Jürgen Kuhlmann

Der Prophet des heilenden Wassers

Anlaß: Der hundertste Todestag von Sebstian Kneipp am 17. Juni 1997
Kernaussage: Nicht nur seine Jünger: alle Christen sollen seiner gern gedenken, weil auch dank ihm
die unchristliche Leibverachtung überwunden worden ist.
Kurzinhalt: Gott beruft Menschen, um an Vergessenes zu erinnern -
des Wassers Heilkraft von Kneipp neu erfahren - ein Arzt begegnet dem Propheten der Ganzheit -
überharte Jugend - das Bad im eisigen Strom -
Weltbad Wörishofen - Würde des Leibes - ein Tip fürs Badezimmer
Ziel: Der Hörer dankt dem Schöpfer für seinen Leib und
erwägt, ob er nicht gut daran täte, von Pfarrer Kneipp
auch ganz konkret das eine oder andere zu lernen.


Reich an Wunderbarem ist die Schöpfung, überreich, wir können gar nicht alles erfassen. Zu viele segensreiche Kräfte wirken in uns wie um uns her, als daß der Zeitgeist einer Epoche sie alle gleichermaßen einschätzen und einsetzen könnte. Es muß deshalb auch bei wichtigen Fragen der Lebensführung etwas Ähnliches geben wie bei den Gewändern der Damenwelt: auch bei dem, was man weiß und was man tut, herrscht eine Art Mode. "Alles hat seine Zeit" (Pred 3,1), mal gilt die eine Naturkraft mehr, mal die andere. Solcher Modewechsel ist nicht schlimm, führt er doch über längere Zeiten zu höherer Gerechtigkeit, weil alle wichtigen Wahrheiten irgendwann dran sind.

Schlimm ist es aber, wenn ein lebensentscheidendes Element zeitweise ganz vergessen wird. So gerät Gottes kunstvolles Mobile aus der Balance; statt frei zu schwingen hängt die Schöpfung arm und häßlich bloß mehr von einem einzigen Prinzip herunter. Dann greift der Schöpfer sorgsam ein, oft indem er einen Menschen beruft, der in persönlicher Not jene vergessene Wahrheit neu als hilfreich entdeckt und in der Welt wieder zur Geltung bringt. Mit Recht heißen solche Menschen groß; ihre Erwählung soll uns Kleinere nicht eifersüchtig machen, sondern anspornen, auch selber, wo immer ein gottgewolltes Gleichgewicht abzustürzen droht, beherzt einzugreifen, sei es im eigenen Leben, sei es im Umkreis unserer Verantwortung. Darum geht es, sooft wir uns eines großen Menschen erinnern, auch am 17. Juni 1997, dem hundertsten Todestag von Sebastian Kneipp.

Wer seinen erstaunlichen Lebensweg bedenkt, vom bitterarmen Kellerkind, das weder mit den Nachbarskindern spielen noch im Gymnasium lernen darf, immer nur arbeiten muß, bis hin zum weltberühmten Heiler, hochgeehrt von Papst, Fürsten und Millionären - der darf in diesem Schicksal eine höhere Absicht am Werk sehen, die unsere wissenschaftliche Zivilisation an etwas erinnern wollte, was sie fast vergessen hatte: die Heilkraft des Wassers.

Neu ist deren Kenntnis nicht. Anderthalb Jahrtausende vor Christus schon hat man in Indien gerufen: "Ihr Wasser, macht uns kräftig! Die Himmelswasser mögen uns zur Hilfe und zum Trunk gereichen, von ihnen ströme uns Segen zu. Die über schönes Gut herrschen, sie flehe ich um Arznei an. Im Wasser ist alle Arznei vereint. Ihr Wasser möget meinem Leib Arznei, Schutz in Fülle geben, daß ich noch lange die Sonne schaue" [RV 10,9,3-7; B 13].

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts galt jedoch in der Medizin des fortschrittlichen Europa das schlichte Wasser nichts mehr. Da wurde analysiert, gemessen, gewogen; fasziniert erforschten die Fachleute das ungeheuer komplexe Spiel der elektrischen und chemischen Regelmechanismen, die miteinander unseren Körper bilden. Ihren Zusammenhang hat die Wissenschaft auch unserer Tage noch keineswegs völlig durchschaut, ist es da ein Wunder, daß die Forscher vor 150 Jahren von ihm wie gebannt waren? Wir sollen sie deshalb nicht schelten, dürfen aber dankbar sein, daß gegen ihre Einseitigkeit eine Gegenkraft sich erhoben und weithin durchgesetzt hat: der Dorfpfarrer Sebastian Kneipp.

Lassen wir einen Arzt erzählen, wie er ihm begegnet ist: "Ich hörte damals zum erstenmal von Kneipp sprechen, kümmerte mich aber zunächst sehr wenig um ihn. Da kam eines Tages eine Bauersfrau zu mir in meine Sprechstunde, um Heilung für ihr Fußleiden zu suchen. Sie litt an einem Fußgeschwür von ziemlicher Ausbreitung und Tiefe, und zwar schon seit 12 Jahren ... Als junger Arzt, der kaum ein Jahr von der Universität weg war, so glaubte sie wohl, würde ich auch die allerneuesten wissenschaftlichen Kenntnisse und Methoden der Heilung besitzen, und deshalb kam sie wohl zu mir. So nehme ich heute an. Ich gab mir natürlich alle Mühe, den Fuß zu heilen, behandelte ihn streng wissenschaftlich ... aber der Fuß wollte trotzdem nicht heilen, was mich selbst bedrückte, da doch die Bauersfrau alle Hoffnung auf mich gesetzt hatte. Eines Tages blieb die Kranke aus. Nach etwa sechs Wochen kam sie wieder, genau kann ich die Zeit nicht mehr angeben, aber die Frau war heiter gestimmt und zeigte mir ihren Fuß. Er war vollkommen geheilt ... Ja, ich bin sehr froh, sagte sie, aber geholfen hat mir der Pfarrer Kneipp. Wie es mir damals zumute war, kann man sich ja denken." [B 88]

Obwohl ein solcher Schritt den jungen Arzt bei seinen Kollegen unmöglich machen mußte, hat er den Pfarrer bald besucht; der sagte zu ihm: "Sehen Sie, Herr Doktor, Sie haben bei der Frau immer nur den einzelnen Teil behandelt und eigentlich für die Heilung selbst nicht viel getan. Die Frau hatte lauter Krampfadern, dadurch war die Blutzirkulation gestört und dadurch die Heilung gehemmt." Der Arzt sperrte sich nicht dagegen, "sofort den grundsätzlichen Gegensatz zwischen einem solchen einfachen natürlichen Prinzip der Heilung und meinem bisher für streng wissenschaftlich gehaltenen Prinzip der Heilung durch Unterdrückung der Symptome zu erkennen. Ganz besonders nahm mich der Gedanke, daß man in der Heilung in erster Linie auf die Weckung und Beförderung der Heilkräfte einwirken müsse, mit seiner ganzen Macht und Herrlichkeit gefangen." [B 89]

Wie konnte ein schwäbischer Dorfpfarrer es schaffen, daß sein Nest zu einem weltbekannten Heilbad wurde? Durch harte Erfahrung am eigenen Leib. Geboren am 17. Mai 1821, hat Sebastian Kneipp eine überaus harte Kindheit und Jugend durchgemacht. Von klein auf mußte er im Keller am Webstuhl schuften. Er erzählt: "Von meinem 11. bis zum 21. Jahre, also volle zehn Jahre, habe ich keine einzige Stunde gehabt, in der mich mein Leben zufriedengestellt hätte ... Du mußt Priester werden! So rief fortwährend eine Stimme in meinem Innern. Tag und Nacht fraß der Kummer in meinem Herzen ... Wenn ich meinen Eltern mitteilte, ich möchte studieren, und sie bat, man möge mich studieren lassen, so war gewöhnlich die Antwort 'Wir haben kein Geld und wollte dich der Herrgott zum Studenten, dann hätt' er uns auch Geld gegeben.' Wir waren vier Kinder und auf unserem Anwesen lasteten noch Schulden. Dadurch war über mich der Stab gebrochen und es hieß: 'Fleißig in den Keller, fleißig weben und - Studieren aus dem Kopf lassen'!" [B 28 f]

Das bringt er aber nicht fertig. Immer wieder bettelt er Priester um ersten Lateinunterricht an - vergebens. Endlich - er ist schon 21! - erbarmt sich ein verwandter Kaplan und bereitet ihn fürs Gymnasium vor; mit 23 darf er in Dillingen eintreten. Wie ein Kleiderschrank überragt er seine Mitschüler. Mit 27 hat er sein Abitur, im Sommer 1849 ist er Theologiestudent in München. In welcher Armut jedoch! "Meine Tagesnahrung war: morgens nichts; mittags brauchte ich 4 Kreuzer, entweder um 3 Kreuzer saure Lunge oder Kuttelflecke oder eine ähnliche Kost, welche nicht über 3 Kreuzer kostete, und um 1 Kreuzer Brot. Am Abend kaufte ich um 2 Kreuzer Suppe und um 1 Kreuzer Brot." [B 35] Da wird er schwer krank. Die Kindheit im feuchtkalten Webkeller wirkt nach. Bluthusten tritt auf, bald verbringt er die halbe Zeit im Bett. Sollen alle Plagen umsonst gewesen sein? Oder läßt Gott doch ein Wunder geschehen? Kneipp erzählt:

"Eines Tages ging ich in meiner Trübseligkeit mit einem Studierenden zur Hofbibliothek, mehr um zerstreut zu werden, weil ich nur ganz wenig lesen konnte. Schon das Lesen strengte mich zu sehr an. Auf die Frage, was ich lesen wollte, antwortete ich: Ich weiß es selber nicht. Dann bot man mir einen Katalog an, in welchem ich las und eine Schrift fand mit dem Titel: "Unterricht von Krafft und Würkung des frischen Wassers in die Leiber der Menschen, besonders der Kranken" ... Den Kranken wird darin empfohlen, sich in einem kalten Quell oder Flusse morgens und abends zu baden ... Ich blätterte hin und blätterte her; da stand Unglaubliches. Am Ende, so blitzte ein Gedanke auf, findest du gar deinen selbsteigenen Zustand. Ich blätterte weiter. Richtig, das paßte, das stimmte; das war fast bis aufs Haar getroffen. Welche Freude, welcher Trost! Neue Hoffnungen elektrisierten den welken Leib und den noch welkeren Geist. Das Büchlein wurde der Strohhalm, an den ich mich klammerte." [B 36]

Nach Dillingen zurückgekehrt, lief er am 16. November 1849 abends mit keuchenden Lungen zur Donau, die schon leicht von Eis überzogen war. Erhitzt wie er war, riß er die Kleider vom Leibe, tauchte sekundenschnell bis an den Hals ins eiskalte Wasser, stieg wieder heraus, zog sich - ohne Handtuch - eiligst an und rannte nach Hause, wo er im vollen Schweiß, aber angenehm erhitzt eintraf. Zu seiner großen Freude verlief die Nacht ungestört bei tiefem Schlaf. So wiederholte er die Roßkur zwei- bis dreimal in der Woche. "Müde ging ich hinaus, neu aufgefrischt und gestärkt ging ich jedesmal heim." [B 37]

Seine Heilung wurde zum Durchbruch nicht nur für ihn selbst, sondern auch für zahllose andere, die dank seiner Arbeit des Wassers Heilkraft an sich erfuhren. Sein erster Patient wurde ein lungenkranker Mitstudent im Münchner Seminar, den er in Tränen antraf, weil der Arzt ihm das zur Weihe nötige Gesundheitszeugnis verweigerte. Sebastian erzählte ihm von seiner Heilung, und um Mitternacht wurde auch er im Gärtnerhäuschen heimlich mit kaltem Wasser begossen. "Die Wirkung war außerordentlich: sein Aussehen wurde von Woche zu Woche besser, sein heftiger Husten verschwand, seine Kräfte vermehrten sich, der gute Herr bekam Feuer und Blut und wurde zur allgemeinen Freude gesund." [K 34]

Die Kneippkur ist geboren. Im Mai 1855 tritt der junge Priester seine Stelle in Wörishofen an, damals ein Dörfchen mit weniger als tausend Einwohnern. 42 Jahre später stirbt er dort , am 17. Juni 1897 um 4.30 Uhr in der Früh, während seine Gemeinde sich anschickt, am Fronleichnamsfest jenen heiligen Leib unseres Herrn zu feiern, dem in sovielen seiner kranken Glieder Sebastian soviel Gutes getan hat - kein Sterbedatum hätte besser gepaßt. Die Zahl der Trauergäste wird auf sechstausend geschätzt. [B 112]

Hundert Jahre später - was bleibt? Nun, für seine Wörishofener ist er immer noch ihr "Vater Kneipp". Die Leser seiner Bücher ["Meine Wasserkur", "So sollt ihr leben" und "Mein Testament für Gesunde und Kranke"] finden einen liebenswürdigen Menschen und manch wertvollen Ratschlag. Und wer Erkältungen nicht bloß passiv erleidet oder pharmazeutisch bombardiert, sondern die Heilkraft der Natur mit kalten Ganzwaschungen und Schenkelgüssen anregt, der weiß, wem er für die dann einsetzende Lebenswärme dankbar sein darf.

Hat Sebastian Kneipp aber auch, über die Schar seiner Jünger hinaus, eine Bedeutung für die ganze Christenheit? Ich glaube, ja. Ein Pfarrer, der aus Kanne oder Schlauch todkranke Menschen mit kaltem Wasser übergießt und so gesund macht: dieses Bild hat mitgeholfen, im Bewußtsein der Christen die Würde des Leibes zu stärken.

Kneipp selbst sagt es so: "So erhaben der menschliche Geist ist, ein Bild des Schöpfers durch seinen Verstand und freien Willen, so kann dieser Geist doch nur in Vereinigung mit dem Leibe seine Aufgabe auf Erden erfüllen. Dieser ist gleichsam die Wohnung, das Werkzeug, dessen er zur Vollführung einer Aufgabe auf Erden bedarf. Wie es nun ein großer Unterschied ist, ob man in einem festen, gesunden Hause oder in einer morschen, baufälligen Hütte wohnt, so ist es auch für den menschlichen Geist etwas ganz anderes, ob der Leib gesund und kräftig oder gebrechlich und schwach ist." [K 145]

Leider hatte der Leib früher vielen Christen mehr als Gefängnis oder Last der Seele gegolten statt als unser wunderbares Lebens-Organ. Daß die unchristliche Leibverachtung in der heutigen Kirche nur mehr selten anzutreffen ist, verdankt sie - neben anderen - auch dem unermüdlichen Einsatz des gottgesandten Wasserpfarrers, der sich nicht zu gut war, jahrzehntelang mit Herz und Hand den Leibern der Ärmsten zu dienen. Möge sein Werk weiterhin gedeihen! Was hätte er dazu gesagt, daß selbst hundert Jahre nach seinem Tod in unserem ach so hoch entwickelten (oder runterentwickelten?) Land die allermeisten Haushalte im Badezimmer nicht einmal einen simplen Wechselduschkopf besitzen, der den daumendick sanften Strahl für den all-abendlich wohltätigen Knieguß spendet ?

Verwendete Literatur: [K]: Waibel, Wendelin, Kneipp - wie ich ihn erlebte (München 1955)

[B]: Wolf Josef / Burghardt Ludwig, Ein Bauerndorf wird Weltbad (Bad Wörishofen 1966)

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samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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