Jürgen Kuhlmann

Jocki und der Innenseher
Eine Abenteuergeschichte
für das Kind
im Mann und in der Frau


8


Der einsame Selbst-Schöpfer

Hier sitze ich, auf einer Düne am Meer. Vor mir rollen träge Wellen ans Ufer, die letzten Badegäste packen ihre Sachen zusammen, hinter mir steht schon tief die Sonne. Da sitze ich also und stelle mir vor, daß ich ein Stück schreiben will. Ein Theaterstück mit vielen Rollen. In Wirklichkeit ist das natürlich sehr schwer, die größten Dichter haben arg leiden und sich anstrengen müssen, bis so ein Stück fertig war. Ich mache es mir leichter; immerhin bin ich ja im Urlaub und muß mich erholen, so steht es im Tarifvertrag. Ich stelle mir also schwuppdiwupp vor, das Stück ist schon fertig, auch die Generalprobe ist geschafft.

Und jetzt geht der Vorhang zur Premiere auf, während ein festliches Publikum erwartungsvoll dasitzt. Was soll ich euch von dem Stück erzählen? Ich kenne es ja selber nicht, weil ich seine Entstehungsgeschichte eben so elegant übersprungen habe. Worauf es mir ankommt, ist nur das eine, darauf allerdings kommt es mir ungeheuer an, weil ich glaube, daß diese Einsicht auch für euch lebenswichtig ist. Jetzt meint ihr bestimmt, ich übertreibe, aber ich sage nur die Wahrheit, wenn auch eine sehr geheime und von vielen Menschen ungeahnte Wahrheit. Worauf also kommt es mir bei meinem Stück an? Auf die ebenso seltsame wie unleugbare Tatsache, daß alle Figuren meines Stücks, vom Amtsvorsteher Hollahi bis zur Oberhexe von Ebensee und ihrer Busenfeindin Sigrune - daß sie alle meine Ideen wären, also eigentlich ich selber, in allerlei Rollen aufgespalten, ich der Freizeitdichter Jonathan Sauhupf, so wie ja auch in meinen Alltagsrollen der Amtmann Jonathan Sauhupf in seinem Büro telefoniert, der Gatte J.S. über die angebrannten Bratkartoffeln meckert, der Vater J.S. "Ruhe!" brüllt - aber nein, das eben war nicht der liebevolle Vater, sondern der genervte Freizeitdichter, wenn man bei solchem Kinderlärm überhaupt von Freizeit reden kann. Ähnlich also, wie in meinen Alltagsrollen ich, Jonathan Sauhupf, höchstpersönlich lebe, so würde ich das doch auch in den Theaterrollen tun, wenn ich Zeit und Genie genug hätte, sie mir auszudenken. Seht ihr das ein? Mag sein, daß es für die Oberhexe von Ebensee ein Vorbild aus Fleisch und Blut gibt - so, wie sie am Premierentag über die Bühne tobt, wäre sie doch mehr Jonathan als Annerose Sauhupf. Doch halt, fast hätte ich zu viel verraten.

Was soll das? So fragt ihr jetzt wahrscheinlich. Das soll eine ungeahnte Wahrheit sein? Daß ihr nicht lacht! Nun, im Kleinen ist es freilich klar. Jeder von euch hat schon Aufsätze geschrieben und Figuren ausgedacht; natürlich weißt du, daß jede solche Figur irgendwie du selber ist. Das ist nichts Besonderes. Das Besondere ist bloß, daß es ebenso auch im Großen ist! Nicht nur bedeuten die Bühnenbretter die Welt: die Welt ist auch eine Bühne, und alle Figuren, die auf ihr herumtollen, vom Urmenschen (der vielleicht, wer weiß, eine Urfrau war) bis zu mir hier auf meiner Düne und zu dir, wir alle sind irgendwie der Verfasser des ungeheuren Stücks in eigener Person. Wie er heißt? Er hat alle Namen und keinen Namen. Nennen wir ihn: ICH. Wo findest du MICH? Bestimmt nicht außer dir. Sondern wenn du ganz tief in dich hineindenkst, dann kommt, ähnlich wie bei einer Hohlkugel, erst eine dünne Schicht: das bist du. Dann kommt lange nichts. Dann, ganz drinnen, so etwas wie ein glühender Punkt, von dem die ganze Kugel ausstrahlt, und das bin ICH. Natürlich nicht ich, Jonathan Sauhupf, auch nicht dein Ich X.Y. oder wie du sonst heißt. Sondern ICH das einzige schöpferische ICH mitten in allen Welten.

Auf Terra, dem dritten Planeten des relativ kleinen Sternes Sol, ist jetzt an einer bestimmten Küste eben diese Sonne schon seit längerem untergegangen und das Abendrot bereits so verblaßt, daß MEINE Rolle Jonathan Sauhupf nicht mehr weiter schreiben kann. Während er sich auf den Heimweg macht, geht dieselbe Sonne anderswo auf, nicht zu reden von den Planeten anderer Sonnen, wo ICH andere Stücke sich ereignen lasse, die den Terranern sehr fremd vorkämen, könnte man sie dort erleben. ICH aber bin ihnen nicht fremd. Ihnen nicht und keinem Wesen sonst. So wenig du der Figur, die du in deinem nächsten Aufsatz erfinden wirst. Denn was ihr euer Ich nennt, das ist keine Sache, sondern ein Stück meines inneren Lebens. Du kennst dich, weil ICH an dich denke. Du bist MEIN Gedanke. Aber keine Angst. ICH vergesse dich nicht. ICH BIN das ewige Denken, kein Vergessen gibt es bei MIR. Für Jonathan Sauhupf aber ist es jetzt wirklich zu dunkel geworden. Ade und eine gute Nacht!

"Wer ist denn dieser Jonathan Sauhupf?" - "Aber Jocki, das hat er doch selbst erzählt. Oder meinst du, was er in seinem Büro treibt, wovon er lebt?" - "Stimmt. Das habe ich gemeint. Aber du hast recht; wer er ist, das weiß ich schon von ihm selbst. Könntest du mir jetzt noch sagen, daß er tagsüber Steuerakten prüft oder Zahnräder konstruiert oder über gesammelte Ameiseneier Buch führt, dann wüßte ich über ihn selbst auch nicht mehr." - "Siehst du. Aber etwas kann ich dir schon noch erzählen. Er hat nämlich einen besonderen Plan. Wenn er pensioniert ist, will er sich ein Häuschen hoch oben im Himalaya kaufen und dort, gut indisch, andauernd über sich selbst nachsinnen." - "Und seine Frau, die Oberhexe? Macht die da mit?" "Ich glaube, sie plant eine Rundreise durch sämtliche Museen der Welt und will ihn ab und zu besuchen." - "Arme Kinder." - "Ach was, bis dahin sind sie groß und kommen allein zurecht. Jonathan sagt, Eltern dürften nicht hauptsächlich für die Kinder leben, das hielten die Kinder nicht aus. Wir wollen doch nur dein Bestes - wenn Eltern das sagen, solle das Kind antworten: Ätsch, aber das kriegt ihr nicht. Das will ich selber!" - "So, und seine eigenen Kinder? Hat er das denen auch gesagt? Dann müssen die armen Würmer aus Bravheit frech sein! Das stelle ich mir schrecklich vor." - "Ich auch. Aber gegessen wird die Suppe ja nirgends so heiß wie gekocht, auch bei Sauhupfens nicht. Wahrscheinlich sind sie trotz aller Sprüche stinknormal. Jedenfalls weißt du jetzt, warum es außer gelben, blauen und knallroten Gebeten auch hellrote gibt."

"Moment, das geht mir zu schnell. Gelb ist die Religion, da betet man zu Gott Vater. Knallrot fühlt der Mensch sich selbständig in der Welt. Blau ist das große Wohlgefühl in der Liebe der Göttin, ohne Pflicht und Angst. Aber hellrot?" - "Das hast du doch bei dem Band von Jonathan eben verstanden. Es ist die Weisheit von Indien, darum will er doch dort hin. Manche indischen Denker sind nicht im religiösen Sinn fromm gewesen, zu einem lauen Paradiesesleben aber lädt der Himalaya auch nicht ein. Sie sind ebenso stolz wie die freiesten Selbsverwirklicher bei uns, aber doch anders, deshalb der Gegensatz zwischen Knallrot und Hellrot. Er bedeutet die Spannung von einmalig und einzig. Europa liebt das Bunte, jeder empfindet seine Nation, ja sein ICH als eine einmalige, unverwechselbare, unersetzliche Sinngestalt. Den Indern ist die ganze Ich-Wahrheit aufgegangen, wie Jonathan sie uns auf seinem Band vorgedacht hat: Jeder von uns ist im innersten Kern ICH. Da gibt es nicht Fremdheit und Angst wie vor dem Herr-Gott der Religion. Sondern ein großes, klares, ganz einfaches Bewußtsein: auch ich, dieses winzige Menschenwesen, bin ICH, die unendliche Person im Herzen des Weltalls. Jetzt träume ICH mich, aber in ein paar Jahrzehnten ist der Traum vorbei, und ICH erinnere MICH ewig an mich, MEINE Traumfigur Friedrich, und diese Erinnerung ist mein, d.h. Friedrichs ewiges Leben; darin wird natürlich auch unser Gespräch eben jetzt eine Szene sein. Und auch dein tiefstes ICH, Jocki, ist derselbe Träumer und wird sich ewig an dich erinnern, so daß wir beide jetzt schon am ewigen Leben sind."

"Habt ihr keinen Hunger, Kinder? In der Küche gibts Abendbrot." Bevor die Buben über die Himbeerquarkspeise herfallen, nimmt Friedrich ein hellrotes Brettchen zur Hand und sagt: "Schau, dies Tischgebet paßt jetzt am besten. Lesen wirs zusammen?" - Und sie lesen laut:

Wir sitzen auf verschiedenen Stühlen
und sollen uns trotzdem als eines fühlen,
denn in uns allen lebe ICH
das ewige SELBST, und freue MICH,
weil ICH das Leben selber bin.
Darum hat jedes Leben Sinn
und darf sich stärken Herz und Magen,
um MEIN Licht durch die Welt zu tragen.

"Das Gebet," erklärt Friedrich dann, "hat Jonathan Sauhupf verfaßt, weil der Religionslehrer seiner Tochter gesagt hat, daß es in einer Familie, wo bei Tisch nicht gebetet wird, wie im Saustall zugeht. Sie hat sich dann furchtbar geschämt, stell dir vor, Sauhupf heißen und dann noch nicht einmal beten, das war ihr zu viel. Dann beten wir eben auch, hat Jonathan gedonnert, aber nach unserem Glauben." Und während sie ihr vegetarisches Mahl fortsetzen, erzählt Friedrich seinem Freund, was er vom Glauben der Brahmanen weiß. Zuletzt beten sie gemeinsam das hellrote Dankgebet:

In allen Speisen nährt uns die wahre,
in jedem Trank quillt die Quelle des Heils.
Wir sind dieselben von Jahr zu Jahre -
ICH bin das SELBST eines jeglichen Teils.
Die Zeit rinnt dahin. Doch wir werden nicht enden:
ICH halte das Ganze in sicheren Händen.
In Vielen weiß ich das leider noch nicht.
Wer löscht diesen Durst, zeigt den Menschen ihr Licht?

"Uff! meint Jocki, das klingt zu schön, um wahr zu sein." - "Es ist aber wahr." - "Woher weißt du das? Vielleicht haben die Inder sich das in ihren Gebirgshöhlen bloß zusammengesponnen. Und Jonathan Sauhupf spinnt es ihnen nach. Weil es ihm in seinem Büro so wenig gefällt, weil er nicht bloß ein Minirädchen in einem blöden Apparat sein will, darum bläht er sein winziges ICH solange auf, bis es das ganze Universum umfaßt. Ist das nicht die traurige Geschichte vom Ochsenfrosch? Lachen tät ich ja, wenn alles nicht wahr wäre, und statt ewig in SICH zu ruhen würde der aufgeblasene Mystiker bloß in seine Atome zerdetscht." - "Das ist natürlich die Frage aller Fragen. Auf sie gibts aber auch die Antwort aller Antworten. Dafür ist es freilich heute zu spät. Bis nächsten Mittwoch!"


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