Jürgen Kuhlmann

Auch von Nietzsche lernen!

(Welche Deutekraft die von der Christenheit erarbeiteten trinitarischen Kategorien haben, dafür mag der folgende Essay zu Nietzsches 150. Geburtstag am 15. Oktober 1994 ein Beispiel sein; vielleicht kann es den Leser zu eigener drei-einiger Friedensforschung ermuntern.)

Gott ist tot. Nietzsche. - Nietzsche ist tot. Gott. - So lustig die Retourkutsche sich anhört, so wenig stimmt sie: Nietzsche ist nicht tot. Kein Kind Gottes darf sterben - liebt nicht jeder selbstbewußte Vater ein stolzes, wildes Kind mindestens ebenso herzlich wie die bräveren Geschwister?

Der Gedenktag des prophetischen Pfarrrersohnes sei den Christen Anlaß, seine Botschaft neu zu hören. Sie dürfen sich dabei auch von deren Wohlklang begeistern lassen, Nietzsche schrieb ein hinreißendes Deutsch. Wichtiger aber ist es, im schönen Gewand dem lebendigen Wahrheitsblick zu begegnen: jenem Antlitz unserer christlichen Frohbotschaft, das unter dem Wust klerikaler Hüllen zu ersticken droht. Radikaler als alle anderen hat Friedrich Nietzsche dieses lebensprühende gottmenschliche Antlitz wieder freigekämpft, um einen hohen Preis: derart einseitig geriet ihm seine Lehre, daß der Verstand ihm dabei zerrüttet wurde und sein Name bei den Christen bis heute nach Schwefel riecht. Auch im alltäglichen Zusammenleben müssen bei Krisen ja erst die Fetzen fliegen und die innersten Nerven erzittern, bevor eine langunterdrückte Teilwahrheit den hemmenden Panzer der Gegen-Ideologie sprengen kann, so daß ein neues, wahreres Gleichgewicht möglich wird. Wie könnte es beim hochdramatischen Konflikt Nietzsche / Kirche sich einpendeln? Ist Gott tot und die Kirche sein Grab? Bleibt Gott unser ewig lebendiger Herr und die Kirche sein Mundstück? Stimmt gar beides - warum aber und wie?

Machen wir es uns nicht zu leicht! Jene "modernen Theologen", die uns mit öliger Stimme beruhigen, das sei alles kein Problem, der Atheismus wende sich mit Recht gegen ein falsches Gottesbild: den strengen Tyrannen, wie die Kirche ihn leider allzu oft verkündet habe; vom Atheismus nicht getroffen sei jedoch das wahre Gottesbild: der gütige Vater des Evangeliums - diese weisen Leute mögen ja auf ihre Art auch recht haben - wir kommen darauf zurück - gegen Nietzsche richten sie aber nichts aus. Er hat sie vielmehr im Epilog zum "Fall Wagner" ätzend verspottet: "Die Herren-Moral bejaht ebenso instinktiv, wie die christliche verneint ... Der Christ will von sich loskommen ... Die vornehme Moral, die Herren-Moral, hat umgekehrt ihre Wurzel in einem triumphierenden Ja-sagen zu sich ... Man sucht umsonst nach wertvolleren, nach notwendigeren Gegensätzen. Aber ... Unschuld zwischen Gegensätzen, dies 'gute Gewissen' in der Lüge ist vielmehr modern par excellence, man definiert beinahe damit die Modernität. Der moderne Mensch stellt, biologisch, einen Widerspruch der Werte dar, er sitzt zwischen zwei Stühlen, er sagt in einem Atem Ja und Nein ... Eine Diagnostik der modernen Seele - womit begänne sie? Mit einem resoluten Einschnitt in diese Instinkt-Widersprüchlichkeit, mit der Herauslösung ihrer Gegensatz-Werte, mit der Vivisektion ..."

Den modernen Denkbrei verachten sie also beide; sonst in nichts, darin aber sind sie vergleichbar: Friedrich Nietzsche und mancher bischöfliche Eiferer, über den zeitgeistbewußte Christen sich so sehr ärgern. Und ich stimme zu: Nein, ein betuliches Sowohl / als auch macht es nicht. Wer den Widerspruch zwischen Selbstbejahung und Selbstverleugnung mit frommen Phrasen zukleistert, hat von dem, worum es geht, überhaupt noch nichts verstanden. Was aber ist dann die Wahrheit? Der allmächtig drohende Herrgott, vor dem mein Ich verdampft wie der Tautropfen vor der Sonne - er ist schuld an den Greueln der Inquisition und den undemokratischen Peinlichkeiten klerikaler Betonköpfe. Auf Nietzsches Herrenmoral und Willen zur Macht beriefen sich die Nazis (les extrêmes se touchent). Und wer beide Extreme meiden, sich in einer mittleren Position einrichten möchte, hat als moderner Waschlappen gleichfalls unrecht - was sollen wir denken? Welcher Ausweg zeigt sich unserem Verstand?

Keiner. Denn überverständig ist das Geheimnis des Seins. Gottes Unbegreiflichkeit, die das erste Vaticanum 1870 als Dogma verkündet hat, hier wird sie erlebbar. Daß ein Nietzsche und ein Kryba nicht nur je gegeneinander, sondern auch in ihrer gemeinsamen Verachtung aller Ausgleichsversuche recht haben: das ist tatsächlich mit Logik nicht mehr zu begreifen. Ist es aber nicht absurd?

Nein. Was den zupackenden Verstand überfordert, dasselbe kann die glaubende Vernunft sehr wohl ahnen. Nietzsches Wahrheit steht schon im Evangelium. Ohne seine titanische Lebensleistung fänden wir sie dort aber nicht. Weil das Ganze jede einzelne seiner Offenbarungen relativiert, deshalb muß der menschliche Erkenntnisweg krisenhaft verlaufen. Da die Wirklichkeit in sich selbst gegensätzlich ist, führt jedes verständliche Prinzip irgendwann in die Sackgasse.

Zwei solcher Sackgassen zeigt uns Jesu Gleichnis der verlorenen Söhne. Bei den Schweinen muß der Jüngere einsehen, daß sein Ichdrang nicht die ganze Wahrheit ist und, dazu aufgeplustert, vor der Wirklichkeit zerplatzt. Umgekehrt steht danach der Ältere vor den Scherben seiner Ideologie. Was er positiv glaubt, ist nicht falsch: "Alles kommt auf meinen braven Dienst an." So erlebt er die Wirklichkeit, diese Grundfarbe zeigt sie ihm. Des Vaters Lob beglückt sein Herz; die bloße Vorstellung, er könne ihm zürnen, verscheucht jede rebellische Regung schon, bevor sie ihm bewußt wird. Den Weggang des Bruders versteht und bedauert er nicht. Seine Welt stimmt - meint er. Der Vater weiß es besser. Ihn bekümmert die Unselbständigkeit des Sohnes, wie er sich und seinen Freunden nichts gönnt, obwohl alles doch auch ihm gehört. Dem Vater ist aber klar, daß seine Macht hier Ohnmacht ist. Nur auf Kommandos hört der Sohn; wollte er ihm aber befehlen: sei doch nicht so elend brav, sei endlich selbständig! - dann würde der Arme nicht mündig, sondern verrückt. Also bleibt dem Vater nur, zu warten, bis der Sohn das Ende seiner Du-Sackgasse erreicht.

Auch des Jüngeren - und Nietzsches - Glaube ist nicht falsch: "Alles dreht sich um mich." Nichts wünschen Eltern ja mehr, als daß ihr Kind selbstbewußt und lebenstüchtig werde. Kein Wunder, daß der junge Mann es eines Tages daheim nicht mehr aushält, vor allem das widerlich brave Getue des Bruders nimmt ihm den Atem. Wie es weiterging, ist bekannt. Die Ich-Sackgasse endet im Schweinestall. Daß nicht alles sich um ihn allein dreht, diese Einsicht geht ihm jetzt auf, und bitter packt ihn die Reue. Was ist deren Wesen?

Nichts anderes als der Blick auf die häßliche Rückseite der früheren Ideologie: plötzlich sieht er sich mit den Augen seines Bruders, als naiv schäbigen Egoisten, der keine Ahnung von der harten Basis aus Dienst und Mühe hat, die allein auch sein Dasein trägt. Reuig kehrt er zum Vater zurück, bekennt seine Schuld, verzichtet auf den Ausdruck seiner Ich-Wahrheit ("ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen"), bittet nur darum, die früher abgelehnte Du-Wahrheit nunmehr öffentlich nachholen zu dürfen ("Halt mich wie einen deiner Knechte").

Auf den Ausdruck seiner Ich-Wahrheit hat er verzichtet; vor der Öffentlichkeit des Hofes war er bereit, nicht mehr Sohn, sondern Knecht zu heißen. Hat er auch auf den inneren Vollzug der Ich-Wahrheit verzichtet? Bestimmt nicht! Dann hätte der Vater keine solche Freude gehabt. Wäre statt seines stolzen Lieblings bloß ein resigniertes Wrack heimgekehrt, dann hätte es zum Feiern keinen Grund gegeben. Hier muß ich auf einen bösen Übersetzungsfehler der Einheizübersetzung hinweisen [noch einer]. In kaum faßlicher Rohheit zerstört sie diese Feinheit des Gotteswortes. Zweimal läßt sie den Sohn sagen: "Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein" (statt: zu heißen). Und diese Lüge, die aus dem zur Ganzheit Durchgebrochenen einen unerlösten Speichellecker macht, den Sinn der Geschichte also aufs Ärgste verdirbt, wird im Gottesdienst vorgelesen! Der Vater muß aber an Blick und Stimme des Jungen gemerkt haben, daß dieser nicht etwa von der Ich-Sackgasse in die Du-Sackgasse umgeschwenkt, vielmehr zur Heilsfülle der überverständigen Einheit von Du und Ich gelangt war.

Zur selben Heilsfülle von der anderen Seite, dem einseitigen Du aus, den Schritt tun zu müssen, das ist die Krise des älteren Sohnes. Auch ihm ist - durch das ihm unbegreifliche Verhalten des Vaters - seine Ideologie, die des bloßen Du, in Scherben zerbrochen. Wenn jener Nichtsnutz so gefeiert wird, dann kommt anscheinend nicht alles auf den braven Dienst an. Auch er sieht sich plötzlich mit den Augen seines Bruders: als unfrohe Knechtsseele ("nie gabst du mir ein Böcklein"). Da der Vater jetzt keinen Dienst, sondern Mitfreude von ihm verlangt, besser: Mitfreude als höchsten Dienst, deshalb kann er das isolierte Du nicht länger bleiben, muß entweder ins Nichts totaler Sinnlosigkeit stürzen oder gleichfalls zur überverständigen Einheit von Du und Ich finden. Vor diese äußerste Entscheidung stellt Jesus seine Hörer, die sich für treue Gottesdiener halten.

Das Gleichnis ist der Schlüssel zur Kirchengeschichte. Jede der beiden Ideologien, je für sich genommen, geht dem Verstand ein, erklärt das Ganze so, daß man orientiert ist, sich auskennt und zurechtfindet in der Welt. Wenn alles auf den braven Dienst am Willen Gottes ankommt, dann bist Du, der Herr des Ganzen, der sinnstiftende Pol, nach Dir muß ich mich richten, egal was Du forderst, und wären es Scheiterhaufen für Deine Lästerer und heilige Kriege gegen Deine Feinde: Wahr ist die Religion. Dreht sich hingegen alles um mich, dann darf es keinen Gott geben: Nietzsche hat recht, ich bin selbst der Sinnpol meines Ganzen, mein Wille bestimmt, was mir als sinnvoll gelten soll. Theist wie Atheist antworten gleich laut auf die falsche Frage (die das Ganze zur Sache verflacht), haben eine verständige und verständliche Weltanschauung, können auch trefflich streiten, weil jeder genau weiß, woran er mit dem anderen ist.

Wahr ist jedoch keine der Ideologien, vielmehr allein die unendlich drei-einige Stereo-Spannung in der Vernunft des Gottmenschen, die (1 Kor 2,16) auch in uns leben will:

links / / / / / / / / / / / Mitte / / / / / / / / / / / / / rechts
selbststolzes / / / Geborgenheit / / / / / / / / / demütige Hingabe
menschliches / / / im EINS der / / / / / / / / an des Vaters
ICH-Bewußtsein / allumfangenden Liebe / forderndes DU

Auch die geistliche Friedensstimmung der Mitte ist jedem Menschen vertraut. Weil Jesus, als er sein Gleichnis erzählte, mitten im Kampf stand, hat er die Gegensatz-überwölbende Dimension des göttlichen Eins nicht eigens erwähnt. Wenn die kleine Tochter ihrer Mami auf dem Schoß sitzt, ist sie weder besonders stolz noch besonders gehorsam. Sie ist schlicht in Frieden und Harmonie daheim, fühlt freudig, daß sie dazugehört. Im EINS sind - wie jede junge Familie beglückt erlebt - das Ich und das Du noch ungetrennt beisammen. Als der Jüngere heimkam, verstand und teilte er nicht allein den Gehorsam seines Bruders, sondern auch die friedliche Geborgenheit seiner Schwester. Übrigens hatte sie ihn als erste erblickt. Sie spielte mit ihrem Pony weit draußen und hörte plötzlich ihren Namen rufen. Was war denn das für ein zerlumpter Kerl! Kennst du deinen Bruder nicht mehr, sagte der lächelnd. Da fiel sie ihm um den Hals, ritt dann eilends los, den Eltern die Freudennachricht zu bringen. So kam es, daß "der Vater ihn schon von weitem kommen sah" - die Mutter natürlich auch.

Der kleinen Schwester "Unschuld zwischen Gegensätzen" (Nietzsche) ist das Urbild der ausgleichenden modernen Theologie. Wird sie von links wie rechts her zu Recht verachtet? Einerseits ja: Denn wie beim Stereo-Test ist die Mitte nur eines von drei Monosignalen; wer allein sie gelten läßt, leugnet dadurch die auch wahren Extreme, verflacht das Ganze ebenso "häretisch" (=auswählend), wie die isolierten Extreme es tun. Aber auch nein: denn die Mitte ist, nicht weniger als rechts und links, gleichfalls eine der drei Teilwahrheiten, die miteinander jene drei-einig schwingende Stereo-Spannung bilden, deren Mitvollzug unserer Seele Leben ist.

Weil Friedrich Nietzsche unsere menschliche Teilhabe am innergöttlichen Ich-Pol so deutlich gesagt hat wie niemand vor ihm, deshalb haben wir Christen Grund, ihm an seinem Geburtstag dankbar zu sein. Gedenken wir also künftig am 15. Oktober nicht nur der großen Liebesmystikerin Teresa, sondern auch des großen Selbst-Propheten, der für unsere freiere Zukunft seinen Verstand geopfert hat. Bei der Begegnung mit einem vom Kutscher mißhandelten Pferd hat er ihn 1889 in Turin schließlich verloren. Steht jenes gequälte Tier nicht für die ganze von der Menschheit so geschundene Natur? Tatsächlich könnte einem der Verdacht kommen: Wer heute nicht verrückt wird, hat keinen Verstand zu verlieren. "Credo quia absurdum," Tertullians Paradox hat jetzt seinen präzisen Sinn. Begreifen läßt der widersprüchliche Sinn der Welt sich nicht, doch dürfen wir an das göttliche Stereo-Heil glauben, das Jesus gebracht hat. Auf unbegreifliche Weise jubelte er im Heiligen Geist und war dem Vater bis in den Tod gehorsam und hat sein Ich vor keinem Götzen gebeugt, "den Alten ist gesagt worden, ich aber sage euch ..." Trauen wir uns, die zerreißende Spannung aller drei Lebenspole auszuhalten? Wem es gelingt, die oder der lebt wahrhaft, nicht mehr sie oder er aber, sondern in ihr oder ihm lebt schon Nietzsches Sehnsucht: der Übermensch. Daß auch wir alle drei Wahrheitspole immer tiefer verstehen und leben, das gewähre uns die dreieinige Güte.


Volle Internet-Adresse dieser Seite: http://www.stereo-denken.de/nietzsch.htm

Zurück zur Leitseite von Jürgen Kuhlmann

Siehe auch des Verfassers Predigtkorb auf dem katholischen Server www.kath.de

sowie seinen neuen (seit Ende 2000) Internet-Auftritt Stereo-Denken
samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

Schriftenverzeichnis

Kommentare bitte an Jürgen Kuhlmann