Jürgen Kuhlmann: Kat-holische Gedanken

[Wirklich ist nur Liebe]

Die Analogie des Nichts und der Teilhabe


Mitten in einer Predigt über die ersten Verse des vierten Evangeliums [in ev.Joh.I,13] ruft der heilige Augustinus den Fischern von Hippo zu: "Die Sünde ist nichts, und nichts werden die Menschen, wenn sie sündigen." So steht es auch im "sed contra" des allerersten Artikels von De Malo. Dort wird aber bloß die erste Behauptung - die Sünde ist nichts - dafür zum Zeugen angerufen, daß die Sünde keine eigentliche Wirklichkeit ist. Weit seltsamer ist jedoch der zweite Satzteil: "Zu nichts werden die Menschen, wenn sie sündigen." Jetzt schwanken wir zwischen Augustinus und dem gewöhnlichsten Hausverstand und merken, daß wir bei der Wurzelantinomie angelangt sind; die macht nicht mehr viele Worte:

a) Wer sündigt, wird nichts. b) Es gibt ihn noch.

Lösbar ist sie nur, wenn der Sünder in Bezug auf etwas dableibt, in Bezug auf etwas nicht. Aber doch jeweils ganz! Denn es heißt nicht: Etwas an ihm wird nichts; sondern: Er wird nichts. Und nicht etwas bleibt, sondern er. Was heißt nichts? Nichts ist das Gegenteil von Sein. Was Sein ist, wissen wir aber doch. Gleichfalls wissen wir, daß der Sünder eben ist, und nicht nichts ist. Augustinus hat wohl doch nur schwungvoll übersteigert ausgedrückt, daß der Sünder sehr wenig ist, nichts in Bezug auf tiefes Glück und Verdienst, aber doch nicht einfachhin ... Halt! Einer dieser Brummsätze sollte uns stutzen machen. "Was Sein ist, wissen wir doch." Heißt das nicht den Mund etwas voll nehmen? Wir sagen immerhin von Gott aus, Er ist das Sein. Wissen wir, was Gott ist? Also Vorsicht!

Wenn der Sünder nichts ist, so heißt das, daß er nicht ist. Irgendwie ist er aber doch. Bleibt nur übrig: Es gibt verschiedene Weisen zu sein. Nun, sagt einer, selbstverständlich ist das Sein analog, ein Stück Käse ist anders als ein Engel. Das Sein richtet sich ganz nach der Wesenheit des Dinges, das da ist. Schön und gut. Doch sind diese Unterschiede hier belanglos. Denn was die Wesenheit angeht, die ist beim Sünder vor und nach der Untat dieselbe und annähernd die gleiche; und doch ist er vorher, und hinterher nicht. Mit der Analogie des Seins, die der Verschiedenheit der Wesenheiten entspricht, lösen wir unser Problem also nicht. Wo sollen wir aber weiter suchen? Das Sein ist doch eines, die letzte Wirklichkeit, die Vollkommenheit der Vollkommenheiten: Wo sollen unabhängig von jeder Essenz im Sein selbst als solchem Unterschiede stecken. Es muß aber einen geben, sonst könnte der wirkliche Sünder nicht nichts sein.

Der heilige Thomas, sagt man neuerdings gern, ist der eigentliche Existenzialist, ist als einziger dem Sein tief genug begegnet. Ihn wollen wir deshalb nach dem Sein fragen. Er spricht häufig von ihm, beschreibt es auf mannigfache Weise. Eine Stelle aber gibt es, da sagt er ganz ausdrücklich, was er unter "Sein" verstehe - und die gibt allerhand zu denken: "Hoc enim significat esse ... subici Deo per modum participationis [De Malo XVI,3, ob.7].

Auf den ersten Blick scheint das eindeutig. Doch das Latein kennt keinen Artikel. Ins Deutsche übersetzen kann man den Satz nicht ohne entscheidende Zuspitzung. Entweder so: Sein heißt Gott auf die Weise der Teilhabe unterworfen sein. Das ergibt den geläufigen Seinsbegriff. Alles Wirkliche ist dadurch, daß es an Gott teilhat. Dieses Sein ist zwar analog (jedes Seiende ist auf andere Art), ja sogar von Gott als dem unendlichen Grenzwert sage ich es aus. Es besteht aber doch in etwas ganz Bestimmtem und, so verschieden es sich auch verwirkliche, Eindeutigem: im wirklichen Dasein, sei es rein in sich ruhend, sei es mit den verschiedensten Essenzen zusammengesetzt. Sein heißt Dasein. Dies meint durchaus nicht das Dasein des Sandhaufens. In diesem Dasein ist alles Wirkliche eingeschlossen; Leben, die angespannteste Tätigkeit, das Gute: all das ist ja vollkommen nur, wenn und soweit es da ist, wirklich ist und weil es in Gott in unendlicher Fülle da ist.

Wie aber, wenn wir die Thomasstelle mit dem unbestimmten Artikel übersetzen? Sein heißt Gott auf eine Weise der Teilhabe unterworfen sein. -

Jedes Ding hat dadurch an Gott teil, daß es wirklich ist. Fragen wir jetzt einmal: Nicht auch schon dadurch, daß es eine Form hat? Gewiß, bekommen wir zur Antwort. Die Form hat an Gottes Essenz Anteil, das Dasein an Gottes Sein. Dies mag durchaus eine feinsinnige Unterscheidung sein, nur betont jedes Schulbuch, daß sie sachlich unbegründet ist. Gott is Gott; Essenz und Sein sind bei Ihm dasselbe. Lassen wir darum den Unterschied lieber da, wo er hingehört: Die Form hat an Gott teil und das Dasein hat an Gott teil, aber als verschiedene Weisen. Der lebhafte Hase auf meinem Fensterbrett hat zwar nicht durch sein Dasein an Gott teil; denn es gibt ihn nicht. Wohl aber durch sein Form-Sein; denn er ist begreiflich und vorstellbar. Oder hat etwa ohne Gott irgendeine Sinnhaftigkeit Sinn?

Es gibt demnach einen weiteren und einen engeren Seinebegriff. Der weitere ist auf unendlich vollkommene Weise in Gott verwirklicht und auf verschiedene minder vollkommene Weisen in allem, was weder Gott noch nichts ist. Zwei von diesen Seinsordnungen oder Teilhabeweisen sind das sinnvolle Formsein und das wirkliche Dasein. - Der engere Seinsbegriff meint das Dasein und auch Gott als das unendliche Dasein. Weil er Gott mitmeint, ist er weiter als der Begriff der Teilhabe; weil er andererseits nur die Teilhabeweise des Daseins (mit ihrem "Grenzwert") betrachtet, ist er enger als der allgemeine Teilhabebegriff. Dieser Unterschied braucht vorerst nicht aufzufallen: Das Formsein ist im Daseienden inbegriffen, nichts existiert ohne Form. Ein solcherart nicht ausdrücklich genaues Verständnis der Begriffe: Gott, Sein, Teilhabe und Dasein kann die Sicht aber in dem Augenblick trüben, wo es den einzigen Gedanken dieser Arbeit zu erfassen gilt: Das Dasein ist nicht die höchste Teilhabeweise [...]

1. Abschnitt: Vor dieser Antinomie stand Aristoteles:

a) Parmenides hat recht: Das Sein ist, das Nichts ist nicht, und beide haben nichts gemein.
b) Aber auch Heraklit hat recht: Das Werden ist etwas Wirkliches.

Wie können aber beide recht haben? Was wird, entsteht doch entweder aus dem Sein oder aus dem Nichts. Nicht aus dem Sein; denn dann wäre es ja schon vorher, was es erst werden soll. Und auch nicht aus dem Nichts; denn aus nichts wird nichts. ? - ? Bis ihm ihm eines Tages aufging: Wie, wenn das Sein nicht etwas Einfaches wäre? Wenn es zwischen dem Sein im Vollsinn und dem völligen Nichts etwas Drittes gäbe, irgendwie auch Sein, aber ganz schwach nur: ein Prinzip der Veränderlichkeit, das allem Werden zu Grunde liegt? Verglichen mit dem vollen Sein, in dessen Ordnung, ist es zwar nichts; gegenüber dem völligen Nichts besitzt es aber doch eine Art Wirklichkeit, die der reinen Möglichkeit, deren "Sein" darin besteht, alles werden zu können: Der Begriff der Materie war geboren und damit die erste Zusammensetzung aus Akt und Potenz. Mit ihr war das Problem gelöst. Das aktuelle Sein, die materielle Substanz, entsteht weder aus aktuellem Sein noch aus Nichts, sondern wird "aus der Potenz, der Materie hervorgezogen." Aufgegeben war die Frage gewissermaßen vom Nichts: dem Nichts, aus dem die Dinge entstehen, und das doch nicht einfach Nichts sein kann. Sie zu beantworten, wurde das Sein in zwei Prinzipien gespalten: Deren eines, das aktuelle, ist Sein im volleren Sinn; deren anderes, das potentielle, ist in jener dichteren Ordnung nichts, in seiner eigenen Ordnung ist es.

2. Abschnitt: Vor dieser Antinomie stand das christliche und muselmanische Mittelalter:

a) Der Philosoph hat recht: Was nicht mit Materie zusammengesetzt ist, die reinen Formen, sind notwendig und immer, haben nichts mit dem Nichts zu schaffen.
b) Erst recht hat die Offenbarung recht: Gott hat alles aus dem Nichts geschaffen, auch die reinen Geister.

Wie können aber beide recht haben? Die reinen Formen sind doch in sich sinnvoll, hängen von keiner Materie ab. Wie können sie einmal nichts gewesen sein? - Schon an Unterscheidungen in der Prinzipienordnung gewöhnt, fanden sie bald die Lösung. Wie, wenn alles, was da ist, abgesehen von einer etwaigen Zusammensetzung aus Materie und Form, eben als geschaffenes Seiendes nocheinmal zusammengesetzt wäre? Wenn also, was bisher für einen einheitlichen Akt galt, die seiende Form nämlich, wenn sie zwar Akt in ihrer eigenen Ordnung wäre, gleichzeitig aber - als eben dieser (reine oder materielle) Akt - Potenz zu und in einer höheren Ordnung wäre, die Mög lichkeit nämlich, wirklich zu sein? Diese zweite Zusammensetzung aus Akt und Potenz löst das Problem: In ihrer Ordnung, da, wo sie Akt ist, dort ist die Form ewig, notwendig sinnhaft, nicht dem Nichts unterworfen. Betrachtet auf die höhere Ordnung, das wirkliche Dasein hin, ist die Form als solche dagegen das reine Nichts: der erwähnte Hase zum Beispiel. Wenn Gott etwas schafft, aktuiert er die Form zu dem "Seienden" der höheren oder dichteren Weise der Teilhabe, indem er die Potenz zur Existenz (die Essenz) mit dem Akt ihres Daseins zusammensetzt. Auch jetzt war die Frage gewissermaßen vom Nichts aufgegeben: dem Nichts, aus dem alles erschaffen ist, und das doch nicht einfach nichts sein kann. Sie zu beantworten, wurde das Sein in zwei Prinzipien gespalten: Deren eines, das aktuelle, ist Sein im volleren Sinn; deren anderes, das potentielle, ist in jener dichteren Ordnung nichts, in seiner eigenen Ordnung ist es.

3. Abschnitt: Vor dieser Antinomie stehen wir:

a) Der Anschein hat recht: Der Sünder ist.
b) Augustinus hat recht: Der Sünder ist nichts.

Wie, wenn die geistigen Seienden, abgesehen von den Zusammensetzungen aus Materie und Form sowie aus Wesen und Dasein, nocheinmal zusammengesetzt wären? Wenn also, was bisher für einen einheitlichen Akt galt, das (Da-)Sein nämlich, wenn es zwar Akt in seiner eigenen Ordnung wäre, gleichzeitig aber zusammen mit der Wesenheit Potenz zu einer höheren Ordnung, die Möglichkeit nämlich, frei zu Gott ja zu sagen und zu sein? Diese weitere Zusammensetzung aus Akt und Potenz würde das Problem lösen: In der Ordnung des Daseins ist der Sünder wirklich, in der Ordnung des, sagen wir, Jaseins dagegen ist er nichts. Auch jetzt war die Frage gewissermaßen vom Nichts aufgegeben, dem Nichts, zu dem der Sünder sich durch seine schlechte Entscheidung selber macht und das doch nicht einfachhin Nichts ist. Sie zu beantworten wurde das Sein in zwei Prinzipien gespalten: Deren eines, das aktuelle, ist Sein im volleren Sinn; deren anderes, das potentielle, ist in jener dichteren Ordnung nichts, in seiner eigenen Ordnung ist es.

Da sind wir schon ans Ziel gelangt, beinahe ohne es zu merken. Die Wurzel-Antinomie - der seiende Sünder ist nichts - kann so (und nur so, scheint mir) aufgelöst werden: Wir müssen den Geist, der (in welchem Sinn, kann hier nicht näher geklärt werden) kein Sünder ist, als Zusammensetzung ausAkt und Potenz in einer höheren Ordnung erkennen, die sich zum Dasein so verhält wie die Existenz zur Essenz. Das da-Seiende ist Potenz zum Akt des Jaseins. Dies ist neben dem Formsein (verständlicher: Sinnsein) und dem Dasein die dritte, unvergleichlich dichtere Weise, an Gott teilzuhaben, das heißt zu sein.

Ein überaus simpler Gedanke; er leuchtet auch sofort ein als möglicher Ausweg aus dem Dunkel unseres Probleme. Etwas hoffnungsvoll ahnen heißt freilich noch nicht es beweisen. Doch wie schon gesagt: Wer einen strengen metaphysischen Beweis verlangt, überlege sich gut, was er fordert, und auch, daß keine Begriffsreisebeschreibung je die Reise ersetzt.

[Aus: DAS BÖSE UND DAS SEIN (philosophische Lizenzarbeit, Rom 1959), S. 18-22. Der Titel ist neu.]


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