Jürgen Kuhlmann

Überraschendes im Hirtenbrief

Erstaunt hätte Martin Luther geguckt, wäre ihm vorausgesagt worden, dass er – der vom Papst Gebannte und von allen katholischen Kanzeln Verteufelte – an einem Sonntag fast ein halbes Jahrtausend später in sämtlichen Pfarreien des Erzbistums Bamberg lobend würde zitiert werden. Auch Albert Camus, Humanist und leidenschaftlicher Kämpfer wider religiöse Entfremdung, wäre verwundert gewesen, hätte er gewusst, dass sein Name mit bischöflicher Zustimmung in so vielen Gotteshäusern erklingen würde.

In Vertretung beider Kirchengegner habe auch ich erfreut aufgemerkt, als der Erzbischof von Bamberg sich im jüngsten Hirtenbrief auf sie berief. Plötzlich wurde mir wieder klar: Der Brunnen unseres Glaubens enthält weitaus mehr Wahrheit, als in den kirchlichen Eimer passt. Dessen solide Wände sind notwendig, sonst fände das lebendige Wasser gar nicht bis zu uns; doch verdient der Bischof Lob dafür, dass er durch diskrete Hinweise die ihm anvertrauten Christen an den Überschwang der göttlichen Wahrheitsfülle erinnert, die sich in keinen Katechismus ganz fassen lässt.

Mit einem anderen Gleichnis sei dasselbe verdeutlicht: Zwar bleiben die Grenzlinien zwischen den Glaubensweisen wichtig. Nur wenn Magen und Niere auf bestimmte Nahrungsbestandteile gegensätzlich reagieren, kann ich leben, sonst würde ich verhungern oder vergiftet. Derzeit in den Vordergrund gehört jedoch – als Gesamtwahrheit des gesunden Leibes – die Gemeinsamkeit aller Vernünftigen. Sobald der Staub früherer geistiger Kriege verweht, wird auf allen Seiten das gute Wahre sichtbar und bietet sich allen an, die eben noch Gegner waren.

1967 sagte Professor Ratzinger in Tübingen über Glaubenssätze, die der Kirche als falsch gelten: "Alle diese Aussagen sind weniger Grabmonumente als Bausteine einer Kathedrale, die aber freilich nur dann nützen, wenn sie nicht allein bleiben, sondern hineingestellt werden ins Größere, so wie ja auch die positiv übernommenen Formeln nur gelten, wenn sie sich gleichzeitig in ihrem Ungenügen wissen." - Da frage sich jeder: Aus welchen Bausteinen besteht meine, unsere Kapelle im Dom?

Leicht verändert abgedruckt in der "Nürnberger Zeitung" am 12.02.2010


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