Jürgen Kuhlmann

Wahrheit im Durchbruch

Besprechung des Buches "Die Konvertiten" von Christian Heidrich

"Nimm und lies!" Was Augustinus in seiner entscheidenden Stunde hörte, rufe ich dem Leser zu. Damals griff der verwirrte Rhetorikdozent zum Römerbrief des Paulus, mein Rat bezieht sich auf das Buch "Die Konvertiten" von Christian Heidrich. Scheint die Parallele übertrieben? Augustinus erzählt: "Wie ein Licht ergoß sich Gewißheit in mein Herz."

Wie soll ein Buch über eine Unmenge Konversionen - in verschiedene Richtungen - heute ähnlich erleuchtend wirken wie damals der Brief des Konvertiten Paulus? Wenn wir von der Jüdin Edith Stein erfahren, daß sie nach ihrer Taufe in ein Kloster geht, von der Jüdin Simone Weil, daß sie sich weigert, die Gottesfrage zu stellen, und sich erst ganz zuletzt taufen läßt, nicht von einem Priester aber von einer Freundin aus dem Wasserhahn; wenn der evangelische Theologieprofessor Georg Fohrer zum Judentum übertritt und umgekehrt der Judenbub Aaron Lustiger zum Kardinal von Paris wird; wenn der begeisterte Kommunist Arthur Koestler sich selbst aus der Partei exkommuniziert und der katholisch gewordene Jude Richard Gilman eines Tages auf der Kirchentreppe nicht mehr weiter kann weil sein Katholischsein zu Ende ist - wie soll ein dermaßen verwirrendes Buch zu innerer Gewißheit helfen?

Das klingt fast noch unglaublicher als die berühmte "Blitzkonversion" von André Frossard, mit der Heidrich seine Darstellung eröffnet: wie der 20jährige, total glaubenslos aufgewachsene Kommunistensohn 1935 eine Pariser Kapelle betritt und, nur Minuten später, als überzeugter Katholik zu seinem Freund sagt: "Gott existiert, und alles ist wahr."

Warum empfehle ich das Buch? Weil es beide aufrütteln kann: die zum Fundamentalismus Versuchten, und auch die dem Relativismus Zuneigenden. Ein Fundamentalist muß schon sehr abgebrüht sein, um sich dem überwältigenden Eindruck geistlicher Buntheit zu entziehen, der ihn aus diesen Seiten anspringt. Da ist etwa Alfred Döblin, der 1919 Gott nicht braucht ("er steht leichenhaft in mir herum"), 1940 vor dem Kruzifix einer französischen Kathedrale zum Glauben der Christen findet und für dessen Bekenntnis beim 65. Geburtstag 1943 von Bert Brecht verspottet wird (im Gedicht "Peinlicher Vorfall"). Oder Reinhold Schneider, dessen Untergrundschriften während der Nazizeit so viele Menschen aufgerichtet haben, der aber im letzten "Winter in Wien" überall nur mehr "eine Kathedrale der Sinnlosigkeit" erblickt.

Der Relativist mag, umgekehrt, feststellen: So widersprüchlich die Wege dieser Menschen auch erscheinen - von außen gesehen, wenden die einen sich ja gerade der Überzeugung zu, von der die anderen sich abkehren - versteht der Autor es dennoch, jeden solchen Weg mitzuwandern und als "Durchbruch zur Wahrheit" glaubhaft zu machen.

Darüber verblüfft nachsinnend, erkenne ich: Daß alles relativ ist, gehört selbst zu den absoluten Wahrheiten! Eben samt seiner Bezogenheit auf andere Standpunkte ist ein gelebter Glaube wahr. Was auf den 382 Seiten des Buches geboten wird, sind lauter packende Fotos einer großen, wild zerklüfteten Gebirgslandschaft. Je nach dem Ort der Kamera sieht man anderes. Doch jede Perspektive ist wahr. Allmählich bildet sich im Geist des Lesers ein Relief-Panorama unserer Kultur. Irgendwo dort findet sich auch seine eigene Sicht des Ganzen, samt deren Zukunft, wenn er diesen oder jenen geistigen Weg weitergeht. Die Wahrheit konkretisiert sich auf eine gültige Weise als meine Wahrheit: Diese Einsicht hat die Lektüre mir beglückend verstärkt. Darum: Nimm, lies!

[Einen Akzent hätte ich anders gesetzt. Ist Reinhold Schneiders Konversion wirklich gescheitert? War seine letzte Kehre nicht eher ein Sprung von der Wahrheit Jesu hinüber zur anderen Wahrheit der "tausend Buddhas"? (Von einer solchen berichtet auch Raimon Panikkar.) Die christliche Liturgie preist zwar das Ewige Leben, betet aber zugleich um die Ewige Ruhe. Wer nach qualgespannten Jahrzehnten nur mehr Frieden ersehnt, kommt mir nicht gescheitert vor, eher als Konvertit hin zu einer volleren Gesamtwahrheit.

Wofür ich dem Autor am meisten danke, ist der Hinweis auf Walker Percy. Zwei seiner Meisterwerke stehen auf Englisch in der Nürnberger Stadtbibliothek.]

Christian Heidrich: Die Konvertiten. Über religiöse und politische Bekehrungen. Carl Hanser Verlag München, Wien 2002. 382 S., 24,90 €.

(Erschienen am 25. Mai 2002 in der "Nürnberger Zeitung")


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