Jürgen Kuhlmann

SELBST-Mystik

Eine leicht vollziehbare Sprungerfahrung innerhalb der Identität im Kleinen läßt die Selbstmystik Indiens, Meister Eckharts oder des deutschen Idealismus auch dem verständlich werden, der sie nicht als Offenbarung von innen her kennt. Gibt es nicht Routinestunden, da die Schreibkraft - munter oder verdrossen - drauflostippt ohne die Reflexion: jede meiner Fingerspitzen - bin ich? Im Hintergrund weiß sie es natürlich dauernd, ausdrücklich bewußt wird ihr diese Selbigkeit aber nicht, sondern nur der Inhalt der Geschäftsbriefe oder (denn mit denen werden Ohr und Finger auch alleine fertig) allerlei Liebes- oder Haushaltsangelegenheiten. Vielleicht kommt es im gesamten Arbeitsleben der Schreiberin nie zum mystischen Identitätssprung ihres kleinen Fingers: oh, dieser Kleine, der jetzt das ü anschlägt, der ist, bin ja - ich! Einem solchen, seiner Selbstwürde unbewußten Finger gleichen alle unmystischen Menschen, die sich zwar jeder als einen der vielen bestimmten Ichvollzüge wissen, nicht aber als das eine absolute SELBST, obwohl sie es sind und mit Recht, wie der indische Weise, "Anbetung MIR !" rufen könnten.

Entfalten wir das Gleichnis weiter. Aus meinen vielen Selbstvollzügen greife ich einen heraus, er bedeute mich, diesen bestimmten Menschen, einen von Milliarden. Ich spüre mit dem linken Daumen die kühle Härte des Steins, konzentriere mich ganz auf diesen Eindruck. Warum ist er gerade dies, hier, jetzt? Auf diese Frage gibt es keine Antwort. Warum bin ich weder Napoleon noch eine Laus, sondern ausgerechnet ich? Ausgerechnet? Nein, hier gibt es gerade nichts auszurechnen. Das Dies, Hier und Jetzt als solches ist grundlos, unbegreiflich; ist es doch eine Teilhabe an der absoluten Dimension des Ewigen Logos selbst: durch Ihn und in Ihm ist alles geschaffen (Kol 1.16). So unrecht hatte David von Dinant im 12. Jahrhundert nicht, auch wenn Thomas von Aquin seine These, Gott sei auch die Urmaterie, eine Riesendummheit nannte ["stultissime posuit" (S.Th. I q3 a8)]. Gerade weil das nackte Dies das Sinnleerste, also Ungöttlichste ist, deshalb steht es in jener absoluten Spannung zu Gott (den Jesus seinen Vater nannte), die wir göttlich nennen müssen; denn geschaffen ist sie nicht.

Einmal saßen wir zu zweit in einer Studentenbude und spielten Gitarre, der andere schöner. Normalerweise wäre Neid über mich gekommen, an jenem Abend blieb er aus, statt dessen wußte ich plötzlich: sieh mal an, in dem da kann ICH es viel besser als in mir.

Bei einer Abendgesellschaft erzählt die Haus-Frau (wie frau sich heute statt Hausherrin nennt), daß ihr Sohn zu seinen Eltern zwar freundlich sei, sie aber für sein Dasein überhaupt nicht als notwendig erachte. Die Gäste lachen, der Junge wird geholt und befragt, wie er das denn meine, immerhin habe seine Mutter ihn ja geboren. Das schon, erwidert er, das sei aber Zufall; natürlich könnte er einen anderen Namen tragen: "Ich wäre aber auf jeden Fall geboren worden."

In diesem jungen Menschen lebt das Selbst-Bewußtsein. Freilich muß man das Wort "ich" tief genug verstehen. Man frage sich: Was wäre aus mir geworden, hätten meine Eltern einander nie getroffen? Es gäbe mich dann nicht mit den Genen, die mich bestimmen. Dieses Individuum, mit diesem Gesicht im Spiegel, würde der Welt dann eben fehlen, sie hätte es verschmerzt, wie die Nicht-Verwirklichung der allermeisten Möglichkeiten. Unausdenkbar, wieviele potentielle Verdis oder Einsteins Nacht für Nacht ins ewige Nichtsein sinken. So hätte es auch dem Menschen gehen können, der meinen Namen trägt. Mir aber? Mir nicht. Ich bin. Und bin mir meiner selbst bewußt. Daß es mich nicht gibt, ist undenkbar. Denn mein Ja zu mir ist selbstverständlich, notwendig, unbedingt. Der Strom meines Seins hätte einen anderen Lauf nehmen können, tausend andere Verläufe. Ich aber, seine Quelle, bin lauter und einfach. Deshalb hat jenes weise Kind recht: Ich wäre auf jeden Fall geboren worden. Und - füge ich mit Pater Klein hinzu - ich werde nie sterben.

Zwar lebt, wenngleich tief verborgen, in jedem Ich diese Gewißheit; als gute Realisten werden viele sie jedoch für eine Illusion halten und nicht ernst zu nehmen wagen, gar zu unsinnig kommt sie ihnen vor. Durch ein kleines Experiment, das jeder leicht selbst machen kann, will ich deshalb beweisen, daß die Tatsache eines "zweistufigen" Selbstbewußtseins, welches bedingt und unbedingt zugleich ist, sich nicht leugnen läßt. Ob der dabei gewonnene Begriff eines solchen sich auf die Welt im ganzen anwenden lasse - das ist freilich eine weitere Frage, bei der es nichts mehr zu beweisen gibt. Wohl zu erfahren und zu glauben.

Leg also deinen rechten Zeigefinger auf deine Tastatur und mach dir klar: ich spüre das und weiß unmittelbar, daß ich es spüre. Ist es aber notwendig, daß mein Finger das spürt? Keineswegs. Ich kann ihn hochheben, hätte ihn schon vor Jahren bei einem Unfall verlieren, ja sogar armlos geboren werden können. Mein Finger, als dieses Glied, ist nicht notwendig, wird von zahllosen Bedingungen bedingt. Die beschränken aber nicht die tiefe Personeinheit inseits all meiner Glieder, mein Selbst, mich. Solange der Finger dran ist, ist er ich und ich bin er, nicht nur organisch, sondern bewußt. Ich selbst spüre, was mein Finger fühlt, dieser Sinneseindruck ist meine unmittelbare Wirklichkeit. Also gilt: ICH, der jetzt sich selbst als Finger spürt, hänge trotzdem nicht vom Bestand dieses Fingers ab, wäre ich selbst sogar dann, wenn dieser Finger an mir nie gewachsen wäre. Denn mein bedingtes Finger-Selbst ist kein anderes als mein Selbst überhaupt. Solange und sofern der Finger lebt, ist er von meinem lauteren Selbstbewußtsein erfüllt; es lebt zwar in ihm, leidet auch mit ihm, reicht aber weit über ihn hinaus, stirbt nicht mit ihm und hängt auch von seinem Entstehen nicht ab. Mich, der im Finger sich selbst spürt, eben mich gäbe es auch ohne ihn, denn ich konzentriere mich zwar jetzt auf mich selbst gerade in diesem Finger, mein Sein überhaupt hängt jedoch von dieser bestimmten Konzentration keineswegs ab.

So läßt die schöne Selbstgewißheit jenes Jungen sich unschwer verstehen. Kann ein Christ sie auch glauben? Einige haben sie geglaubt, mit Recht. Wir sind Glieder des mystischen Leibes. Hätte Meister Eckhart seine folgenden beiden Gedankenreihen auch selbst einmal zusammengedacht und das Ergebnis so ähnlich erläutert, wie ich es eben versuchte [Tatsächlich entstand diese Erklärung während eines Gesprächskreises über Meister Eckhart, und zwar anläßlich jener beiden Texte.] - vielleicht hätte er sich seinen kurialen Richtern eher verständlich machen können?

"Man soll wissen, daß der Finger und die Hand und ein jegliches Glied von Natur aus den Menschen, dessen es ein Glied ist, viel lieber hat als sich selbst und sich gern und unbedenklich freudig in Not und Schaden begibt für den Menschen. Ich sage zuversichtlich und wahrheitsgemäß, daß ein solches Glied sich selbst durchaus nicht liebt, es sei denn um dessen willen und in dem, von dem es ein Glied ist. Drum wäre es gar billig und wäre naturgemäß für uns das Rechte, daß wir uns selbst keinesfalls liebten, wenn nicht um Gottes willen und in Gott." "Nach der Weise meiner Ungeborenheit bin ich ewig gewesen und bin ich jetzt und werde ich ewiglich bleiben. Was ich meiner Geborenheit nach bin, das wird sterben und zunichte werden, denn es ist sterblich; darum muß es mit der Zeit verderben. In meiner (ewigen) Geburt wurden alle Dinge geboren, und ich war Ursache meiner selbst und aller Dinge; und hätte ich gewollt, so wäre weder ich noch alle Dinge; wäre aber ich nicht, so wäre auch Gott nicht: daß Gott Gott ist, dafür bin ich die Ursache; wäre ich nicht, so wäre Gott nicht Gott. Dies zu wissen ist nicht not." [Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, hgg. von Josef Quint, München 1963, 128, 308]

"Wäre ich nicht, so wäre auch Gott nicht," dieser scheinbar wahnsinnige Satz entspricht im Leib-Gleichnis exakt unserer Erkenntnis von vorhin: Das Selbstbewußtsein im Finger ist völlig identisch mit dem Selbstbewußtsein überhaupt - freilich nur, solange es sich auf den Finger konzentriert. Eckharts sterbliche Geborenheit verhält sich zu seiner ewigen Geburt ebenso wie der Finger als besonderes, vielfach bedingtes Glied zum personhaften Selbstbewußtsein im Finger.

Mußte der Papst den Meister verurteilen? Und erstreckt sein Urteil sich auch auf die A-dvaita(=Unzwei)-Weisheit Indiens? Obwohl die Christenheit, wie jemand gesagt hat, das Johannes-Evangelium erst verstehen wird, wenn Indien christlich geworden ist? "Ehe Abraham ward, bin ICH" (Joh 8,58), sagt Christus, und zwar auch in unserer Persontiefe; denn Grund jedes menschlichen Abgrunds ist das Fleisch gewordene ICH, das uns belebt wie der Weinstock die Reben, in uns strahlt als "das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet" (Joh 1,9), auch bevor und nachdem es als besonderes Individuum "in die Welt kam".

Das Fingergleichnis läßt uns die tiefe Zweideutigkeit verstehen, in der für den Mystiker das Wörtlein "ich" zittert. Zum einen ist er von unbändigem Selbststolz erfüllt: "Mein kleiner Finger hat die Welt geschaffen," diesen Ausspruch warf man Meister Eckhart vor! Zum andern wird das Ego durch und durch verworfen, eine radikale Selbstlosigkeit gefordert. Beides erlebe ich unmittelbar: Weil nicht nur der Daumen den Stein spürt, sondern wirklich ich als er ("in ihm" wäre zu wenig; nicht um lokale Gegenwart handelt es sich, sondern um Identität durch Teilhabe), deshalb ist der Daumen mehr als bloß ein Etwas mit eigenem Programm, vielmehr ist er ich, eine Weise meiner selbst, des Ganzen, und hat insofern keinen Grund zur Bescheidenheit. Bisse anderseits ein Hund ihn ab, so wäre zwar er tot, aber keineswegs ich, also ist er nicht ich, bloß ein armes Etwas. Der Widerspruch könnte nicht schärfer sein, nach den Regeln der Logik müßte eine dieser Folgerungen falsch sein. Sie stimmen aber beide, das ist dem Mitdenkenden klar. Die zweite verlangt äußerste Demut: verglichen mit dem wahren Selbst gehört mein kleines Ego auf die Seite des Nichts. Wäre mein Vater meiner Mutter nie begegnet, was würde der Welt fehlen? Nichts, so wenig wie mir, weil neben dem Handhaar, das ich zupfe, nicht gleich ein anderes wuchs.

Und doch erlaubt sogar dieser winzige Schmerz den "mystischen" Durchbruch: tatsächlich, sogar der Ansatz dieses Haars bin ich selbst; denn mir tut es weh. Der Sprung vom Glied-Ich ins Selbst überhaupt verläßt das bestimmte Glied nicht, sondern führt in seine innerste Wirklichkeit. Ähnlich erfährt der Mystiker: Ich bin nicht nur dieser endliche Mensch, sondern ich, wirklich ich selbst, bin auch das gemeinsame Selbst aller Wesen, nur insofern allerdings, als ich mich=diesen besonderen Menschen verleugne, meine umschriebene Individualität nicht ernster nehme als jede andere. Ich, sagt die Frau vor dem Spiegel, ich will dieses Haar auszupfen und ertrage den Schmerz, den ich als Haar spüre, für mich = das Bild, das mir vorschwebt. So ist der wahre Mystiker bereit, im Dienst des liebenden Ganzen sein besonderes Ich abzutöten. Wo nicht, ists keine Mystik, sondern Inflation eines kranken Ego. Hält ein Organ sich rücksichtslos für ein Ganzes, dann heißt seine Einstellung nicht Selbstbewußtsein, sondern Krebs.

Nur wenn das Finger-Ich im Vergleich zum Ich-überhaupt sich zugleich als Nichts anerkennt, ist es anderseits mit ihm auch identisch. Ob ein Computer (auch der in unserem Kopf) sich an so etwas je gewöhnen kann, weiß ich nicht; wer aber statt auf das Geklapper der Begriffe wach auf seine eigene innere Erfahrung achtet, kann der seltsamen "Identität von Identität und Nichtidentität" nicht ausweichen und verfügt damit über ein Modell, das ihm erlaubt, den Ort einer möglichen mystischen Erfahrung zu ahnen: Angenommen, ich bin so etwas wie ein winziges Organ des absoluten ICH, könnte ICH dann auch in mir MEINER bewußt werden? Warum nicht? Bis hierher gelangt das Denken. Tut es das und putzt die Pole der inneren Identitätsspannug gewissermaßen blank, so vollzieht der mystische Blitz sich vielleicht häufiger.


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