Tante Irmis
 zwei Bilder

Der Hoffnungsstrahl


    Ein Ostern 1999

     

     Herzensgut war die Großtante, keinen Geburtstag hat sie vergessen, mit der Besucherin aber hatten ihrer Schwester Enkel es nicht leicht. Umgangsformen, Tischsitten fanden wenig Gnade, gar Computer waren Teufelszeug, Öko-Dinkel-Plätzchen hingegen die köstlichste Nascherei. Bei Diskussionen nahm sie schnell Partei, von Altersmilde keine Spur. Das letzte Ausweisfoto zeigt ein hartes, vor dem Schicksal erschrockenes Gesicht. Nie hat ihre Liebessehnsucht sich erfüllt, einsam ging sie durch fast neunzig Jahre, zu viele Stunden saß sie in einem verhaßten Büro, Mobbing gab es lange vor dem Wort.

    Anfang März 1999 ist sie gestorben. Bei der Durchsicht vollgestopfter Schubladen wird mein Trübsinn plötzlich von einem Jugendfoto verscheucht. Wie wenn durch Gewölk die Sonne bricht, wandelt dieses Bild mir die Welt. Oh, das ist die Tante einmal gewesen! Hübsch, lachend, voller Zukunft, Lebensfreude, Hoffnung. Wie schön, Welt, daß es dich gibt und mich in dir!

     
    War jener ferne Augenblick aber nicht eine Lüge? Das ist die entscheidende Frage. An ihr scheidet sich Unglaube und Glaube. Der Unglaube - er nennt sich Realismus - mißt die Hoffnung von damals an ihrem irdischen Resultat und urteilt: Sie war nichts als jugendliche Illusion. Der Christen Osterglaube hingegen, den auch die Tante gelebt hat, er zieht von jeder Gegenwart aus eine andere Linie in die Zu-Kunft: nicht waagrecht, zu späterer Zeit, senkrecht vielmehr, hin zur unsterblichen Gegenwart eben dieses Moments.

    Denn eben das waren die Ostererscheinungen ihrem Wesen nach (wie immer wir der Jünger tatsächliche Erfahrungen uns vorstellen mögen): Offenbarungen von Jesu vergangener, zeitlich gestorbener Lebensgestalt als jetzt lebendig und wirksam. Es gibt insofern, bei sehr verschiedener Wucht, doch eine genaue Korrespondenz zwischen meiner kleinen Begegnung mit dem Bild und den Erlebnissen der Freunde Jesu nach Ostern.

    Ja: Des Menschen Leben gleicht einem Brot, das in der Brotschneidemaschine für die Festtafel bereitet wird. Für den irdischen, ans Jetzt-Messer gebundenen Blick ist die damals knusprige Scheibe längst dahin, wenn der letzte schrumpelige Kanten dran kommt. Des Glaubens Auge aber ahnt, auf himmlischer Silberplatte, das ganze Brot. So klären sich auch die Weihnachtsengel unserer frommen Gemälde. Nicht nur der Gekreuzigte ist auferstanden, auch das Krippenkind. Und in Albrecht Dürers “Marienleben” von 1510 stirbt eine alte Frau, um  wieder jung in den Himmel aufgenommen zu werden.

     

     

    Das eigentlich Gemeinte, die Stereo-Einheit von alt und jung, kann ein Künstler auf einem Bild so wenig darstellen wie ein Lautsprecher den Stereo-Reichtum der Neunten Symphonie.

    Deshalb lasse ich mir die unreife, von Angst vor dem Altern verursachte Einseitigkeit der Erstfassung dieser Gedanken gern von Marie-Luise Budzinski korrigieren. Sie schrieb mir damals:

    “Heute lese ich Ihren Beitrag »Hoffnungsstrahl« im CiG und mir stand der Sylvesterabend 97/98 wieder vor Augen. Ich habe Ihre Tante ja nur die paar Stunden erlebt, aber für mich schimmerte in dieser Zeit ihr von Ihnen so lieb geschildertes Jugendbild aus ihren Augen, aus den Bewegungen ihrer Hände, aus der Erinnerung an Texte, die sie noch kannte. Ich glaube nicht, daß sie einsam durch die fast 90 Jahre ihres Lebens ging; denn Auferstehung geschieht nicht erst im Tod. Für mich feierte sie schon damals am Sylvesterabend und wir mit ihr ein Fest der Auferstehung.”

    Sooft ich jetzt meiner Tante Irmi gedenke, wird die alte Frau die wir kannten immer strahlender   überblendet vom Anblick jener Zwanzigjährigen. Ihre Zukunftsfreude hat nicht gelogen. Am Herzen Gottes, in der Gemeinschaft der Heiligen hat ihre Sehnsucht sich für immer erfüllt.

    So dankbar ich für mein Erdenglück bin, ist es doch nichts als ein geringer Vorschein des überschwänglichen Glanzes, der auf alle Glaubenden wartet. Sich irgendeinem Abgehärmten überlegen zu fühlen, empfiehlt sich nicht. Ist etwa das Geschmeide, auf das ich so stolz bin, bloß aus Glasperlen, der Kieselstein meines Nächsten aber ein noch ungeschliffener Diamant?
       

    Siehe auch mein Büchlein: EWIG LEBEN JETZT nach Hölderlin - Unamuno - Proust - Benjamin (1993, 34 Seiten DIN A5, ISBN 3-923733-18-6, 9,50 DM), bestellbar bei Jürgen Kuhlmann. Nachdem ich den Osterglauben in überraschendster Verkleidung bei vier Männern entdeckt hatte, die allesamt nicht gerade als Kirchenlehrer gelten, schrieb ich im Sommer 1992 dieses Trostbuch. Ihm gehörten die Morgenstunden am spanischen Meer (danach wurde das Tagebuch des Märtyrerbischofs Oscar Romero übersetzt).   

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Neu: Sinn und Geschichte  von “Stereo-Denken

Predigten von Jürgen Kuhlmann

Andere Texte des Verfassers (z.B. Abschiedspredigt 1972, Kinderbuch für Erwachsene, Kleines Credo für Zeitgenossen, Heiße Eisen, Simone Weil)

[Ein Osterbild]