Jürgen Kuhlmann

Himmlisches Löwenstroh

Predigtgedanken zum zweiten Advent 2001

Gottes Wort ist der Felsengrund, auf dem unser Herz steht, nicht bloß steht sondern fest auftreten kann, dieser Boden schwankt nicht. Treten wir also unbesorgt fest auf, fürchten wir nicht solche anderen Stimmen in uns, die diesem Wort widersprechen. Die tröstliche Messias-Verheißung haben wir gehört: "Man tut nichts Böses und frevelt nicht auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist voll der Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer erfüllt" (Jes 11,9). Zweieinhalbtausend Jahre nachdem das niedergeschrieben wurde, ist derselbe Zionsberg, d.h. Jerusalem, voller Haßgeschrei und vergossenem Blut. Gottes Reich? Davon ist nichts zu sehen.

Geben wir Bariona das Wort, dem Rebellen aus Sartres Weihnachtsstück, uraufgeführt 1940 im deutschen Gefangenenlager: "Geht nach Hause, gute Leute! Und seid klüger in Zukunft. Der Messias ist nicht gekommen, und soll ich es euch sagen: Er wird niemals kommen! Ich weiß es genau: Diese Welt ist ein unaufhörlicher Absturz. Der Messias, das wäre einer, der diesen Absturz aufhielte, der plötzlich den Lauf der Dinge umstürzte und die Welt wie einen Ball in die Luft springen ließe. Dann sähe man Ströme, die aus dem Meer zu ihren Quellen zurückflössen, und Blumen wüchsen auf Felsen, und die Menschen besäßen Flügel und kämen als Greise zur Welt und verjüngten sich dann bis zur Kindheit! Die Welt eines Verrückten stellt ihr euch da vor. Ich habe nur eine Gewißheit, daß immer alles fallen wird: die Ströme ins Meer, alte Völker unter das Joch junger Völker, menschliches Versuchen ins ewige Scheitern und wir in das verfemte Greisenalter! Geht heim!"

Ihm antwortet der König Balthasar: "Bariona, es ist wahr, wir sind sehr alt und weise und kennen alles Elend der Erde. Und dennoch, als wir diesen Stern am Himmel sahen, haben unsere Herzen vor Freude höher geschlagen, wie Kinderherzen. Und wie Kinder waren wir und machten uns auf den Weg. Wir wollten unsere Menschenpflicht erfüllen, die heißt: Hoffen." Vierzig Jahre später stirbt Sartre in derselben Spannung: "Die Welt jedenfalls scheint häßlich, schlecht und hoffnungslos. So sagt die stille Verzweiflung eines alten Mannes, der in ihr sterben wird. Doch ich leiste ihr Widerstand und ich weiß, daß ich in der Hoffnung sterben werde; diese Hoffnung aber gilt es zu begründen." [F.A.Z. v. 15.04.1980,25]

Solche Hoffnung lebt, als Glaube an das versprochene Friedensreich, auch in uns, sonst säßen wir jetzt irgendwo in einer warmen Stube und nicht hier im Namen eines Menschen, der vor zweitausend Jahren umgebracht worden ist. Es tut gut, mit Ihm dem Lebendigen und miteinander beisammen zu sein. Wie aber erklären wir - uns selbst und auch "den anderen, die keine Hoffnung haben" - daß wir nicht bloß auf ein fremdes Jenseits irgendwann später warten, sondern jetzt schon Bürger des Neuen Reiches sind, sozusagen unterwegs in der noch fremden Welt mit dem Paß des Himmels in der Tasche?

Nehmen wir den kürzesten Satz der Lesung her. Er hat mich schon als Kind gewundert. Was ist das für ein groteskes Bild! "Der Löwe frißt Stroh wie das Rind." Wenn er es täte: wäre die Schöpfung dann wirklich verbessert? Hätten wir die Welt anders geschaffen, ohne Raubtiere, ohne machthungrige Menschen, als riesigen Kindergarten mit täglich rosa Limonade? Lassen wir solche Fragen als unlösbar stehen, sie sind unserem Verstand zu schwer, er kann das Ganze unmöglich begreifen: In diesem Punkt stimmen Zweifler und Gläubige voll überein. Hier gilt die berühmte "docta ignorantia", das gebildete Nichtwissen des Nikolaus von Kues, dessen 600. Geburtstag wir in diesen Wochen feiern.

Ob der ideale Löwe Vegetarier wäre, das ist aber gar nicht die Frage, die uns umtreibt. Ich stelle sie vielmehr so: Was kann uns, Christen im dritten nachchristlichen Jahrtausend, das Bild des strohfressenden Löwen bedeuten, warum wird es uns an diesem Winterabend vom Wort Gottes vor die Seele gemalt? Ich glaube: damit wir neu die gewaltige Spannung wahrnehmen, die uns durchschwingt. Es ist die Spannung zwischen jedem einzelnen, von Gott als einmalig geschaffenen Ich und unserem gemeinsamen Wir. Wer diese Spannung einseitig auflöst, zerstört das Leben. Ein Ich ohne Wir, das ist Egoismus, eine schäbige Sache. Wenn aber, umgekehrt, ein Wir die einzelnen Ich aufsaugt: das ist nicht besser. Egal, von welchem Kollektiv jemand verschlungen wird, lebensfeindlich sind sie alle, ob Kommunismus oder Nationalismus oder auch, im Kleinen, die Rücksichtslosigkeit eines Familien-Wir gegenüber einem Mitglied, sei das hier die sich aufopfernde Mutter, dort der ausgebeutete Vater oder da ein gewaltsam eingepaßtes Kind.

Ich glaube, so läßt der Stroh fressende Löwe sich gut verstehen, wie ein vielperspektivisches Bild von Picasso: auf der einen Seite der stolze Löwe, König der Tiere, seiner Herrscherwürde wohlbewußt, wehe der frechen Gruppe, die ihn als Schaf behandeln wollte, schon ein leises Fauchen müßte sie warnen. Das ist der Ich-Pol. Machen wir uns klar: Er ist keineswegs nur etwas Geschöpfliches! Sondern nach dem schönen Wort des heiligen Augustinus ist Gott mir innerlicher als ich selbst. "Glieder des Leibes Christi" heißen und sind wir: Ähnlich wie dein eines Ich anders im Daumen spürt, im Auge sieht und in der Zunge schmeckt, so konzentriert sich derselbe Schöpfer in jedem von uns anders auf seine, je unsere Welt. Und diese sich schöpferisch austeilende Selbstkonzentration Gottes: das ist dein Bewußtsein! Darum hat jeder, auch der äußerlich scheinbar ärmste Mensch einen unendlich wahren Grund, sich als Löwe zu fühlen.

Auch der äußerlich Mächtige soll sich aber nicht auf die Mitmenschen stürzen und sie zerfleischen. Denn auch in den anderen lebt derselbe Gott. "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst", das übersetzt ein indischer Freund so: Liebe deinen Nächsten als dich selbst. Ein gesunder Finger reißt dem gemeinsamen Ich nicht das Ohr ab, sondern wird es gegen eine Mücke solidarisch schützen. Deshalb sei das Löwen-Ich ausbalanciert vom sanft Stroh kauenden Wir-Bewußtsein. Solche Balance ist wahrhaft göttlich, nämlich unsere Teilhabe an der Spannung zwischen dem bestimmten WORT Gottes und der all-umgreifenden Einheit des Heiligen GEISTes.

Nicht einmal Gras wird ausgerupft, auch Pflanzen sind ja Lebewesen, nein: von Stroh nährt sich auf unserem Heilsbild dieser un-schuldige Löwe, nur von solchen Überresten früheren Lebens, deren Verzehr nichts Lebendigem schadet. "Ehrfurcht vor dem Leben", so hat Albert Schweitzer nach einem Erleuchtungserlebnis mitten zwischen Nilpferden auf einem afrikanischen Fluß das ethische Grundgebot formuliert.

Sie sehen: In dem scheinbar unsinnigen Bild des Stroh fressenden Löwen läßt sich eine "Stereo-Wahrheit" entdecken, die Spannung zweier gegensätzlicher Lebenspole, die nur miteinander wahr sind. Äußerlich muß jeweils einer der Pole vorherrschen, den anderen stören. Geistig steigern sie einander. So wenig aus dem einzigen Lautsprecher des Küchen-Radios ein Stereo-Konzert tönt, so wenig könnte ein normales Bild beides ausdrücken: die unendliche Würde des göttlichen ICH in dir und zugleich das Verschwinden aller Eigenheit im göttlichen WIR. Am paradoxen Bild [hier ein anderes] des strohfressenden Löwen wird uns beides gezeigt; verständige Betrachter ahnen im Widerspruch das Geheimnis nie ganz begreifbarer Fülle.

Nehmen wir es mit ins neue Kirchenjahr und unser weiteres Leben. Je intensiver wir uns diese Spannung zutrauen, um so klarer werden wir spüren: Die Messias-Verheißung war kein leeres Versprechen. Gott löst sie ein, ein kleines bißchen auch schon in unseren Tagen. Lauschen wir deshalb, sooft Feigheit uns am Ich zweifeln läßt oder Gier das Wir schlechtmachen will, wach auf den fernen Trompetenton des Johannes: "Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe."


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samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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