Jürgen Kuhlmann

Geistliches Souvenir

Sonnenuntergang am Meer. Auf den Wogen schaukelnd sehe ich den Glutball unseres Lebenssterns langsam hinter den Häusern versinken. Eben noch war er rund und voll, dann bloß mehr halb, und jetzt ist die Sonne weg. Endgültig? Nein, es lag an dem Wellental. Hoch hebt mich die nächste Woge, da ist wieder der liebe Glanz. Ein paar Mal geht das so hin und her, winziger wird der Rest der Sonne, bis keine Welle sie mehr zurückbringt, nur von den Wolken strahlt es rotgolden. Keine Angst aber, mein Herz, morgen erhebt sie sich neu aus dem Meer.

Auch die seelischen Sonnen gehen auf und unter. Manche Sinngestalt, die ein strahlend volles Heilszeichen war, verblaßt, bis sie irgendwann verschwunden ist. Da sollen wir uns nicht wundern, wenn sie auf einmal wieder erscheint. Mag sein, eine Nacht ist um. Oder sie war nicht untergegangen, nur eine Wolke hatte sie verborgen. Oder ein Wellental.

Streiten wir nicht, wenn ich eine bestimmte Sonne sehe, und du nicht: Wahrscheinlich schwimmen wir an verschiedenen Orten im Meer der Vieldeutigkeiten. Besser glauben wir einander. Ich dir, daß es dort dunkel ist - und auch ich im finstern Tal bangen könnte, so daß die Sonne mich dankbar machen darf, hochmütig nicht. Und du mir, daß es hier tröstlich hell ist dank unserer einen Sonne, die dein ist wie mein und auch dir wieder scheinen wird. Vielleicht schon gleich, bei der nächsten Welle.

September 1996

Volle Internet-Adresse dieser Seite: http://www.stereo-denken.de/sonnesee.htm

Zurück zur Leitseite von Jürgen Kuhlmann

Siehe auch des Verfassers Predigtkorb auf dem katholischen Server www.kath.de

sowie seinen neuen (seit Ende 2000) Internet-Auftritt Stereo-Denken
samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

Schriftenverzeichnis

Kommentare bitte an Jürgen Kuhlmann