Jürgen Kuhlmann

Kommen wir wieder?


Christen vor der Frage nach der Reincarnation


Eine Zeitungsnotiz stellt ein uraltes Thema in einen ungewohnten Zusammenhang: »Wer an die Wiedergeburt glaubt, kann sich künftig selbst beerben und sein Geld bis zur Reinkarnation auf der Bank parken.« Ein Sprecher der Stiftung »Prometh« tönt: »Jeder siebte Deutsche glaubt Umfragen zufolge an die Wiedergeburt. Therapeuten sind heute in der Lage, Personen zweifelsfrei zu bestimmen.« - Dagegen meint ein bischöfliches Ordiariat: »Absoluter Humbug. Jeder Mensch lebt nur einmal.« (FAZ v. 30.09.96, S. 14).

Das stimmt, was den finanziellen Trick betrifft. Nicht nur Christen, auch gläubige Hindus müssen vor solch einer Idee zurückschaudern. Statt sich loszulassen, planvoll Ego-Karma anzuhäufen, ist das Dümmste, was jemand im Hinblick auf seine nächste Existenz tun kann. Nicht in Benares hat denn auch die einfallsreiche Firma ihren Sitz, sondern in Liechtenstein, nicht Inder sind die ersten Kunden, sondern angeblich »einige Amerikaner und Japaner«.

Ist aber auch der Wiedergeburtsglaube unsinnig? Da dürfen Christen es sich, scheint mir, nicht so leicht machen. Ich war gleichfalls geneigt, diese Vorstellung für esoterischen Unfug zu halten - bis ich bei einem interreligiösen Treffen in Rom am Mittagstisch mit einer klugen Germanistin aus Java ins Plaudern kam. Auf meine Frage sagte sie ruhig, ja, sie glaube an die Reinkarnation, für die Hindus sei das einfach wahr, ähnlich wie für die Christen Jesus Gottes Sohn sei. Seither erzürnt es mich, sooft selbstsicher einhertrampelnde Glaubenswächter diese Überzeugung einer ehrwürdigen Weltreligion als Unsinn abtun.

Natürlich ist das Thema für einen Artikel zu gewaltig (Eine gute Übersicht geben G. Adler und H. Aichelin in der Information Nr. 76 [1979] der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen). Laut dem Religionswissenschaftler Ernst Benz sieht es so aus, »als ob die Reinkarnationsidee selbst eine Art Drang entwickelte, sich in allen nur möglichen Religionen zu reinkarnieren«. Tatsächlich nimmt sie je nach spirituellem Kontext die gegensätzlichsten Gefühlsfärbungen an. Während mancher Esoteriker früheren Existenzen nachspürt und kommende erhofft, ist höchstes Ziel strenger Buddhisten gerade nicht eine Neuverkörperung, sondern der Ausstieg aus dem Weltenrad und Eingang ins weiselose Nirvana.

Doch gibt es auch im alten Indien Varianten, die an des Individuums Lebensdrang anknüpfen. Aktiven Soldaten dürfte die Nirvana-Idee überall eher fremd sein. Die vorchristliche Bhagavadgita, für Gandhi »stets eine Quelle des Trostes«, erbt bereits eine lange Tradition, wenn sie (II,11-27) zu einem Feldherrn, der das kommende Gemetzel verabscheut, den Gott Krishna lächelnd sprechen läßt:

»Du redest gut, allein du klagst um die, die nicht beklagenswert.
Nicht Tote, noch auch Lebende beklagt jemals der Weisen Schar.
Nie war die Zeit, da ich nicht war, und du und diese Fürsten all,
Noch werden jemals wir nicht sein, wir alle, in zukünftiger Zeit!
Denn wie der Mensch in diesem Leib Kindheit, Jugend und Alter hat,
So kommt er auch zu neuem Leib. Der Weise wird da nicht verwirrt ...
Vergänglich sind die Leiber nur, in ihnen weilt der ewige Geist,
Der unvergänglich, unbegrenzt - drum kämpfe unverzagt als Held! ...
Gleichwie ein Mann die altgewordnen Kleider ablegt und andre, neue Kleider anlegt,
So auch ablegend seine alten Leiber geht ein der Geist in immer andre, neue ...
Denn dem Gebornen ist der Tod, dem Toten die Geburt bestimmt,
Da unvermeidlich dies Geschick, sollst nicht darüber trauern du.«

Nicht um eine Darstellung der Gesamtproblematik geht es jetzt, lediglich um die schlichte Frage: Kann, darf auch ein Christ so denken? Läßt die christliche Betonung der einmaligen Bedeutung eines jeden Lebens sich irgendwie mit der indischen Reihung vieler Existenzen zusammendenken? Warum eigentlich nicht? Gilt geistlichen Menschen nicht jeder Augenblick als entscheidend einmalig? Vollzieht das Heil sich nicht, mit Karl Rahner zu sprechen, immer »je jetzt«? Und doch ist ein Leben die Summe vieler Jetzt.

Laut einem anderen großen Jesuitentheologen, dem Kanadier Bernard Lonergan, wird christliches Denken von einer sakramentalen Analogie geleitet: Die vom Gläubigen erlebten Sakramente strukturieren auch seine Reflexion. Das Bußsakrament ist ein Mitsterben des alten Menschen mit Christus - was ergibt sich, wenn wir umgekehrt von diesem Sakrament her (solange einige Katholiken es noch kennen ...) den Tod verstehen?

Um die Ewige Ruhe beten wir für unsere Toten. Mehr kann der Mensch nicht wünschen als die ewige Ruhe - oder? Doch. Er wünscht auch Spannung und Aktion. Wo etwas geschieht, will er dabei sein, nicht glotzend bloß, sondern handelnd, nicht nur beim Siegesfest, auch bei den kommenden Kämpfen. Auch dieser Wunsch kann sich erfüllen. Denn wir werden bei Ihm sein. Und wo ist er? Im Himmel, bei Gott, gewiß. Aber nicht erdvergessen. Nein: »Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt.« Dieses Dabeisein überspringt die Mauern weltlicher Geschiedenheit bis hin zur Identität aus Liebe, wie Paulus sie erfahren und herausgestammelt hat: »Ich lebe, aber nicht mehr ich, Christus lebt in mir« (Gal 2,20).

Christus, zu dem der Vollendete gelangt, ist selbst bei und in seinen späteren Jüngern. Daraus dürfen wir schließen, daß es auch zu unserem ewigen Leben gehören wird, hilfreich bei späteren Menschen zu sein. Im Grunde hat die katholische Kirche das immer gewußt; nichts anderes kann mit der Verehrung der Heiligen und Schutzpatrone gemeint sein. Mein Himmel wird es sein, auf Erden Rosen zu streuen (Therese von Lisieux).

Was die Christenheit bisher zu wenig beachtet hat, ist die unfaßbare Radikalität dieses Dabeiseins, daß es nämlich auf nichts anderes als eine besondere Weise von Selbigkeit hinausläuft. Erst mit dieser Einsicht wäre die Brücke geschlagen, auf der wir uns mit unseren Hindu-Dialogpartnern treffen können Warum eigentlich nicht? Ähnlich wie bei der Beichte jemand sofort wieder ganz mit Gott versöhnt wird und doch nachher noch eine Buße verrichten soll, ähnlich könnte beim Gesamtsakrament Tod jemand ganz in Gott eingehen und doch später ein Buß- und Liebeswerk tun, indem er eine bestimmte Person auf ihrem neuen Lebensweg geleitet und in ihr manch geistige Entwicklungslinie weiterführt, die sein Tod abgeschnitten hat. Beide Grenzbegriffe (christlich: Fördernde Liebe bis hin zur Identifizierung; indisch: verschiedene Etappen einer Person) weisen so ins Geheimnis, daß derselbe umwölkte Gipfel von beiden Aufstiegsseiten aus zu ahnen und in ökumenischer Eintracht zu erstreben ist.

Dem indischen Vergleich der Leben eines Menschen mit den Altersstufen eines Lebens läßt sich die Antwort auf den Haupteinwand entnehmen: Was soll eine Identität heißen, deren man sich überhaupt nicht bewußt ist? Angenommen, ein kramender Greis findet einen seiner Kinderbriefe an die Mutter, von dessen Situation er nichts mehr weiß, so ist ihm dennoch klar: das habe einst ich geschrieben, nicht der gleiche wie jetzt, aber derselbe. Jener Mensch wußte nichts von diesem, dieser weiß nichts von jenem; was das Kind war, ist vergangen; wer es gewesen ist, lebt aber auch jetzt. Und sein gegenwärtiges Was wird - dessen ist er sich nicht bewußt, weiß es aber - von jenem früheren Was wesentlich mitgeprägt.

Angenommen, jemand rechne mit einer Wiedergeburt: Könnte dieser Vergleich ihr oder ihm nicht eine packende Hilfe sein, die katholische Fegfeuer-Lehre ernst zu nehmen, wirksamer als mittelalterliche Gemälde voller Teufel mit glühenden Zangen? Ähnlich wie ein vernünftiges Kind zugunsten seines erwachsenen Gehirns den Alkohol meidet, empfiehlt es sich noch im Alter, grundsätzlich bejahte Reifungsschritte nicht deshalb zu unterlassen, weil es sich eh nicht mehr lohne. Schon weil sie vielleicht den nächsten irdischen Start erleichtert, ist auch bei äußerer Wirkungslosigkeit jede geistige und sittliche Anstrengung ihrer Mühe wert.

Unser Osterjubel preist Jesu Auferstehung, das heißt die Unvergänglichkeit jenes ganzen Menschen, nicht allein seines ewigen Wer-Selbst, sondern auch seines einmaligen Was von der Krippe bis zum Kreuz. Auch auf die eigene Auferstehung hofft der Christ, auf die ewige Rettung seines besonderen Lebens von der Zeugung bis zum Tod. Von ihr weiß der Brahmanismus nichts, auch nicht der ehedem so hochgemute, jetzt resignierte Sinn der westlichen Moderne. »An ein Danach kann ich nicht glauben. Womit hätten wir das verdient?« - sagte soeben die Lyrikerin Sarah Kirsch in einem Interview der Deutschen Welle

Die Gotterfülltheit dieser taumelnden Maya-Welt zu verkünden ist der bleibende Auftrag des biblischen Glaubens. Ob aber - analog zum Bußwerk bei der Beichte - zusätzlich zur Rettung in Gott auch noch eine irdische Neubewährung auf uns warte, darüber ist dem Christen nichts geoffenbart, deshalb rede er nicht da von Humbug, wo wir nichts wissen. Das Finanzmodell aus Vaduz ist freilich ein Schwindel, keine Taschen hat das letzte Hemd, nicht einmal für ein Sparbuch. Ob aber den Toten die Geburt bestimmt sei nicht nur zum Ewigen Leben, sondern auch zu einem zeitlich künftigen, lasse ein Christ getrost offen.

12. Oktober 1996

Nachschrift im Juli 1997

In einem ebenso kundigen wie engagierten Vortrag (vor Esoterikern!) legte Werner Thiede dar: »Warum ich nicht an Reinkarnation glaube«. [Text 136 der Evang. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Auguststr. 80, 10117 Berlin] Er sieht in dieser Idee

a) eine Schwächung der Hoffnung auf die Auferstehung des Fleisches,

b) eine Entmächtigung der Gnade Christi;

c) nicht umsonst wolle die alte Kirche nichts davon wissen. - Meine Antwort:

a) Müßte ich zwischen Nur-Reinkarnation und Nur-Auferstehung wählen (oder zu Menschen sprechen, deren Denken mono in dieser Zwickmühle festhängt), dann würde auch ich mich als Christ gegen die Reinkarnationsidee wenden, mindestens zuerst. Dann allerdings würde ich versuchen, jenes Mono-Denken aufzubrechen, damit die Stereo-Wahrheit Platz gewinnt: Ich hoffe auf die Auferstehung dieses konkreten Zeit-Lebens und bin gespannt, ob es sich zudem auch als Glied einer Kette aus mehreren Leben zeigen wird, die dank besonderer Person-Identität durch die Zeiten hin geeint wird, ähnlich wie die Momente meiner Lebens-Story zwischen Empfängnis und Tod, die ja auch jeder für sich unmittelbar in Gottes Huld münden und zudem auch eine Geschichte sind.

b) Entscheidend ist, daß Christi Gnade mich als Sünder jetzt ganz und gar annimmt und erlöst, unabhängig davon, was in der Zeit vorher oder danach geschieht. Wer je in einem Beichtstuhl kniete, wußte gut: Allein auf Gottes Verzeihung kommt es an. Auch wenn er zudem vernimmt: »Und zur Buße ...«. »Es wird die nie gefundne der Perlen größte sein. Es wird der ganz Gebundne der ganz Erlöste sein.« (W. Bergengruen). Ja. Ganz erlöst aber vielleicht auch zum Neuen Werk: einem ganz anderen / nicht-anderen Menschen (die Cusanische Dialektik gilt von Gott nicht nur in sich, auch in uns) von innen her helfend nahe zu sein, in einer rational nicht mehr auflösbaren Spannung von Freundschaft und Identität.

c) Die Frage nach der Reinkarnation im Kontext der asiatischen Spiritualitäten hat sich der Urkirche nicht gestellt, wurde von ihr also auch nicht negativ beantwortet. Aus ihrem Schweigen folgt höchstens eine Ablehnung der damals diskutierten vulgär-esoterischen Fehlformen. Was den Glauben frommer Hindus und Buddhisten angeht, sollen die Kirchen dem Heiligen Geist lauschen. »Noch viel habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Kommt aber jener, der Geist der Wahrheit, so wird er euch in aller Wahrheit leiten« (Joh 16,12 f).


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