Jürgen Kuhlmann

Organe sind Ich-Weisen

Wie Identitäts-Mystik sich
als christliche Wahrheit verstehen lässt

Wenn Christen ihre Christus-Identität innerlich vollziehen, müssen sie für einen Augenblick von ihrer Du-Beziehung zu Jesus absehen. Das ist nicht schlimm, beim Zeitung-Lesen tun sie es auch. Es kann ihnen freilich passieren, dass sie bei solcher Selbigkeits-Meditation plötzlich erschrecken: Herr, was tu ich da? Ich bin doch gar nicht DU, sondern ein armes sündiges Geschöpf. Dann dürfen sie vielleicht hören: "Das bist du zwar, aber trotzdem will ich auch du sein. Fürchte dich nicht!"

Zuerst hatte ich formuliert: "Das bist du zwar, aber trotzdem auch ich." Dann erinnerte ich mich an Gilbert von Poitiers und sah (wie 1964) ein: Jetzt erhält seine Regel "numquam id, quod est, praedicatur" ein gewaltiges theologisches Relief. Weil die Person das unaussagbare id quod [das, was (ist)] als solches bedeutet, darum sind solche Aussagen wie: "zwei Naturen sind eine Person" oder "zwei Naturen werden eine Person" nicht eigentlich falsch, aber sinnlos: wer so spricht, zeigt nur, dass er noch nicht begriffen hat, was eine Person ist. "Eine Person": das ist nicht etwas, kein Umstand, den man von etwas anderem aussagen könnte - wovon denn auch ? Vielmehr ist die Person es, die ist und von der man das Verschiedenste aussagen kann. Die Person ist gewissermaßen die Urtatsache, das einfach hinzunehmende Zentrum eines oder mehrerer Kreise, der Punkt, der ist und auf den alle Aussagen sich beziehen. Wohl kann man, bei geschaffenen Personen, sagen: die Person wird. Dann steckt die Aussage aber in dem Wort "wird". Nicht jedoch kann man von irgendeinem X sagen: X wird-eine-Person. ("Person" immer im Sinn von Gilberts "id quod" genommen). Die Person solcherart streng als id quod zu fassen und dieses ausdrücklich von jedem id quo (das, worin, wie sie ist) zu unterscheiden, verlangt von dem Verstand, der diese Tat nachvollziehen will, eine gewisse Anstrengung und stets neues Bemühen; denn das "essentialistische Mißverständnis", welches die Person eines von vielem sein läßt, was man sein kann, anstatt des letzten Punktes in diesem "man", auf den sich jedes "was" bezieht - es ist um so viel bequemer!

Es sei erlaubt, das Gemeinte an einer uns näher stehenden Fragestellung zu erläutern: Wie kann Christus als Mensch Kenntnis von seiner Person haben, die doch göttlich ist ? Es ist hier nicht der Ort, auf die vielfachen Lösungsversuche dieser Frage einzugehen; unserem Autor wäre aber wohl schon die Frage in sich höchst verdächtig erschienen; scheint es doch, als werde hier das Verhältnis Person/Natur gerade auf den Kopf gestellt. Denn hier wird die Menschheit zum id quod gemacht (der, welcher weiß oder wissen möchte) und die Person zum id quo (nämlich zum Objekt des Wissens, d.h. zu einer Determination einer Weise, zu sein.). Wollte man eine Frage, die zu Gilberts Zeit nicht aktuell war, aus seinen Prinzipien heraus zu lösen versuchen, so wäre wohl zu sagen: So kann nicht gefragt werden. Nicht der Mensch weiß von "seiner Person", sondern der da weiß, ist Gottes Sohn, die Person des Wortes: was und wie er aber weiß, bestimmt sich nach seinem id quo, hier also nach seiner Menschheit. Richtig gestellt - und dann allerdings sehr sinnvoll. und tief - würde die Frage also lauten: "Wie weiß Gott menschlich um Seine Gottheit?" Vergleicht man diese Formel mit der oft gebrauchten: "Wie weiß der Mensch Jesus von seiner göttlichen Person?" so springt der Unterschied der Denkformen in die Augen. Dort eine geheimnisreiche Selbstverständlichkeit, hier eine ausweglose Aporie.

Soweit mein Text von 1964. Damals war das Konzilsdokument "Gaudium et Spes" noch nicht beschlossen. In dessen Nr. 22 hat das Konzil in einem so erstaunlichen wie unbekannten Satz über Christus verkündet: "Er hat sich bei der Menschwerdung irgendwie [quodammodo] mit jedem Menschen vereinigt." Dann dürfen wir auch in diesem Kontext, also bezogen auf jeden einzelnen Menschen, die Frage von vorhin stellen: "Wie weiß Gott menschlich um Seine Gottheit?"

Ich glaube: a) Indem ein Christ hört, was ich in der Weihnachtspredigt 2008 IHN sprechen lasse: "Wenn ich im 21. Jahrhundert als du leben will, so wie du jetzt als Fuß dastehst, dann wehr dich nicht, sondern tritt beherzt auf und präge meine Spur dem Boden ein. Denk an Mozart, wie er mit klammen Fingern Noten aufs Papier wirft. Als Finger spürt er beides: Ich schaffe dieses unsterbliche Werk, und gleich darauf: Ich friere. Beides ist, obwohl nicht zugleich denkbar, doch kein Widerspruch. Ebenso bei dir, wenn du dich jetzt als MEINE Präsenz und dann als abhängiges Geschöpf erlebst."

b) Oder indem ein Nicht-Christ wortlos fühlt: Hier ist nicht bloß die nichtige Person X, sondern auch in mir lebe ICH, der Sinn der Welt. Darum beschenke ich meine Lieben und lasse mich von ihnen beschenken, denn was außer Liebe könnte Sinn des Ganzen sein?

Ja: Weil mitten im überlogischen Geheimnis, können wir Gottsein und Abhängigkeit von Ihm nicht zugleich gläubig vollziehen und dennoch - über unseren Glauben nachdenkend - beide Ich-Weisen als wahr bekennen.

November 2008


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