht ablösen. Wohl aber muß sie dieser endlich das wahre Verständnis und die offene Verkündigung ihrer eigenen Botschaft nahebringen. "Denn der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig" (2 Kor 3,6). Nicht solche tötet der Buchstabe, die nach Gottes Willen (wie, entsprechend, nach Christus die gläubigen Juden) innerlich noch zum vorigen Zeitalter gehören. Ihnen bleibt dessen Buchstabe die maßgebliche Offenbarung. Wen die allbelebende Heilige LIEBE aber zu IHRem Dienst am Neuen Pfingsten beruft, der verfiele allerdings, wollte er sich gegen solchen Auftrag wehren, dem geistlichen Tod.

Wird der Papst den Schwung finden, sich nach langer Übung im auferlegten Dienst am Buchstaben auf die nicht nur neue sondern wahrhaft Neue Aufgabe umzuschalten, prophetisch dessen allumfassenden Sinn zu verkünden und die vielen, die er aus dem kirchlichen Schriftzug ausgrenzen zu müssen überzeugt war, jetzt - öffentlich sichtbar - zu ihrem anderen Dienst am gemeinsamen Geist zu stärken? Werden wir freundliche Papstgespräche mit Hans Küng, Leonardo Boff, Eugen Drewermann, Jacques Gaillot und manchen anderen erleben? Wird der Hirt die bissigsten Adjutanten energisch zurückpfeifen, wenn die sich statt über Wölfe über die eigenen Schafe hermachen? Die Kommunionspendung an den evangelischen Christen Roger Schütz beim Requiem für Johannes Paul war eine erfrischende Geste. Welche werden folgen?

August 2005

Hier geht es zu einer erweiterten und wissenschaftlich dokumentierten Fassung des Neu-Joachimismus.

Und hier zur kürzesten Fassung.


Volle Internet-Adresse dieser Seite: http://www.stereo-denken.de/funke.htm

Zurück zur Leitseite von Jürgen Kuhlmann

Siehe auch des Verfassers alten und neuen Predigtkorb auf dem katholischen Server www.kath.de

Schriftenverzeichnis

Kommentare bitte an Jürgen Kuhlmann