Jürgen Kuhlmann

Die Christen und die Jesuaner

[Späteres Vorwort:]

Die Polarisierung ist schon weiter fortgeschritten als es der öffentlichen Kirchenmeinung bewußt ist; somit scheint es an der Zeit, daß die Parteien auch einen Namen erhalten. Nicht um die drohende Spaltung zu verfestigen, auch nicht um jeden Einzelnen auf ein Bekenntnis festzulegen, das ihm vielleicht ganz fremd ist. Wohl aber muß man, wo es zwei unbekannte Größen in Beziehung zu setzen gilt, zunächst einmal so tun, als wären sie bekannt. Man nennt sie also schlicht x und y, kann dann mit ihnen rechnen - und erfährt vielleicht am Ende, daß sie gar nicht so gegensätzlich sind wie man befürchtet hatte. Diese Hoffnung sei die große Klammer um die folgende Unterscheidung.


Vorbemerkung [der Redaktion der Zürcher Zeitschrift ORIENTIERUNG im Juli 1970]: Das hier dargelegte Problem will nicht als Lösung, verstanden werden, sondern lediglich als Denkanstoß und Frage. Der Autor selbst gesteht, daß ihm persönlich «jegliche praktische Evidenz für die eine oder andere Seite mangelt». Der Redaktion scheint, daß die Jesuaner, insofern sie ausdrücklich in einer Art Bekenntnis lediglich die «Sache Christi» weitergehen lassen, den Auferstandenen aber ausschließen, zur Kirche Christi, wie sie «in der katholischen Kirche verwirklicht ist» («subsistit», vgl. Konstitution über die Kirche, Nr. 8), nicht gehören. Doch ist die Kirche Christi eine zweifellos vielschichtige Wirklichkeit. Alles, was das Konzil in seiner Kirchenkonstitution über jene sagt, die der Kirche zwar angehören, aber nicht im Vollsinn, ist mutatis mutandis ebenso über die Jesuaner zu sagen. Das gilt auch bezüglich der Zusammenarbeit mit den Jesuanern, die jedoch ein kirchliches Amt im eigentlichen Sinn nicht einnehmen können, was nicht hindert, daß Katholiken und Jesuaner in für Jesus zeugnisgebenden Organisationen (die insofern in einem wahren, aber nicht allseitigen Sinn Kirche darstellen) sich zusammenschließen können und sogar sollen.

Tatsächlich befinden sich heute «Jünger» und «Schüler» Jesu, Christen und Jesuaner, in allen christlichen Kirchen, ohne voneinander sichtbar geschieden zu sein. Das macht der Artikel deutlich. Diese Tatsache ins Bewußtsein zu heben, ist sein Verdienst. Deshalb drucken wir ihn ab, auch wenn wir den Sinn des unter 7 beschriebenen «Standpunktes» nicht einzusehen vermögen, da er dem unter 5 Gesagten zu widersprechen scheint.

Was den Verfasser eigentlich plagt, scheint dieses zu sein: Einen Menschen, der Jesu Auferstehung zwar glaubt, aber in keiner Weise seiner «Sache» anhängt, also von christlicher Liebe in seinem praktischen Leben nichts wissen will, sind wir bereit, in der Kirche zu dulden, eventuell ihm sogar kirchliche Ämter zu übertragen; hingegen schließen wir einen, der christliche Liebe zwar übt, aber an den Auferstandenen nicht glaubt, von der Kirche aus. Das scheint mit doppeltem Maß gemessen. Tatsächlich müßte der Zeugnischarakter der Kirche - sie ist nichts anderes als die Gemeinschaft der Zeugen - viel existentieller genommen werden, zumal wo es sich um Besetzung kirchlicher Ämter handelt, die Personen, deren Mangel an greifbarer Liebe offenkundig ist, grundsätzlich nicht zugesprochen werden dürften. Diesen Mangel an unserer heutigen Praxis zeigt der Artikel - wenigstens indirekt - deutlich auf, denn wir sehen oft nur allzu einseitig so sehr auf die Orthodoxie, daß die Orthopraxis entschieden zu kurz kommt, obwohl wir doch wissen sollten, daß wer seinen Bruder nicht wirklich liebt durch die Tat ein Mörder ist und in einem Mörder das ewige Leben nicht wohnt (vgl. 1 Joh 3-5). Die Redaktion

Das Problem

Dr. R., ein würdiger Priester, weilt zu Besuch im Pfarrhaus. Mittags kommen wir auf das "leere Grab" zu sprechen. Die Kapläne rechnen mit der Möglichkeit, es sei vielleicht nicht leer gewesen. Dr. R. ereifert sich: "Sie meinen also auch, daß nur die Sache Jesu weitergeht? Das ist aber kein christlicher Glaube mehr!" Das meinen wir nicht. In sich und für sich lebt Jesus weiter, nicht bloß im Glauben seiner Jünger. Ob aber sein Leichnam im Grab geblieben sei oder nicht, spielt für uns keine Rolle. Dr. R. hält diese Ansicht für absurd; daß es für uns einen Mittelweg gibt zwischen "Ostern als dem großen physikalischen Wunderereignis" und "Ostern als bloß subjektivem Existenzverständnis der Jünger", das können wir ihm nicht klar machen.

Wenige Tage zuvor hatte ich zwei jungen evangelischen Pfarrern der Mainzer Schule gesagt: " Sie sind eigentlich keine Christen mehr. " Sie widersprachen: "Marxist ist, wer an der Lehre von Marx festhält; deshalb dürfen auch wir uns Christen nennen, denn für uns ist die Lehre Christi verbindlich; ihm folgen wir, auch wenn wir nicht an den Mythos seines subjektiven Weiterlebens glauben."

Quer zur Konfessionsgrenze gibt es heute zwei neue kirchliche Trennlinien, die in einem je verschiedenen Osterverständnis begründet sind und eine Glaubenstiefe betreffen, in die keine der bisherigen Kirchenspaltungen hinabreicht.

"Rechts" stehen jene traditionell Gläubigen, für die Ostern einen wißbaren Einbruch Gottes in diese Erscheinungswelt mit sich bringt. Ihnen gehört die Geschichtlichkeit des leeren Grabes zum Glaubensinhalt.

"Links" befinden sich jene von Jesus ergriffenen Menschen, die zwar sein individuelles Leben für vergangen halten, trotzdem aber (so meinen sie) auf die einzig vernünftige Weise "an .Ostern glauben". Indem ihnen, wie den ersten Jüngern, im Lichte von Jesu Liebe bis zum Ende er selbst in seinen Worten und Taten "neu lebendig wird", geschieht an ihnen, soweit sie sich von ihm zur Angstlosigkeit befreien lassen, seine "Auferstehung von den Toten": die Sache Jesu geht weiter.

Für eine mittlere Auffassung bedeutet Jesu Auferstehung kein empirisches Faktum, vielmehr ein radikal neues Selbst-, Welt- und Gottesverständnis der Jünger. Wer so denkt, hält die Geschichtlichkeit sämtlicher Wunderberichte dogmatisch für unerheblich - mag er sie im übrigen, als moderner Mensch, für unwahrscheinlich erachten oder aber, als noch modernerer Mensch (der vielleicht etwas Parapsychologie studiert hat), für möglich und sinnvoll halten. Ihr neues Verständnis erfahren diese Menschen jedoch nicht als bloß ihre Neudeutung des endgültig vergangenen irdischen Jesus, sondern als Ostergeschenk des Auferstandenen, das heißt als Ergebnis eines übergeschichtlichen Handelns Jesu selbst, der durch den Tod nicht vernichtet, sondern vollendet worden ist und seither als Herr der Geschichte den Seinen geheimnisvoll und doch persönlich gegenwärtig ist.

Vom Verhältnis Mitte/Rechts sehen wir hier ab; unter dem Stichwort "Entmythologisierung" ist es bereits Gegenstand einer breiten Diskussion. Viel bedeutsamer scheint das Verhältnis Mitte/Links zu sein, kurz gesagt: die Spannung zwischen den "Jüngern" und den "Schülern" Jesu, zwischen "Christen" und "Jesuanern". Beide sind Anhänger Jesu von Nazareth, beide bekennen sich zu seiner Haltung und seinem Programm; beide kommen ohne jedes märchenhafte Element aus, sind zufrieden mit einem Jesus, der wirklich in allem uns gleich geworden ist, die Sünde ausgenommen. Beide glauben an "die Auferstehung" mindestens in dem Sinn, daß Tod, Schuld und Scheitern allen Schrecken verloren und ihre Macht der siegreichen Liebe abgetreten haben.

So weit die Gemeinsamkeit, so tief reicht aber auch der Gegensatz: die Schüler glauben, daß Jesu Sache weitergeht, die Jünger glauben an den Auferstandenen. Jene sind befreit zur "Ewigkeit im Augenblick", diese dazu noch zur Hoffnung auf die Vollendung über den Tod hinaus. Jene gehen anhand der geschriebenen Worte Jesu mit sich selbst zu Rate, diese rufen zu ihrem lebendigen Herrn und Freund.

Da alle Kirchen aus Christen und Jesuanern bestehen, sollten wir uns klar werden, welche organisatorische Verfaßtheit dem, was wir denken und wollen, am besten entspricht.

Wenn jemand, ohne den persönlich Auferstandenen zu bekennen, dennoch den Geist Jesu von Nazareth so, wie er ihn versteht, für sich maßgeblich sein läßt: darf ein solcher sich zur Kirche rechnen? Darf die Kirche ihn zu den Ihren zählen, ihn Pfarrer und Theologieprofessor werden lassen?

Ein Lösungsvorschlag

Fragen läßt sich pauschal, antworten nicht. Um klarer zu sehen, wollen wir uns deshalb zunächst zwei grundverschiedene Bedeutungen des Begriffs "Kirche" bewußt machen und dann versuchen, zu praktischen 'Folgerungen zu gelangen.

1) Die Kirche ist wesentlich die Gemeinde der " Zeugen der Auferstehung" (Apg 1,22). Als solche ist sie an Ostern und Pfingsten von Gott selbst gegründet worden; aus diesem Glauben hat sie zu allen Zeiten ihre Freude geschöpft; für ihn hat sie Spott und Verfolgung erduldet. Ihn wird sie auch, solange es Menschen gibt, durch die Zukunft tragen. Damit unserer Erde die österliche Siegesstimmung nie mehr verlorengehe: deshalb gibt es die Kirche, als den Ort der entscheidenden göttlichen Antwort auf alles menschliche Suchen.

2) Zum andern gibt es jedoch auch die Gemeinschaft all derer, die von der Frage nach Jesus bewegt sind. Wie jedes Verhältnis zwischen Personen, kennt auch die Beziehung der Menschen zu Jesus die verschiedensten Grade, Färbungen, Phasen. Begnügen wir uns für jetzt mit einer groben Einteilung in vier verschiedene "heilsgeschichtliche Standorte":

a) Tabor. So erlebt sich etwa ein Kind am Tag der Erstkommunion. Sein Glaube steht noch weit vor der Todeslinie, Jesus ist ihm der verklärte Herr: "Hier ist gut sein".

b) Karsamstag. Der Kinderglaube ist grausam enttäuscht worden. Beispiel sind die Emmausjünger: "Wir aber hatten gehofft." In der Form der Enttäuschtheit lebt das Verhältnis zu Jesus noch irgendwie, doch nur als bittere Erinnerung. Mit der Sache Jesu ist es aus.

c) Ostern jesuanisch verstanden. "Mußte nicht Christus all dieses leiden?" Nichts ist verloren, sondern Jesu Sache geht durch uns weiter. Der Geist der Freiheit und Liebe kann nie mehr ausgelöscht werden. An Jesus als vergangenem Individuum freilich liegt nichts; er bleibt tot: eben deshalb verlieren wir, denen es ebenso gehen wird, dank seiner unsere Angst.

d) Ostern christlich verstanden. Jesus lebt trotz seines Todes, er ist uns erschienen, sein Leben ist unser Heil. Das Individuum Jesus ist identisch mit dem ewigen, persönlichen "Du" Gottes selbst. Und auch wir sollen einmal bei ihm sein dürfen, wo er ist (Joh 14, 3).

3) Als äußerlich, gesellschaftlich sichtbare Wirklichkeit verstanden, umfaßt "die Kirche " zweifellos Menschen all dieser Erlebnisweisen.[Ob wir sogar "Glaubensweisen" sagen dürften, ist eine terminologische Frage; immerhin ist keine notwendig mit schuldhaftem Unglauben verbunden.] Die Phasen 2a) und 2b) lassen wir fortan beiseite; als kirchliche Vollzüge sind sie unstabil: das Kind wird größer, der Enttäuschte wird früher oder später alles Interesse an der Kirche verlieren. Die beiden Oster-Auffassungen hingegen sind stabil und lebenskräftig. Damit stehen wir vor dem praktischen Problem: Kann die Kirche den Jesuanern gerecht werden, ohne das echte Osterzeugnis zu verkürzen? Das scheint die Quadratur des Kreises zu erfordern : Einerseits darf zur Kirche gehören und in ihrem Namen auftreten nur, wer an die Auferstehung glaubt; andererseits scheint die Kirche nicht im Sinne Jesu zu handeln, wenn sie Menschen ausschließt, die ihr Leben ausdrücklich unter das Programm seiner Nachfolge stellen.

4) Nach langen Überlegungen und vielen Gesprächen sehe ich keine andere Möglichkeit, als den Begriff "Zugehörigkeit" aufzufächern. Im vollsten Sinn gehören nur die Menschen zur Kirche, die sowohl mit ganzer Hingabe "das Wort Jesu halten" als auch an ihn, den Auferstandenen, glauben.

Doch nicht nur aus ihren Heiligen besteht die Kirche. Weil in beiden Dimensionen, dem Osterglauben wie der Nachfolge, ein echtes Verhältnis des Menschen zu Jesus sich vollzieht, deshalb läßt sich vielleicht sagen: Auf jeweils andere, analoge, aber wahre Weise gehören, zum einen, auch solche Menschen zur Kirche, die zwar an Ostern glauben, jedoch mit größter Selbstverständlichkeit nicht im Traum daran denken, mit der Bergpredigt Ernst zu machen.

Das andere Extrem sind die Jesuaner. Ihnen fehlt die Dimension des Osterglaubens, die der lebendigen Nachfolge kann hingegen sehr intensiv sein. Auf ihre Weise gehören darum auch sie irgendwie zur Kirche.[Dafür scheinen auch folgende Gründe zu sprechen:

a) Der Menschen inneres Verhältnis zum auferstandenen Christus läßt sich schlecht zum äußeren Kriterium einer rechtlichen Zugehörigkeit machen. Viele sind sich selbst nicht klar, Zu welcher "Gruppe" sie gehören. Viele entwickeln sich von der einen zur andern. Eine Kontrolle ist unmöglich.

b) Die Jesuaner sind die der eigenen Position bewußten Wortführer der Volkskirche, das heißt jener vielen Menschen, die nach Ausweis der Umfragen Weihnachten und Ostern nur mehr als traute Märchen erleben, am ewigen Leben aber zweifeln. Nicht sie ausstoßen sollen die Christen, sondern in ihrer Mitte Sauerteig sein.

c) Dürfen wir die Einstellung dieser Menschen nicht sogar als eine Art Randfall des echten Osterglaubens verstehen? Auch hier ist vielleicht tatsächlich der Erhöhte am Werk - zeigt sich ihnen aber nicht als den Erhöhten, sondern nur als den, der er bis zum Kreuze war und dessen Sache dennoch - das ist das Wunder! - weitergeht.]

5) Wer dazugehört, muß auch mittun dürfen - freilich gemäß der Weise seiner Zugehörigkeit. Deshalb sollten die Jesuaner auf keinen Fall Bischöfe, Priester, Pfarrer werden können. Denn sie vermögen die Kirche nicht als Ostergemeinde zu repräsentieren. Wer nicht im Vollsinn Zeuge der Auferstehung ist, kann die Kirche dort, wo sie Tod, Auferstehung und Wiederkunft ihres Herrn verkündet, nicht vertreten. Somit gehört, wer sich ausdrücklich als Jesuaner bekennt, weder auf die Kanzel noch an den Altar der christlichen Gemeinde. Erfahrungsgemäß legt er darauf auch gar keinen Wert. Insofern muß es, und zwar innerhalb der Kirche, durchaus auch eine irgendwie organisatorische Trennung der beiden wesensverschiedenen Bekenntnisse geben: Ob Jesus lebt, ob wir auf ein ewiges Leben hoffen dürfen - wenn es in der Kirche keinen deutlich umgrenzten Raum gibt, wo über diese Grundfragen Einheit herrscht, dann zerreibt man sich in inneren Streitereien und behält keine Strahlkraft.[Andererseits werden auch die Jesuaner ihre besonderen Feiern gestalten. Auch ökumenische Vollzüge wird es geben; Bei einem Studentengottesdienst hieß die Antwort auf die Fürbitten einmal: "Laß(t) uns das nicht vergessen!" Jeder Teilnehmer entschied sich frei für oder gegen das "t".]

6) Wie steht es bei den übrigen kirchlichen Ämtern? Hier gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: - Entweder die Kirche stellt sich auf den Standpunkt: weil jeder kirchliche Amtsträger irgendwie die gesamte Kirche vertritt, darum verlangt auch das konkreteste, praktischste Amt von dem, der es innehat, das volle Glaubensbekenntnis und mindestens den Versuch eines bewußt christlichen Lebens. Das würde dann gelten bis hin zur bischöflichen Sekretärin und zum Hausmeister eines kircheneigenen Gebäudes.

In diesem Fall bliebe den Jesuanern jedes kirchliche Amt verschlossen; sie müßten, wie ja ihr Meister auch, selber zusehen, wie sie ohne die Hilfe religiöser Institutionen ihren Auftrag erfüllen können. Sie dürften sich darüber nicht beklagen; denn natürlich können die Christen sehr wohl der Ansicht sein: ihr Höchstes; das Osterzeugnis, der Dienst an der eschatologischen Siegesstimmung - diese zentrale kirchliche Aufgabe dürfe nicht dem Mißverständnis ausgesetzt, -durch keinerlei c .0 ' ~----~--~-logischen Siegesstimmung -diese zentrale kirchliche Aufgabe dürfe nicht dem Mißverständnis ausgesetzt, durch keinerlei Zugeständnisse gefährdet werden. Um die todverfallene Welt etwas zu humanisieren, dazu brauche es die Kirche nicht.

7) Doch scheint auch der gegensätzliche Standpunkt nicht von vornherein sinnlos: Bei manchen kirchlichen Berufen wäre der Osterglaube des Betreffenden weniger ausschlaggebend als seine Tüchtigkeit und sein Einsatz; durch diese Tätigkeiten würde die Kirche dann nicht als Oster-Gemeinde repräsentiert, sondern als die Jüngerschar dessen, der gekommen ist, allen zu dienen und den Letzten ihre geraubte Würde wiederzugeben. In dieser Sicht könnte manche kirchliche Berufe (in der Verwaltung etwa) sogar ein Heide ausüben, andere sollten mindestens den Jesuanern offenstehen. [Dazu würden zunächst die diakonischen Tätigkeiten gehören; denn alles, was dem historischen Jesus am Herzen lag, dafür sind auch die Jesuaner. Insofern Christentum "Dienst an der Welt" ist, sind sie von den Christen nicht verschieden. Im Gegenteil, wäre Jesus nicht sehr ungehalten über manche seiner Christen? Sie "besitzen den Glauben" wie andere ihre Aktien, so daß den geistlich Armen von heute nur die Klage bleibt: Der hat es gut, daß er das glauben kann, was soll aber ich machen mit meinem Zweifel und meiner Angst? Ist nicht, im Maße es an persönlicher Heiligkeit mangelt, der Osterglaube notwendig mit der Versuchung verbunden, Jesu eigene, an alle gerichtete, vorösterliche Botschaft vom Reiche Gottes ("Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; sorget euch nicht; deine Sünden sind dir vergeben") unerlaubt zu verkürzen, nur mehr als einen Teil der Osterbotschaft über Christus gelten Zu lassen? Das Reich Gottes zum christlichen Privileg zu verengen ist aber ein Unrecht gegen die vielen, denen der Erstandene sich, er weiß warum, nicht zeigt. In dieser Versuchung sind die bloßen Schüler nicht.]

Das dargelegte Problem darf nicht länger im Bereich begriffloser Emotionen bleiben. Es sollte uns zunächst einmal in seiner ganzen Schärfe bewußt werden, und dann sollte man den Mut haben, klare Entscheidungen zu fällen.

Veröffentlicht in ORIENTIERUNG (Zürich) vom 15.07.1970, S. 151 ff.


[Damals nicht gedruckter Schluß:]
8) Nicht selten wird die aufgezeigte Polarität, mehr oder minder ausdrücklich, auch bereits verinnerlicht. Dann ist es derselbe Mensch, der zugleich Jesus nachfolgt und an Christus glaubt. Trotzdem ist er vielleicht noch kein Jünger Jesu Christi. Warum? Hilft er nicht den letzten Menschen, wie Jesus? Doch. Hofft er nicht, als Christ auf Christus? Doch. Was also fehlt ihm noch? Die Einheit seines Lebenssinns. Sein Jesus und sein Christus sind nicht dieselbe Person, sie fallen auseinander. Sein Jesus steht ein für die letzten Menschen dieser Erde - bis hin an deren Grab. Aber nicht weiter. Sein Christus macht ihm selbst Hoffnung auf das ewige Leben - ihm und den anderen Gläubigen, aber nicht den vielen anderen, die nicht an den Auferstandenen glauben können weil Er ihnen nicht begegnet ist. Sein Christus betreibt mit Frieden und Hoffnung, den höchsten Gütern der Seele, dieselbe Horterei und Vetternwirtschaft,, wie sein Jesus es den Reichen seiner Zeit bei den Gütern des Leibes so zornig vorgeworfen hat. Wer hat, der hat. Wer kosten darf von den Gütern der Zukunft und des Reiches, wie wohlig fühlt sich dessen seelischer Gaumen. Und die anderen draußen? Jene Frau, die nur ihrem Geschäft lebt, weil keiner ihr etwas Besseres gezeigt hat, und die verzweifelt, weil sie allein ist und der Arzt ihr gesagt hat, daß sie bald sterben muß? Ihr hat jener Jesus nichts zu sagen als: Wehe euch, die ihr reich seid. Denn weltlich arm ist sie nicht. Und Christus sagt ihr nichts - warum? Vielleicht, weil Er einmal seinen Jüngern gesagt hat: Gebt ihr ihnen zu essen?

Jesus sagte: „Wenn ihr nur die grüßt, die euch grüßen, was tut ihr da Besonderes?" - Christus grüßt nur, die ihn grüßen, erscheint bloß seinen Freunden. Jesus verurteilt die Ehebrecherin nicht, hat nichts gegen Zachäus, betet für seine Mörder. Christus donnert: „Wer nicht glaubt, wird verdammt werden." Kurz: Jesus und die Jesuaner sind ausdrücklich für alle da, kämpfen gegen Privilegien und Monopole, verurteilen niemanden außer die egoistischen Unterdrücker, und auch die nur taktisch und provisorisch, ohne eine tiefe Solidarität auch mit ihnen zu verleugnen. Christus und die Kirchenchristen dagegen verstehen sich als privilegierte Elite, ek-klesia. Nur wer den Glauben hat, gehört dazu. Um den zu verbreiten, tun und opfern sie zwar alles - wie andere Eiferer auch. Wer ihn aber (ihrethalben vielleicht?) nicht annimmt, muß von der letzten, entscheidenden Solidarität ausgeschlossen bleiben, denn das höchste Gut, das ewige Heil, kann nur den Glaubenden gehören.

Schluß: Das dargelegte Problem ist zu brennend, als daß es noch länger im Bereich begriffloser Emotionen bleiben dürfte. Gelöst wird es freilich nicht durch Nachdenken Einzelner, sondern allein durch die Entscheidung der ganzen Kirche. Möglichst bald müssen die heutigen Jünger denselben Mut aufbringen wie damals (Apg 15,28) die ersten: Der Heilige Geist und wir haben beschlossen.


[Nachschrift im Mai 2002:] Tatsächlich sind die Christen auch Jesuaner; denn Jesus wies darauf hin, daß Gott sich dem Mose ein halbes Jahrtausend nach Abrahams Tod als »der Gott Abrahams« vorstellte. Daraus schloß Jesus (Mk 12,27) auf die Auferstehung der Toten: »Gott ist doch nicht ein Gott von Toten sondern von Lebenden!« Umgekehrt sind auch die Jesuaner insofern Christen, als der wiederkommende Christus gerade die nichts erwartende Nächstenliebe zum Maßstab des Gerichts macht. »Herr, wann?« fragen die Gesegneten ihn dann erstaunt (Mt 25,37); denn damit haben sie nicht gerechnet. - Die Gruppen x und y sind also Repräsentanten nicht widersprüchlicher Bekenntnisse sondern not-wendig gegensätzlicher Akzente des einen Glaubens an Jesus den Christus.


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