Jürgen Kuhlmann: Kat-holische Gedanken

Alter / Neuer Bund in der Kirche

(Aus einem Katechismus-Kommentar)


"Schlechtes Beispiel der Gläubigen" (29) sei einer der Gründe für Gottlosigkeit. Nichts wahrer als dieses Eingeständnis, und doch stoßen wir hier auf den bedrückendsten Zug, der den ganzen Katechismus durchzieht: die Unbußfertigkeit der Kirche in ihrer Petrusdimension. Schuldig sind stets nur einzelne. Zwar wird nicht verschwiegen: "Alle Glieder der Kirche, auch ihre Amtsträger, müssen bekennen, daß sie Sünder sind" (827), weil sie nicht "gegen alle menschlichen Schwächen gefeit" sind (1550). Dieses allgemeinste Prinzip verheimlicht aber nicht nur aus Versehen, sondern mit voller Absicht die Schuld der Kirche als solcher, das zeigt der erläuternde Text Pauls VI. (Hervorhebung von mir): "Die Kirche ist heilig, auch wenn sich in ihrer Mitte Sünder befinden; denn sie lebt kein anderes Leben als das der Gnade. Wo die Glieder der Kirche an diesem Leben teilhaben, werden sie geheiligt, wo sie aber dieses Leben preisgeben, verfallen sie der Sünde und Unordnung" (827).

Das Heimtückische dieses schlichten Schemas besteht m.E. darin, daß es als zweipoliges eine geistliche Wahrheit ausdrückt: Der Kirche (als heilem Leib oder reiner Braut Christi) stehen wir sündigen Glieder gegenüber und werden hoffentlich von ihrem gesunden Leben mehr und mehr ergriffen. Das ist eine wichtige Einsicht, die zu Recht im Credo des Gottesvolkes und im Katechismus steht. Die Institution Kirche aber, ihre so zweideutig-geschichtsmächtige Petrusdimension, kommt in diesem Schema überhaupt nicht vor! Sie gehört weder auf die eindeutig heile Seite ihres verherrlichten Hauptes noch auf die Seite der einzelnen Glieder, denen sie vielmehr mit gottgesandtem Anspruch gegenübertritt. Abstrahieren heißt zwar nicht Lügen; trotzdem ist das spirituell wahre Schema aber soziologisch und auch theologisch fatal unvollständig: der Kern von Jesu Predigt wird verdrängt, abgelehnt; der ältere Sohn (im Gleichnis der verlorenen Söhne) denkt immer noch nicht daran, sich zu bekehren. Er ist überhaupt nicht schuld daran, daß sein Bruder es zu Hause nicht mehr aushielt. Der ist der Schlechte, er hat die "innigste und lebenskräftigste Verbindung" mit dem Vater "verkannt, ja ausdrücklich zurückgewiesen" (29); ich hingegen, sagt der Ältere, habe mir gar nichts vorzuwerfen, habe dem Bruder kein schlechtes Beispiel gegeben, mir nie auch nur ein Böcklein genommen, um mit Freunden zu feiern.

Aber das ist gerade das Schlimme, antwortet ihm (durch Jesu Mund) traurig der Vater, daß du nie geliebt und darum auch nie an meine Liebe geglaubt hast. All das Meinige ist dein und sein, das begreifst du bis heute nicht. Jenes "Zerrbild eines Gottes, der auf seine Vorrechte eifersüchtig bedacht ist" (399), haben die Gottlosen sich doch nicht selbst gemacht, übernehmen es vielmehr von den selbstentfremdeten Frommen, von eben jenen "religiösen Autoritäten" (587-596 oft), an die Jesus seine Bußpredigt hauptsächlich gerichtet hat: nicht wegen heidnischer, fleischlicher Sünden, sondern genau wegen jener religiösen Selbstentfremdung durch ein liebloses Gottesbild, an dem sie krankten und das sie allen übrigen aufzwingen wollten. An versteckter Stelle deutet der Katechismus diese Strukturkongruenz an, wenn er die "Antwort der hl. Jeanne d'Arc auf eine Fangfrage ihrer kirchlichen Richter" zitiert (2005). Wem kommt da nicht jene Falle in den Sinn, welche die Pharisäer Jesus mit ihrer Steuerfrage stellten (Mt 22,18)! Die Parallele ist jedoch so fundamental, daß sie thematisch behandelt gehört, nicht nebenbei erwähnt.

Eine Aufgabe für Liebhaber logischer Paradoxe: Man denke die folgenden drei Katechismus-Stellen zusammen:

a) "Der Herr richtet an uns eine eindringliche Einladung, ihn im Sakrament der Eucharistie zu empfangen" (1384).

b) "Falls Geschiedene zivil wiederverheiratet sind ... dürfen sie ... nicht die Kommunion empfangen" (1650).

c) "Es war für die Pharisäer ein Skandal, daß Jesus mit Zöllnern und Sündern ebenso vertraut Mahl hielt, wie mit ihnen selbst" (588).

Wer sowohl die real existierende Kirche kennt als auch das Neue Testament, der findet Jesu Bußruf an Pharisäer, Priester und Schriftgelehrte innerkirchlich seltsam aktuell . Seltsam? Keineswegs. Seltsam wäre es umgekehrt, wenn der Geist ganz Buchstabe werden, das erlösende "Ende der Geschichte" nicht nur liturgischer "Vorgeschmack" sein (1168), sondern ihren gesamten Verlauf vollkommen ändern könnte. Der Katechismus erwähnt "die Versammlung des auserwählten Volkes vor Gott" und stellt zurecht fest: "Die christliche Urgemeinde sah sich als Nachfolgerin dieser Versammlung und nannte sich deshalb Kirche" (751).

Beim Verständnis der Kirche als des "neuen und vollkommenen Bundes" (781) müssen wir deshalb ausdrücklicher als bisher unterscheiden:
a) die Christusdimension bringt die eindeutige Vollkommenheit, das Neue Sein des Neuen Menschen in der Neuen Schöpfung, d.h. unsere Teilhabe am ewig jungen göttlichen Leben selbst. Diese Neuheit war allerdings auch schon in den Heiligen des Alten Bundes am Werk ("Abraham freute sich, weil er meinen Tag sah" - Joh 8,56) und überhaupt "insgeheim in allen Völkern" (761). Dieser "ihrer tiefen, letzten Identität" (865) ist sich die Kirche sehr deutlich bewußt. Von ihr scharf abgesetzt gehört die folgende Identität:
b) Die Petrusdimension bringt eine neue Gestalt des Alten Bundes, als dessen Nachfolgerin sich die Kirche versteht: "Bei der Priesterweihe betet die Kirche: ... Im Alten Bund schon hast Du Ämter und Dienste ..." (1542); dem Bischof wird "das Hohepriestertum" zugesprochen (1557). Alles, was an der Kirche weder schon himmlisch-ewig noch bloß allgemein-weltlich ist, sollen wir mithin als christliche Neufassung jenes selben Alten Bundes ansehen, der einerseits von Gott stammt, anderseits aber Gottes Willen immer wieder lieblos mißversteht und zur eigenen Machtsteigerung mißbraucht.

Diese Spannung wird im 16. Kapitel des Mattäus-Evangeliums innerhalb von fünf Versen in Jesu Worten an Petrus überdeutlich, vom Katechismus aber schamhaft-unverschämt verschwiegen (Mt 16,18/23; (552/554). Der Kirche "Petrusdimension" (773) besteht aber genau in dieser Spannung zwischen Grundstein und Stolperstein (= skándalon), zwischen Stellvertreter Christi und "Satan" = Antichrist. Nur zusammen sind römischer Pol (in riesigen Lettern auf Goldgrund in der Peterskuppel zu lesen) und protestantischer Pol die eine evangelische = kat-holische Wahrheit. Indem die jetzt so skandalös unbußfertige Petruskirche (man vergleiche, vor einem Vierteljahrhundert, den Holländischen Katechismus) diese ganze Thematik in ihrem neuen Katechismus überhaupt nicht vorkommen läßt, handelt sie unchristlich und befördert ihn nicht nur vor die Neuzeit, sondern sogar noch vor das Mittelalter zurück; damals war die Rede von der "keuschen Hure Kirche" durchaus geläufig.

Es seien aber doch, mag man einwenden, nur wirkliche Personen schuldfähig; Kollektiv- und Struktursünden hießen nur uneigentlich so. Gewiß. Über die Schuld im eigentlichen Sinn richtet jedoch Gott allein. Und Jesus hat sie, sterbend, seinen Gegnern verziehen: "Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun" (Lk 23,34). Was er ihnen zuvor so heftig vorgeworfen hatte - sie seien Heuchler, übertünchte Gräber, hätten den Teufel zum Vater usw. - war nicht des einzelnen persönliche Sünde, sondern ihr gemeinsamer Anteil an der strukturellen Bosheit der lieblosen religiösen Autorität.

Deren kirchliche Realität nun im Katechismus-Abschnitt über die heilige Kirche mit keinem Wort auch nur zu erwähnen, ist das keine Heuchelei? Den (nicht unfehlbaren) Lehren "des ordentlichen Lehramtes" schulden "die Gläubigen religiösen Gehorsam des Willens und des Verstandes" (892) - ihn zu verlangen und dabei (arglistig oder feige) zu verschweigen, daß solche Lehren z.B. auch die Hexenbulle von 1484 enthielt und 1832 die päpstliche Verdammung der Gewissensfreiheit als "Wahnsinn", diese Leisetreterei schadet der Glaubwürdigkeit unserer Kirche nach außen ebenso, wie sie das Vertrauen der Gläubigen mißbraucht, die statt aus der Hand eines weisen Spirituals das Brot geistlicher Ratschläge zu empfangen, wie mit solch unaufhebbarer Zweideutigkeit christlich umzugehen sei, bloß aus der PR-Abteilung eines ideologischen Konzerns das Blech parteiischer Selbstbespiegelung hingeworfen erhalten: "Es ist nicht angemessen, das persönliche Gewissen ... dem Lehramt der Kirche entgegenzusetzen" (2039). Man reibt sich die Augen. Ein Glück, daß Paulus zu Antiochia (Gal 2,11) und später ein Friedrich von Spee in der Hexenfrage sich minder angemessen verhielten!

Immerhin lehrt der Katechismus auch die überlieferte katholische Lehre: "Durch seine Vernunft vernimmt der Mensch die Stimme Gottes ... Jeder Mensch ist zum Gehorsam gegenüber diesem Gesetz verpflichtet, das im Gewissen ertönt" (1706). Nicht ohne Hintersinn schreibt John Henry Newman einem Herzog: "Das Gewissen ist der ursprüngliche Statthalter Christi" (1778). Er wußte gut, daß ein Gewissen nicht nur durch "Anspruch auf eine falsch verstandene Gewissensautonomie" (1792) irren kann, sondern auch durch Servilität vor aufgezwungenen falschen Gottesbildern.

August 1993


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