Jürgen Kuhlmann

Reich Gottes oder Nirwana?

Vergleich des christlichen und buddhistischen Heilswegs

Zu den Thesen von Armin Münch, vorgetragen am 19. Mai 1999 im evangelischen Haus Eckstein in Nürnberg, füge ich meinen Kommentar.

1) Buddhismus und Christentum sind Antipoden (U. Mann) zB schon in der Symbolik der Körperhaltung: Des lächelnden Buddha sitzendes Meditieren schrumpft zurück zur embryonalen Gestalt, während der leidende Jesus am Kreuz sich in alle Richtungen ausstreckt, die ganze Welt zu durchdringen. Beide Spiritualitäten sind insofern Antipoden, als während der bisherigen Geschichte des Christentums von den drei trinitarischen Dimensionen EINS, DU und ICH hauptsächlich die DU/ICH-Spannung sich ausgestaltet hat [urkirchlicher Streit zwischen Juden- und Heidenchristen; die beiden verlorenen Söhne; moderne Dialektik Religion / Atheismus]. Diese beiden Dimensionen, die senkrechte Beziehung: hinauf zum Du des Vaters, und die waagrechte Selbstverwirklichung des Logos-Ich: voran, bilden zusammen das christliche Kreuz, das ihren absoluten Widerspruch bedeutet, an dem Jesus zerbricht, um ihn auferstehend (vgl. Grünewalds Isenheimer Altar!) in die ewige Stereo-Fülle zu verwandeln.

Nicht nur Buddhisten, auch westliche Menschen sind vom Kreuzbild geschockt; deshalb mußte das Bundesverfassungsgericht sein Kruzifix-Urteil erlassen. Eindrucksvoll ist ein Gedicht von Theodor Storm:

Kruzifixus

Am Kreuz hing sein gequält Gebeine,
mit Blut besudelt und geschmäht;
dann hat die stets jungfräulich reine
Natur das Schreckensbild verweht.

Doch die sich seine Jünger nannten,
die formten es in Erz und Stein,
und stellten's in des Tempels Düster
und in die lichte Flur hinein.

So, jedem reinen Aug' ein Schauder,
ragt es hinein in unsre Zeit;
verewigend den alten Frevel,
ein Bild der Unversöhnlichkeit.

Was der christlichen fides quae (= belief) noch fehlt - obwohl die fides qua (= faith) es lebt - ist die »dritte« Dimension »des« Heiligen Geistes: der Mutterschoß der Göttin LIEBE. Bei Katholiken und Orthodoxen wird ihre absolut bergende Einheit von Maria wenigstens bedeutet; des absoluten EINS besondere, auf Du und Ich unrückführbare geistliche Würde findet sich jedoch vor allem im Buddhismus, der einen Gottesbegriff so wenig kennt, wie der Embryo von einem Du weiß.

2) Thema Substanz: Im Buddhismus gibt es kein substantielles Ich. Der Mensch ist keine dauernde Substanz, sondern besteht aus verschiedenen Bündeln (Skandhas), die sich flüchtig zusammenfügen, ähnlich einer Projektion aus fünf zusammenwirkenden Projektoren, unstabil, je neu entstehend, Schaum, Fata Morgana.

Die westliche Ich-Substanz verhält sich zur östlichen Nicht-Ich-Meditation wie (trinitarisch) die Ich- zur Eins-Dimension. Anschaulich wird dieser absolute Gegensatz beim Alltagsvergleich von Zeiger- und Ziffern-Uhr.

3) Gegenläufige Heilswege. Dem Christen liegt das Reich Gottes als Ziel voraus, er geht unter Mühen und Kämpfen auf es zu. Zwei Kernstellen des NT (Lk 9,62; Phil 3,13) sagen ausdrücklich: nicht zurück! Immer wieder gibt es einen Aufbruch, Durchbruch zu neuer Gestalt.

Zum Nirwana (wörtlich: Erlöschen) geht es zurück. Dem Feuer ist der Brennstoff zu entziehen. Die gewordene Gestalt halte nicht an sich fest, sei zu vergehen bereit, nur so wird das Leid überwunden. Wie wenn man eine Schraube vorsichtig herausdreht [inner-europäischer Gegensatz: Schraubenzieher / screwdriver], sich eine dunkle Treppe hinab rückwärts in eine Höhle zurücktastet, ins (mit mir) schwangere Nichts. Hohe Kunst des Reitens: auf dem Sattel kein Mensch, unter dem Sattel kein Pferd. Reiten ist um so vollkommener, je weniger Mensch und Pferd als gegensätzlich erlebt werden, erst dank ihrer Nicht-Zweiheit wird wahrhaft geritten. Deshalb geht der Übungsweg rückwärts: von der individuellen, getrennten Gestalt weg, hin zur ursprünglichen Reinheit.

Allerdings entwickeln sich dann aus dem Nullpunkt heraus Reiter und Pferd, müssen in jeder Sekunde aus dem Quellpunkt heraus entstehen. So ist es bei allen Künsten, bis hin zum gelebten Leben. Es ist nur gelungen, wenn es aus dem Nichts aufersteht, in jedem Moment.

Das bedeutet: Gesunder Lebensrhythmus kennt - stets und je - zwei Grundrichtungen. Vor dem Entschluß, in dem die Gestalt sich schafft, gilt der Aufschwung vom Nullpunkt des EINS über den Ruf des DU zum Selbstentwurf des ICH; nach dem Entschluß gilt der Abschwung vom sich verwirklichenden ICH über die Verantwortung vor DIR zum Wieder-Aufgehen im EINS [Vgl. die ausführliche Darstellung dieser sechs Takte in Ehrfurcht vor fremder Wahrheit S. 66-73 sowie der neuen Nachschrift zum Uhren-Essay von 1979].

4) Wer ist uns Christus? Buddhistisch verstanden, wird Jesus nicht als objektivierte Heilsgestalt betrachtet, das würde leicht magisch. Sondern Christus ist eine Hohlform, wie Paulus schreibt: »Zieht an den Herrn Jesus Christus« (Röm 13,14). Es heißt in eine Figur hineinschlüpfen, durch Selbstentäußerung. Durch Loslassen seiner Verhaftungen ist der Zugang zu diesem Heil möglich. Es gibt keinen aktiven Zugriff. Das Heil ist jederzeit möglich, im Hier und Jetzt. Nicht erst am Ende der Zeiten, das wäre Vertröstung. Mancher ist in Christus, ohne es zu wissen.

Das ist eine wichtige Einsicht. Christlicher Fortschritt darf nicht nur als »Nachfolge Christi« (eines anderen!) aufgefaßt werden, als mühsamer Aufstieg, Aufschwung zu Ihm als meinem noch nicht erreichten Ich-Ideal. Dieser westliche Heilsweg ist nicht falsch, wird aber - mono vollzogen - stressig, überfordernd, unerträglich und bald verlassen, das traurige Ergebnis ist der ungeistliche Alltagstrott in uns und um uns. Christlicher Fortschritt darf auch, östlich verstanden, Einkehr sein, Abschwung hinein in den universalen Christus als meine mich schon liebevoll umhüllende reine Identität. Dazu einige prachtvolle Rilke-Verse:

Ein jedes Ding ist überwacht
von einer fugbereiten Güte
wie jeder Stein und jede Blüte
und jedes kleine Kind bei Nacht.
Nur wir, in unsrer Hoffahrt, drängen
aus einigen Zusammenhängen
in einer Freiheit leeren Raum,
statt, klugen Kräften hingegeben,
uns aufzuheben wie ein Baum.
Statt in die weitesten Geleise
sich still und willig einzureihn,
verknüpft man sich auf manche Weise, -
und wer sich ausschließt jedem Kreise,
ist jetzt so namenlos allein.

Da muß er lernen von den Dingen,
anfangen wieder wie ein Kind,
weil sie, die Gott am Herzen hingen,
nicht von ihm fortgegangen sind.
Eins muß er wieder können: fallen,
geduldig in der Schwere ruhn,
der sich vermaß, den Vögeln allen
im Fliegen es zuvorzutun.

[Das Stunden-Buch, II: Von der Pilgerschaft]

Ist also der Weg das Ziel? Ja und nein. Jede Mono-Antwort leitet irre. Weil das Ziel meine endgültige Ganzheit ist, zu deren Gestalt ich erst unterwegs bin, darum ist der Weg noch nicht das Ziel, zu ihm hin steigt mein werdendes Ich weiter auf. Weil das Ziel aber keine andere Landschaft ist als die jetzt durchwanderte, sondern die Fülle aller Etappen, deshalb gehört auch dieses Stück Weg schon zum Ziel und ich darf mich vertrauensvoll, ohne Hintergedanken, Nu für Nu dem mich bergenden Eins überlassen. Auch diesen Verstandes-Widerspruch kann reifer Glaube zu vernünftiger Lebensspannung zusammenfühlen: weil die absoluten Sinndimensionen Ich und Eins aufeinander senkrecht stehen, können sie einander nicht wirklich widersprechen, nur auf der einlinigen Diagonale, die der Verstand zwar dazwischen projizieren muß (sonst könnten wir diese Fragen weder bedenken noch besprechen), deren Ungenügen er aber - von der Vernunft geleitet - zugeben kann.

Einwand: Wozu brauchen Christen dazu Buddha? Wir müssen doch nur unsere eigenen Bibelstellen ernstnehmen! - Gewiß. Warum taten wir es nicht? Woher die kurzatmige Hektik des abendländischen Christentums? Weil der westliche Verbund von Du- und Ich-Dimension des Absoluten eine ungeheure Dynamik antreibt, die nicht durch eine dogmatisch erforderte oder spekulativ erklügelte Gegenwahrheit ausbalanciert werden kann, sondern allein von einer ebenso intensiv gelebten. Die begegnet uns, hoffentlich ehe es zu spät ist, in der ehrwürdigen Buddha-Tradition.

Als Schluß seines Vortrags zitierte Münch Guardinis und Gunderts Hoffnung, es könnte dem Christentum noch etwas ganz Großes bevorstehen: die Anerkenntnis seiner geheimnisvollen Verbundenheit mit Buddha. In dieser Erwartung sehe ich eine heutige Entsprechung zum »Reich des Heiligen Geistes« bei Joachim von Fiore; zwar wird dieses Reich die beiden anderen nicht ablösen (wie man Joachim verstanden hat), wohl aber ergänzen. Erst wenn alle drei göttlichen Personen je in ihrer eigenen Dimension verehrt werden, ist die Kirche zur ihr möglichen irdischen Wahrheitsfülle gelangt - noch fehlt ihr die göttliche Mutter ganz, und des älteren Sohnes scheinfromme Du-Fixierung vertreibt des Jüngeren freies Ich-Gefühl als Mono-Egoismus zu den Schweinen, statt daß sich Buddhas EINS, des Sokrates ICH und Abrahams DU als Länge, Breite und Höhe des Himmlischen Jerusalems friedlich-gespannt ineinander fügen.

Pfingstmontag 1999


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