Jürgen Kuhlmann

Kat-holisch

Ihr Gesicht verbirgt die Frau mit den Händen, tiefer blickend schaue ich ihr - im Pariser Holographie-Museum - in die weit offenen Augen. Seither schreibe ich »kat-holisch« am liebsten so. Das wahre Hologramm ist die Kirche. Sie wäre ungültig ohne die Dauerspannung zwischen ausgrenzender Oberfläche und einbeziehender Tiefe, wertlos wie einer Scheckkarte Kopie. Lehrte der christliche Glaube bloß, was alle Welt von ihm zu wissen meint, so wäre die Kirche ein ideologischer Apparat neben anderen, unentbehrlich den ihm Eingepaßten, nützlich seinen Apparatschiks, doch für die meisten Menschen der einen Erde ohne Strahlkraft noch Zukunft.

Außer der einer Sekte. Dazu würde die Christenheit immer schneller, sähe wacher Glaube nicht in der Tiefe des Hologramms jenes andere Bild funkeln, das mit göttlicher Wunderkraft scheinbar Unmögliches verbindet: Kämpferisches Profil gegen jede ideologische Enge und friedlichste Harmonie mit jedem anderen Glauben. »Selig die Friedenstifter«, verheißt Er, der »nicht den Frieden zu bringen gekommen ist, sondern das Schwert«. Nicht nur Computer versagen da, auch der wissen wollende Verstand setzt aus. Was vernimmt kat-holisch glaubende Vernunft?

Ein Spannungsfeld Gott-menschlicher Polaritäten, kraft dessen jeder Mensch in dem Maße recht hat, wie er seinen Lebenssinn, d.h. seine besondere Balance, vor allen Mitmenschen verantworten kann. Kann jemand das nicht (z.B. als Nazi im KZ oder als Kinderschänder), dann ist sein angeblicher Gott in Wahrheit ein Teufel. Kannst du es aber - so ermutigt kat-holischer Glaube jeden Dialogpartner - dann achte ich dein Bekenntnis als den Ausdruck deiner Wahrheit und hoffe, daß es nicht weniger stimmt als meines, obwohl weder du noch ich verstehen können, wie. Laut kat-holischem Dogma ist Gottes (und also unser) drei-einig spannungsreiches Geheimnis unbegreiflich. Ahnen können wir es aber. Sonst wäre solch unfanatische Offenheit gar zu schwer.

Denn das Christentum enthält zuinnerst auch die fremden Pole. Nicht sprachprägend, nicht so, daß sie offiziell für christlich gelten dürfen. Aber als leise Hinweise, die der glaubenden Vernunft die Hoffnung ermöglichen: dieselben Sätze, welche bei uns als falsch gelten müssen, könnten drüben bei den anderen doch eine Wahrheit bedeuten, einen göttlichen Sinnpol, dessen Vereinbarkeit mit dem der Kirche aufgetragenen zwar zu hoffen ist aber nie ganz zu durchschauen und deshalb der Öffentlichkeit nicht zumutbar. Denn »man«, das unmystisch christliche Volk, hat ein Recht auf seine widerspruchsfreie Kirchensprache, in deren Klarheit es leben kann. Wo das Ja zur blanken Oberfläche des Hologramms aber von seiner Tiefe nicht nur absieht sondern sie (und folglich die fremden Wahrheitspole) ausdrücklich leugnet, dort wird aus Glauben Ideologie. Auch wenn der Inquisitor die Andersgläubigen nicht mehr verbrennt: Solange er sie zu Irrenden erklärt, ist Gottes Liebe verraten, das Licht auf dem Berg getrübt, das Salz schal geworden. Drei Beispiele:

Ist Christus Gott? Ja, fühlt beseligt Tomas (Joh 20,28), und auch auf seinen Glauben gründet sich die Kirche. Nein, widersprechen Juden wie Moslems. Und Jesus stimmt ihnen zu: »Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut außer Gott dem Einen« (Mk 10,18). Insofern a) das Wort »Gott« den Vater meint und b) der Name »Jesus« die menschliche Natur bezeichnet, ist Jesus nicht Gott. Diesen kritischen Sprachgebrauch darf das innerchristliche Dogma den anderen nicht verbieten, also soll ein Christ ihr Zeugnis achten, es hilft auch ihm gegen die Versuchung, Endliches zu vergötzen.

Darf, umgekehrt, ein glaubendes Ich sich als Selbstvollzug des göttlichen ICH fühlen? Nein, erschrickt der Normalchrist, ihm bleibt Gott stets das hohe DU. Ja, glauben Hindu-Mystiker wie auch unser Meister Eckhart. Und irren nicht; denn »ehe Abraham ward, bin ICH« sagt Christus (Joh 8,58) und »nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir« (Gal 2,20), bezeugt Paulus und fährt fort: »Ihr alle seid Einer in Jesus Christus« (3,28): Einer, nicht bloß irgendwie eins, sondern in Person das Ur-ICH selbst, ähnlich wie in jedem Haaransatz wahrhaft du selbst, dein Gesamt-Ich, es spürt, wenn an dem Haar gezupft wird. O Freude: »Kein Kopfhaar kommt um« (Lk 21,18)!

Sollen wir nach Gott fragen? Gewiß, weiß der Christ. Nein, erwidern Atheisten. Und gibt Jesus (Joh 14,9) ihnen nicht recht? »Wer mich sieht, sieht den Vater. Wie kannst du sagen: zeig uns den Vater?« Das sagt ein Mensch, der eben noch seinen Freunden die Füße wusch. Dürfen wir demnach solchen, die von Gott absehen, nicht widersprechen? Doch, wir sollen es. Denn wir sind ein anderer Wahrheitspol als sie. Widersprechen heißt aber nicht so tun, als hätten sie unrecht. Sondern wir seien wie ein Trompetenstoß ins Geflirre der Streicher, weil ohne ihn der gemeinsamen Musik Entscheidendes abginge. Recht kann ein Atheist aber auch haben; denn wie sagte so schön ein berühmter Theologe: »So wie den Bodensee gibt es Gott nicht.« In Aida tritt kein Verdi auf.

Wem jetzt schwindlig wird, weil jede Sinnspannung mit den anderen unverträglich scheint, der erinnere sich, daß uns kein Wissen rettet, sondern der Glaube: an Gott, der größer ist als unser Herz. Eins sehen wir ein: daß wir nichts ganz einsehen. Solch »gebildetes Nichtwissen« (das Nikolaus von Kues vor über einem halben Jahrtausend entdeckt hat) wird der zusammenwachsenden Menschheit zum Überlebensprinzip. Stellen wir uns vor, wie einmal jedes Kind lernt: Meine Tradition ist wahr, aber nur solange sie sich auf ihre Gegensätze bezieht und die größere Wahrheit achtet, die in der Gesamtheit unserer Spannungen besteht. Diese Menschheit hätte beide Geistesseuchen überwunden: Fundamentalismus wie Relativismus. Nicht würde jede Gruppe allein recht haben wollen, doch wäre einer jeden ihr überkommener Sinn-Pol verbindlich wahr.

Gegen Verfinsterungen (draußen wie drinnen) für »Gottes vielbunte Weisheit« (Eph 3,10) zu kämpfen: um dieses evangelische = kat-holische Profil braucht uns nicht bange zu sein. Laßt der Apparatschiks Kopien zerfallen und die Utopien der Träumer verwehen - Gottes Hologramm leuchtet auch dem kommenden Jahrtausend.

Veröffentlicht im Sammelband »Christsein 2001«, anläßlich des 50jährigen Bestehens der Zeitschrift »Christ in der Gegenwart« 1998 bei Herder herausgegeben von Johannes Röser (S. 217-219)


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