Was der neue Radio lehrt

Stereo -Denken

Im Nachtkonzert hörte ich eine »Sinfonia für acht Stimmen und Orchester«. Bald war aus der Befremdung des Anfangs eine Art staunender Anerkennung geworden. Von Schönheit im klassischen Sinn ließ sich zwar nichts hören: das zirpte hier und brummte dort und ward begleitet von allerlei seltsamen Instrumentalklängen. Ein Sprecher schien eine ganze Lebensphilosophie mitzuteilen und dabei die Aufführung selbst zu kritisieren; denn »so etwas macht die Alten nicht jünger und senkt die Brotpreise nicht« - aber wie sei das wohl zu erreichen?

Es ist anzunehmen, daß das scheinbare Chaos, als welches die acht Stimmen und vielen Instrumente sich betätigten, nach den Gesetzen dieser Kunstart gar kein Chaos war. Dafür spricht, daß das Zuhören durchaus Lust bereitete, freilich eine andere als das Schwelgen in Harmonien. Vielleicht läßt sich das so erklären: obwohl die disparaten Rufe, Klänge und Minimelodien kein irgendwie fühlbares, verständliches Ganzes ergaben, fielen sie doch andererseits weder in eine leere Fremdheit auseinander noch zu einem häßlichen Brei zusammen. Jede Stimme war unverwechselbar sie selbst, dank des Stereo-Effektes an einer bestimmten Stelle des Hörraumes deutlich lokalisiert. Deshalb führten noch so viele Gegensätze trotzdem zu keinem Widerspruch: denn daß es hier so und dort anders zugeht, widerstreitet ja keiner Logik.

Wie würde es aber in Mono klingen? Neugierig schalte ich das Gerät um. Die Wirkung ist wie erwartet: ohne hörbare Eigenständigkeit der Einzelstimmen ist das »Ganze« unerträglich. Um die Raumdimension verkürzt, dringt die Musik nur mehr als sinnloses Gemisch des Unvereinbaren ans Ohr: die klaren Gegensätze von vorhin sind zu einem einzigen, abscheulich nichtssagenden Widerspruch verrührt. Sogleich drücke ich wieder die Stereo-Taste.

Viele Menschen wissen nicht, daß sie in ihrem seelischen Apparat auch eine Taste für Stereo-Denken haben. Sie vernehmen das vielstimmige Konzert der geschaffenen, gefallenen und erlösten Welt, die das Abbild des dreieinig in sich gespannten Gottes ist, allein in Mono. Natürlich erscheint es auf diese Weise unbegreiflich und widerwärtig: denn auf bloß eine Dimension verkürzt, geraten die Aspekte in Streit - in ihrer jeweiligen Wahrheit hingegen ergänzen sie einander. Um den Mißklang zu lindern, betätigt der Mono-Hörer dann allerlei Tonfilter, bis er den vollen Klang der Wirklichkeit auf jenen engen Sektor beschränkt hat, den er hinfort für das »Lied der Welt« erachtet. Wenn ein anderer dasselbe Lied ganz anders hört und beschreibt, wird er leicht fassungslos, vermutet Irrtum oder Lüge und erklärt schlimmstenfalls den Krieg. Hört der andere sein abweichendes Schallspektrum ebenfalls nur in Mono, dann ist jede Verständigung so gut wie unmöglich: denn beide erfahren ja und wissen deshalb unzweifelhaft, daß das Lied der Welt gerade so klingt wie sie es hören; die Wirksamkeit der Filter ist meistens nicht bewußt.

Was ist also zu tun, wenn du in solche Konflikte gerätst? Suche deine Stereo-Taste und hilf auch dem andern die seine entdecken. Zuerst mach dir klar, daß die Welt, so wie du sie erlebst, zwar durchaus wirklich ist, jedoch nur eine unter unzähligen wirklichen Welten. Denn es gibt ebenso viele Welten, wie unsere eine Welt bewußte Zentren hat. Nicht nur Maulwurf und Wildgans leben in unvergleichbaren Welten, sondern auch Lehrer und Schüler; Realist und Utopist; er, sie und es. Der erste Schritt zum Stereo-Denken besteht deshalb im bewußten Mono-Denken: wenn der Mensch auf seinem Standpunkt zwar steht, ihn aber nicht mehr für den allgemeinen Horizont und einzig möglichen Standpunkt hält - nach dem Motto: wer anders als ich denkt, ist dumm oder schlecht, vermutlich beides.

Die Beschränktheit des eigenen Standpunkts erkennt man freilich nicht von heute auf morgen, und auch nicht für dauernd. Anders als um den Preis täglicher Mühe ist Demut nicht zu haben. Wer mit dieser Beschränktheit wenigstens grundsätzlich zu rechnen begonnen hat, der kann den nächsten Schritt tun: rücksichtslos die Tonfilter ausschalten. Der entstehende Lärm tut zwar weh, das ist aber nicht schlimm. Ich muß versuchen, möglichst alle Klänge des Weltliedes unverfälscht in mich einzulassen. Die sicherste Weise, sich vor Irrtum einigermaßen zu schützen, besteht nicht im Vorschalten eines Universal-Filters gegen alle fremden Töne. Der Skeptiker glaubt nichts Falsches - außer dem einen Irrtum, der Sinn des Lebens bestehe im Zweifeln. Sondern wer nicht irren will, tut gut daran, zunächst einmal einfach alles zu glauben. Soweit ich weiß, stammt dieser Rat von Newman.

Wer ihn praktiziert, wird allerdings oft genug einer Täuschung unterliegen - meist aber nicht für lange; denn keine schon gehabte Ansicht verwehrt ihm, auch ihr Gegenteil zu glauben, sobald dieses ihm ernstlich begegnet. Auf diese Weise werden manche Mißverständnisse geklärt und eindeutige Fehlinformationen korrigiert. Zuweilen aber geht es nicht so. Beide gegensätzlichen Stimmen beharren auf ihrem Recht. Das wird ihm bald so lästig, daß er heftig nach der Stereo-Taste sucht. Und eines Tages wird er sie finden. Blitzhaft geht ihm auf: dieser sagt +a und meint es auch; jener schien mir bisher immer -a zu sagen; das meinte er aber gar nicht, vielmehr will er +b sagen, nur hatte die Mono-Sprache, in welcher beide Behauptungen sich innerhalb meiner Denkwelt bisher ausdrücken mußten, nicht genug Dimensionen, um ihre positive Polarität darzustellen. Jetzt aber ist mir klar: jede Stimme »stimmt« dort, wo sie erklingt, keine widerspricht der anderen.

Wie aber, wenn es um ganz konkrete Fragen geht? Wenn etwa die halbflügge Tochter zu einer Nachtparty will und der Vater es ihr verbietet: können da beide recht behalten? Praktisch natürlich nicht, aber die Situation ist schon wesentlich entschärft, wenn beide wenigstens theoretisch einsehen. daß der andere Standpunkt nicht einfach nur dumm oder schlecht ist. Das anzustrebende Ideal bestünde darin, daß beide die vollständige Stereo-Fassung vernehmen, in der jede Stimme ganz in ihrer Eigenart erklingt. Auch dann kann man immer noch sei es kämpfen, sei es Kompromisse schließen: das wird aber dann leichter im Geiste der Liebe geschehen.

Warum ist das Stereo-Denken also notwendig. Unmittelbar deshalb, weil die geschöpfliche Welt vielfältig ist und sich an jedem rächt, der sie auf einen einzigen Standpunkt verengt. Der tiefste Grund ist jedoch nicht die geschaffene Vielheit. Gott selbst ist einfach, kennt dies und jenes zwar bei den Geschöpfen, nicht aber in seinem ewigen Wesen. Aber er ist, eben in diesem einfachen Wesen, zugleich die Einheit der äußersten Gegensätze. Kein geschöpflicher Kontrast ist der unendlichen trinitarischen Spannung vergleichbar. Daß die endlichen Dinge nicht bloß unbezogen neben- und auseinander, sondern zueinander sind: das verdanken sie der Teilhabe an der absoluten Gegensätzlichkeit in Gott. Daß jeder Glaubende am dreifaltigen Leben schon Anteil hat: das ist der letzte Grund für den Besitz einer Stereo-Denktaste. Weil die absolute Spannung selber unser Leben fundiert, deshalb sind wir grundsätzlich imstande, die sekundäre Spannung von einer Erlebniswelt zur anderen auszuhalten.

Zum Schluß sei nochmals vor einem Mißverständnis gewarnt. Nicht darum geht es, tatsächliche (kirchenpolitische oder sonstige) Konflikte mittels versöhnlicher Theorien zu verharmlosen oder zu verdrängen. Nicht den Frieden zu bringen ist Jesus gekommen, sondern das Schwert. So wie unsere Welt angelegt ist, gehört es leider oft zur Eigenheit einer Stimme, praktisch und konkret nicht nur für sich selbst, sondern auch gegen die anderen zu sein. Wer das nicht wahrhaben will und im Namen trauter Eintracht dagegen anjammert, ist bloß naiv. Das Schwert, das Jesus gebracht hat, muß jeder führen, wie sein Gewissen es ihm aufträgt. Aber nur mit der einen Hand. In die andere gehört die Friedenspalme. Wen sie beim Fechten störte, wäre kein guter Fechter.

Damit sind wir wieder bei unserem Ausgangspunkt: der dissonanten Musik. Nur wer sich auf Stereo schaltet, wird dem Sinn der Welt gerecht.

 

Mai 1970

 

[Bisher unveröffentlicht]