Jürgen Kuhlmann

Das Geheimnis der Stenographie

Nicht nur Dinge, auch Beziehungen sind wirklich

Schon wieder die blöde Steno! seufzt die Schülerin und weiß nicht, welch genialen Einfall sie schmäht. Denn der Fortschritt von den Buchstaben zur deutschen Kurzschrift bedeutet - tief genug verstanden - den Ausweg aus einer Sackgasse des abendländischen Denkens. Bei der Druckschrift, die Sie lesen, stehen die Buchstaben neben-, die Zeilen untereinander. Es gibt nur Dinge: Jeder Buchstabe ist ein Ding; Wörter, Sätze, das Ganze eines Textes setzt sich aus Dingen zusammen. So etwa denkt man bei uns seit der Antike auch im Großen: Die Realität besteht aus lauter Dingen, die sich aus kleineren Dingen zusammensetzen, bis hinunter damals zu den »unteilbaren« A-tomen, jetzt zu den subatomaren Teilchen, die durcheinander schwirren und mitsammen alles bilden, was es gibt, auch uns.

Der Stenographie zugrunde liegt dagegen die Einsicht: Ebenso wirklich wie die Dinge sind die Beziehungen zwischen den Dingen. Jedes Ding ist ein Pol vieler Beziehungen, ebenso wie jede Beziehung ein Umstand (lat. accidens) mehrerer Dinge ist. Es gibt die Katze, die Maus, den Speck. Es gibt aber, zwischen den dreien, auch drei appetitliche Verlockungen, eine Todesangst, eine Jagdlust, zweierlei Lauschen, zweimal zwei Witterungen usw.

Hier stört im westlichen Denken ein blinder Fleck, seit für Aristoteles (+ 322 v.Chr.) »die Beziehung unter allen Kategorien am wenigsten Wirklichkeit« besaß [Metaphysik 1088a]. Natürlich hatte jener große Denker, als er das niederschrieb, keineswegs unser Fundamentalproblem im Blick. Mit Beziehung (pros tí = zu was) meint er hier bloß das Größenverhältnis zweier Körper; das ist nun tatsächlich nichts sehr Wirkliches:

»Ein Beweis dafür aber, daß das Relative am wenigsten eine Wesenheit und etwas Seiendes ist, liegt darin, daß vom Relativen allein es kein Entstehen, kein Vergehen, keine Bewegung gibt, wie es für die Quantität Zuwachs und Abnahme, für die Qualität Beschaffenheitsveränderung, für den Ort Bewegung, für die Wesenheit Entstehen und Vergehen schlechthin gibt. Aber für das Relative findet dies nicht statt; denn ohne verändert zu werden, wird dasselbe bald größer, bald kleiner oder gleich sein, wenn das andere der Quantität nach verändert ist.«

Das ist richtig; z.B. kann der linke Luftballon zunächst kleiner sein als der rechte und bald, nach dessen Schrumpfen, größer, und bleibt doch selber davon unberührt. Auch Aristoteles wußte vermutlich, daß eine persönliche Beziehung stärker und schwächer, besser und schlechter werden kann, er hat aber (mindestens an dieser Stelle) darüber nicht thematisch nachgedacht, sondern - wie es uns immer wieder passiert - aus Versehen mehr behauptet als gemeint, leider mit der bekannt schlimmen Folge: Solche Abwertung der Kategorie »Relation« ließ die Kategorie »Substanz« als labile Alleinherrscherin übrig: Dem halbgebildeten Verstand besteht die Realität im wesentlichen aus Klötzchen.

Gibt es zusätzlich zu den Elementarklötzchen und den daraus zusammengesetzten Klötzen unserer Erfahrungswelt auch noch einen Seins-Oberklotz über allen (den Gott der Theisten) oder einen all-umfassenden Seins-Umklotz (den Gott der Pantheisten)? Die umstrittene Frage ist falsch gestellt.

Die Stenographie ist über das Klotzdenken hinaus. Auch sie kennt Substanzen: die Zeichen für die Konsonanten. Die Selbstlaute aber werden durch die Beziehungen zwischen den Mitlautzeichen ausgedrückt, so kann dasselbe Wesen verschiedene Beziehungen zu sich selbst haben!

Das ist hier zu sehen.

Verdankt der Benediktinerschüler Franz Xaver Gabelsberger (1789-1849) seine Idee auch dem Religionsunterricht? Hat er irgendwann den theologischen Grundsatz gehört, daß es in Gott nicht nur das eine Wesen gibt, sondern auch - mit der Wesenskategorie nicht faßbar - die trinitarischen Beziehungsgegensätze? Tatsächlich ist die prinzipielle Alleinherrschaft des europäischen Klotzdenkens vom Dreieinigkeitsglauben durch eine geistige Revolution [»Wir stehen ... in der Tat vor einer Revolution. Denn die Identifizierung von hypostasis nicht mit ousia, sondern mit Personsein meint, daß die ontologische Frage nicht beantwortet wird mit Hinweis auf das In-sich-Existierende, auf ein Seiendes, wie es durch seine eigenen Grenzen determiniert ist, sondern auf ein Seiendes, das in seiner ekstasis diese Grenzen in einer Bewegung der Communio durchbricht«, formuliert präzise J.D. Zizioulas (übersetzt und zitiert von Greshake, 89).] überwunden worden. Nachdem Jahrhunderte an der Frage herumgedacht hatten, wie Vater, Sohn und Heiliger Geist miteinander der eine und all-einfache Gott seien, wurde man sich einig, daß sie keinesfalls als irgendeine Vielheit, ein Nebeneinander aufzufassen sind, sondern allein als reines Zueinander: »In Gott ist alles eins, außer wo ein Gegensatz der Beziehung entgegensteht« [Konzil von Florenz, Dekret für die Jakobiten v. 1442 (D 703)]. Denken wir uns die Einheit eines liebenden Paares in irgendeiner Phantasiewelt so vollkommen, daß beider Gehirne zusammengeschaltet sind, keiner braucht dem andern seine Gedanken und Gefühle zu sagen, beide erleben unmittelbar, was in jedem vorgeht. Trotzdem sagt er zu ihr du, und beide miteinander wir. Auch in vollkommener Was-Einheit sind Wer-Beziehungen denkbar.


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