Jürgen Kuhlmann

Der Jüngste Tag

Oft wird die Engelsbotschaft nach der Himmelfahrt nur verkürzt wiedergegeben. Vollständig lautet sie: "Ihr Leute aus Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel hinauf? Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen worden ist, wird ebenso kommen wie ihr ihn habt in den Himmel fahren sehen" (Apg 1,11). Christi Wiederkunft am Ende der Tage - ist das nicht reine Mythologie? Wie sollen wir uns dieses Geschehnis vorstellen? Mir scheint: vorstellen sollen wir es uns genauso, wie es in der Bibel geschildert wird und wie viele Gemälde es zeigen. Zugleich sollen wir aber wissen, was wir bei dieser Vorstellung zu verstehen haben.

a) Einem jeden geht beim Sterben nicht nur das eigene kleine Leben zuende, sondern buchstäblich die ganze Welt unter. Jeder von uns ist nicht nur, was er an sich ist, ein vielfach beschränktes Etwas, sondern (wie Aristoteles weiß und die Hochscholastik ihn unermüdlich zitiert) "irgendwie alles" das, worauf Sinne und Vernunft sich richten. Des Nachbarn herrliche Blütenstaude "gehört" mir nicht, und dennoch "bin" ich geheimnisvoll auch sie, sooft sie mich freut. So auch das ganze Meer, obwohl nur wenige seiner Moleküle mich streicheln, so der unermeßliche Sternenhimmel. Das gesamte Universum, sofern es auch für mich ist, bin ich insofern selbst - und werde es mitreißen in meinen, unseren Sturz. Dann aber wird auf den Wolken dieses bedrohten Himmels der Menschensohn erscheinen.

b) In einem Fahrtenlied heißt es: "Kommt dann der Morgen, sind sie schon weiter, über die Berge, wer weiß, wohin." Das ist die Strophe des Fortschritts. Kaum meint ein armes, vorurteilsbehaftetes Individuum, ihn endlich gepackt zu haben, ist er schon über alle Berge. Wer das öfter erlebt, möchte verzagen. Wozu nach dem neuesten Buch greifen, wenn es doch, habe ich es erst in Händen, schon wieder veraltet ist? Gegen den Igel Zeitgeist und seine Frau Modernität kommt der hurtigste Hase nicht an. Soll er also schlapp irgendwo liegenbleiben?

Nein. Seien wir nach Kräften Zeitgenossen, in überlegener Gelassenheit jedoch. Am Jüngsten Tag werden auch unsere Enkel überaus altmodisch aussehen. Christus anderseits, auf den auch die letzten Christen noch erwartungsvoll harren werden und der am Ende alles als seinen Leib zusammenfassen wird, Er ist jetzt schon unser Leben. Die Freundschaft mit Ihm, die unseren Jahrzehnten Identität und Zusammenhalt schenkt, kann auch in Jahrmillionen nicht veralten, ist von keinem Fortschritt überholbar. Ich lege die Bekenntnisse des Augustinus neben die Zeitung von vorgestern und merke erleichtert, welche Nachricht aktueller ist. Mag das Fleisch zusehends rascher welken, der Geist bleibt - nicht nur ewig, sondern sogar in der Zeit - frisch und jung. Derselbe Christus, der in grauer Vorzeit (wie es heutigen Kindern vorkommt) meine Kindheit geformt hat, kommt am Jüngsten Tag. Maranatha!

c) Alle Lebewesen der Erde bilden eine einzige große Familie. An einer Stelle der Ursuppe sind wir entstanden, irgendwann wird es mit uns wieder aus sein. Denn aus dem Sonnensystem dürften wir kaum entkommen, und ewig brennt die Sonne nicht. DANN, wenn alles irdische Werden vorbei ist, wird unser aller SEIN durch und durch leuchten, weil Jener in ihm aufstrahlt, der das wahre Licht ist für alle Wesen, die in diese Welt kommen. Dann laß mich auch dabei sein, wenn der Herr einst wiederkommt.

d) Wir sind alle darauf aus, Bleibendes zu schaffen. Die allermeisten sind aber nicht in dem Sinn schöpferisch, daß sie Opern oder Statuen zustande brächten, die Jahrhunderte überdauern, ihr Lebenswerk vergeht wie die Kondensspur eines Düsenflugzeugs am blauen Himmel. So scheint es. Ihnen allen, jenen "Kleinen", die Jesus so unendlich wichtig nimmt, kann der Ausblick auf den Jüngsten Tag ein befeuernder Trost sein: nicht minder dauernd als das höchste Kunstwerk ist die alltäglichste Tat der Güte; einmal geschehen, gehört sie unverlierbar zum Jetzt der selbstbewußten Ewigkeit. Ihrer ist die relative Unsterblichkeit der Erfolgreichen nur ein geringes Abbild: "Nicht darüber freut euch, daß euch die Geister untertan sind. Freut euch vielmehr, daß eure Namen im Himmel eingeschrieben sind" (Lk 10,20)! Wie sind sie eingeschrieben? Als Noten, verheißt uns eine Legende aus den "Träumereien an französischen Kaminen" (des Krieges 1870) von R.v.Volkmann-Leander. Ja: Mein Gott, welche Freude!

Die himmlische Musik

Als noch das goldene Zeitalter war, wo die Engel mit den Bauernkindern auf den Sandhaufen spielten, standen die Tore des Himmels weit offen, und der goldene Himmelsglanz fiel aus ihnen wie ein Regen auf die Erde herab. Die Menschen sahen von der Erde in den offenen Himmel hinein; sie sahen oben die Seligen zwischen den Sternen spazierengehen, und die Menschen grüßten hinauf, und die Seligen grüßten herunter. Das Schönste aber war die wundervolle Musik, die damals aus dem Himmel sich hören ließ. Der liebe Gott hatte dazu die Noten selber aufgeschrieben, und tausend Engel führten sie mit Geigen, Pauken und Trompeten auf. Wenn sie zu ertönen begann, wurde es ganz still auf der Erde. Der Wind hörte auf zu rauschen, und die Wasser im Meer und in den Flüssen standen still. Die Menschen aber nickten sich zu und drückten sich heimlich die Hände. Es wurde ihnen beim Lauschen so wunderbar zumut, wie man das jetzt einem armen Menschenherzen gar nicht beschreiben kann.

So war es damals; aber es dauerte nicht lange. Denn eines Tages ließ der liebe Gott zur Strafe die Himmelstore zumachen und sagte zu den Engeln : "Hört auf mit eurer Musik; denn ich bin traurig!" Da wurden die Engel auch betrübt und setzten sich jeder mit seinem Notenblatt auf eine Wolke und zerschnitzelten die Notenblätter mit ihren kleinen goldenen Scheren in lauter einzelne Stückchen; die ließen sie auf die Erde hinunterfliegen. Hier nahm sie der Wind, wehte sie wie Schneeflocken über Berg und Tal und zerstreute sie in alle Welt. Und die Menschenkinder haschten sich jeder ein Schnitzel, der eine ein großes und der andere ein kleines, und hoben sie sich sorgfältig auf und hielten die Schnitzel sehr wert; denn es war ja etwas von der himmlischen Musik, die so wundervoll geklungen hatte. Aber mit der Zeit begannen sie sich zu streiten und zu entzweien, weil jeder glaubte, er hätte das Beste erwischt; und zuletzt behauptete jeder, das, was er hätte, wäre die eigentliche himmlische Musik, und das, was die andern besäßen, wäre eitel Trug und Schein. Wer recht klug sein wollte - und deren waren viele -, machte noch hinten und vorn einen großen Schnörkel daran und bildete sich etwas ganz Besonderes darauf ein. Der eine pfiff a und der andere sang b; der eine spielte in Moll und der andere in Dur; keiner konnte den andern verstehen. Kurz, es war ein Lärm wie in einer Judenschule. - So steht es noch heute.

Wenn aber der Jüngste Tag kommen wird, wo die Sterne auf die Erde fallen und die Sonne ins Meer und die Menschen sich an der Himmelspforte drängen wie die Kinder zu Weihnachten, wenn aufgemacht wird - da wird der liebe Gott durch die Engel alle die Papierschnitzel von seinem himmlischen Notenbuche wieder einsammeln lassen, die großen ebensowohl wie die kleinen, und selbst die ganz kleinen, auf denen nur eine einzige Note steht. Die Engel werden die Stückchen wieder zusammensetzen, und dann werden die Tore aufspringen, und die himmlische Musik wird aufs neue erschallen ebenso schön wie früher. Da werden die Menschenkinder verwundert und beschämt dastehen und lauschen und einer zum andern sagen: "Das hattest du! Das hatte ich! Nun aber klingt es erst wunderbar herrlich und ganz anders, nun alles wieder beisammen und am richtigen Orte ist!"

Ja, ja! So wird's. Ihr könnt euch darauf verlassen.

[Reclam-Heft 6091/92,117 ff]


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