Stereo-Denken

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Stereo-Hören erlebe ich als Glück, sobald der kaputte Kopfhörer oder Lautsprecherkontakt repariert ist und die Musik sich mir wieder als Spannungsreichtum offenbart; vorher war sie bloß Mono-Klangbrei.

Stereo-Sehen war im 19. Jahrhundert ein beliebtes Spiel: Doppelfotos, von zweiäugiger Kamera aufgenommen, ergaben dank eines Schaugeräts lebensecht plastische Bilder - für jeden gesunden Blick, nicht nur für Inhaber des »magischen Auges«, die während jener Mode unserer 90er Jahre solchen, die es nicht hatten, ihren Stereo-Eindruck nicht beweisen konnten.

Stereo scheint mir das verständlichste Gleichnis, durch das sich auch sog. einfache Menschen der dem Verstand unaufhebbaren, dem Herzen immer schon unbedrohlichen Grundparadoxie aller Wirklichkeit klarer bewußt werden können.

Man halte den gestreckten Zeigefinger vor den Mond und frage: Ist der Finger rechts oder links vom Mond? Je nachdem, ob man den Finger oder den Mond fixiert, zeigt sich dann entweder der Mond rechts und links vom Finger oder der Finger rechts und links vom Mond.

Drängt jemand: nun sag schon, ist der Mond rechts vom Finger oder (nicht rechts sondern) links? - dann hat die übliche Logik, die doch in Alltag und Wissenschaft so nützlich ist, offenbar ihre Geltung verloren. Vielmehr kann ich nur hilflos antworten: rechts und nicht rechts, nämlich links.

Schon sind wir mitten im Stereo-Denken. Gibt es Gott oder nicht? Keine zeitgeistlich windigen Ausflüchte bitte! - Meine Stereo-Antwort heißt: Es gibt keinen Gott aber Gott ist wirklicher als alles was es gibt. Linke Wahrheit: Angenommen du bestehst derzeit aus x Zellen oder y Atomen, dann gibt es in dir nicht, als Zelle x+1 oder Atom y+1, auch noch dein Ich; ähnlich gibt es im Universum nicht zu den z Personen auf allen Planeten hinzu auch noch eine Person z+1: einen Gott. Rechte Wahrheit: Ähnlich wie in dir dein Ich wissenschaftlich unauffindbar ist und darüber doch wirklich lacht, so ist in der Wirklichkeit überhaupt nirgends etwas wie ein Gott anzutreffen und doch IST GOTT alles Wirklichen Grund. Obwohl in der Aida keine Figur namens Verdi vorkommt, ist für die Aida-Welt Verdi ihr schöpferisches Alles.

Das Wort »Stereo-Denken« entstand 1970, nachdem ich beim Ausprobieren des neuen Stereo-Radios fasziniert festgestellt hatte, wie die schrillste moderne Musik erträglich, sogar überraschend schön klang, sobald ihre Widersprüche einander nicht länger (am selben Ort) zerstörten sondern (dank klarer räumlicher Spannung) gelten ließen, ja verstärkten. Sollte es bei den ideologischen Widersprüchen, die unser Denken durchlärmen, etwa ebenso sein?

Damit war endlich das Wort für eine aufwühlende Einsicht zehn Jahre früher gefunden.

Denn der Begriff »Stereo-Denken« geht auf ein Erlebnis zurück, das mich am 7. Dezember 1959 während des Theologie-Studiums im Germanikum buchstäblich überfiel. Ich weiß noch, wie aufgeregt ich abends im roten Talar auf der Terrasse im 7. Stock umherstürmte, um mich zu beruhigen. Daß ich etwas Wichtiges entdeckt hatte, war mir klar; nicht aber, wie ich es anwenden und weitervermitteln könne. Der Text, damals getippt, wurde von Hausautoritäten und Mitstudenten so wenig ernstgenommen, daß er mir nicht einmal geschadet hat.

In den 41 Jahren seither hat das Prinzip Stereo-Denken geschlummert, weil ein anspruchsvoller Brotberuf mir nicht die Zeit ließ, im Wissenschaftssystem hinreichend aktiv zu werden (ein vager Habilitationsplan war nach der Heirat vorbei). Mag sein, das ändert sich jetzt. Drittel-Rentner bin ich schon.

Zur Hochzeit erschien ich 1972 auf dem Standesamt nicht nur dank einer erschlichenen [selbstausgefüllten und gestempelten, vom des Deutschen wie der Sache unkundigen Gastpriester nur schnell unterschriebenen] »Traubereitschaftserklärung« der spanischen katholischen Mission (ohne welches Dokument, auf dem mein Staat amtlich bestand! mein Ältester vermutlich Spanier geworden wäre), sondern auch mit modisch wucherndem Bart. Während der bald danach fiel, entstand ein dreifach lustiges Stereo-Portrait.

Im Sommer 1973 - Tomas war seit kurzem geboren - fand ich im Briefkasten meines verreisten Nachbarn ein Heft einer linken Lehrer-Zeitschrift und darin einen Aufsatz über die “Hessischen Rahmenrichtlinien”, die damals die Republik entzweiten. Voller Versöhn-Eifer schrieb ich einen Artikel über das, was ich für den Kern des Problems hielt, brachte ihn  freilich nirgends unter. Wegen der “Harmonie von Konflikt und Harmonie”, die sich vom Konflikt der beiden kaum (oder: wie?) unterscheiden läßt, füge ich den Text hier ein. Wie diese Unterscheidung sich zu der verhalte, die ich eben bei Luhmann lese

    “Wer genau liest, wird bemerken, daß von Differenz von Identität und Differenz die Rede ist und nicht von Identität von Identität und Differenz.” [Soziale Systeme (1984), 26]

    dürfte eins meiner nächsten Forschungsthemen sein.

Jahrelang hielt ich dann im Nürnberger Bildungszentrum unter dem Titel »Stereo-Denken« Kurse über allerlei Denker und Gedanken, darauf bezieht sich die Einleitung zu einem Aufsatz in der Weihnachtsbeilage 1979 der Nürnberger Nachrichten. Im November 1998 begegnete im evangelischen Haus Eckstein ein Gesprächskreis dem großartigen Kreisel-Gleichnis des Nikolaus von Kues; obwohl es damals zu einem unschönen Streit kam, bleibt der Abend mir als fruchtbar in Erinnerung.

In einer Reihe von Büchern wurde das Prinzip angewendet; thematisch enthält eine Fassung von 1998 weitere Gesichtspunkte, ein  Text aus dem neuen Buch (»Gott Du unser Selbst«) bringt die Antwort auf einen Einwand, als  Anschluß an den biblischen Sprachgebrauch. Denn das Wort »stereo« steht schon im Neuen Testament!

Ein Ausblick umreißt meinen Forschungsplan für den Fall. daß mir noch Zeit geschenkt ist.

Ab morgen soll es in Deutschland keine katholische Schwangerschaftskonfliktsberatung mehr geben. Am letzten Tag des Jahrtausends frage ich mich, wo ich in diesem  Konflikt stehe. Ist die Antwort beschämend? herzlos? hilfreich? Hoffentlich wenigstens wahr?

EWIGE LIEBE STEH UNS BEI !

31. Dezember 2000

Nachschrift im Oktober 2001:

Stereo-Denken, wendet man ein, sei bei jeder wirklichen Kontroverse a) arrogant, b) unnütz. Arrogant: Wer zu einem Streit seinen Senf dergestalt beiträgt, daß er beiden Parteien recht gibt, scheint sich über beide auf eine höhere Warte zu stellen, das wird ihm zu Recht übelgenommen. Und unnütz: Wirkliches Denken ist immer bestimmt, scharf, teilt ein klares Signal mit, nie zugleich auch dessen Gegenteil. Angebliches Stereo-Denken höbe sich selber auf, sofern der eine Kanal dem andern widerspräche. Täte er das nicht, würde aber mono gedacht.

a) Auf den Vorwurf der Arroganz antworte ich zuerst mit einer Metapher, die wird sodann auf das Denken bezogen. Zwar enthält das weiße Sonnenlicht alle Farben, ist insofern mächtiger, höher als das Rot einer Rose, das Grün ihrer Blätter oder das Blau einer Aster. Solcher Vorrang steht jedoch nicht dem Weiß eines Gänseblümchens zu. Es strahlt neben, nicht über den anderen Farben, ist nicht ihre höhere Einheit, auch wenn es sie (Kundigen) bedeutet, weil es an das Sonnenweiß erinnert, welches allein alle Farben überragt und zusammenfaßt.

Ähnlich verstehe ich das Programm Stereo-Denken. Gesprochen, geschrieben, Ihnen hier lesbar enthält und ersetzt es keineswegs die zueinander polaren Wahrheiten irgendeiner Kontroverse. Egal für welche Denkfront es vorgeschlagen wird (z.B. Atheismus/Religion, Rechtfertigungslehre, Islam/Christentum usw.), ist der Rat »denk stereo!« zunächst ganz leer, soll den streitenden Parteien allerdings schon ihre Mono-Selbstsicherheit ankratzen. Mag sein, sie empfinden das als arrogant, weil der bloße Einwurf ja nicht die mindeste Denkleistung voraussetzt. Treffend spottet Eugen Roth:

        DER WEISE

    Ein Mensch, den wüst ein Unmensch quälte,
    Der lang und breit ihm was erzählte
    Und der drauf, zu erfahren, zielte,
    Was er, der Mensch, wohl davon hielte,
    Sprach, kratzend sich am Unterkiefer:
    »Ich glaub, die Dinge liegen tiefer!«

    Gestürzt in einen Streit, verworrn,
    Der, nutzlos, anhub stets von vorn,
    Bat er, sich räuspernd, zu erwägen,
    Ob nicht die Dinge tiefer lägen.

    Ja, selbst den Redner auf der Bühne
    Trieb, zwischenrufend, dieser Kühne
    Vor seines Geistes scharfe Klinge:
    »Es liegen tiefer wohl die Dinge!«

    Der Mensch hat, ohne je den Leuten
    Die Tiefen auch nur anzudeuten,
    Es nur durch dieses Wortes Macht
    Zum Ruhm des Weisen längst gebracht.

Selbst wenn ein Stereo-Denker dann an einer bestimmten Polarität arbeitet (bei der Spannung Religion/Atheismus habe ich es in drei Büchern [ 1  2  3 ] getan), wird trotzdem alles, was er ausdrücklich sagen kann, nie stereo sein sondern bestenfalls der »dritte Pol«, jene Mitte zwischen den Gegensätzen, die dem Weiß des Gänseblümchens entspricht, an dem jeder sehen kann, daß die Zwickmühle Rot oder Grün nicht zwingend ist: denn wenn dieses demütige Weiß eine Wand färbt, vermag die beim Diavortrag selber rot und grün zu leuchten. Ähnlich kann, wer den Sinn jener Bücher verstanden hat, beim Gespräch mit Frommen und Atheisten frei jetzt zustimmen dann widersprechen, je nachdem was sein Gewissen gerade als die existentielle Wahrheit beurteilt, die jetzt dran ist (das heißt kairós auf deutsch): Heilung von religiöser Verklemmung oder Bekehrung zum lebendigen Gott. Beides ist, wie erwachsen Glaubende wissen, im Grunde dasselbe (Stereo-)Heil; doch ist dieser Grund nur unserem Herzen zugänglich, nicht verständiger (Mono-)Rede. Daß die absolute Wahrheit endlichem Sinn unbegreiflich bleibt, ist Mystikern selbstverständlich und für Katholiken Dogma.

Bis meine streitenden Partner diese Meta-Wahrheit eingesehen haben, muß ich ihren Arroganz-Vorwurf ertragen. Falls sie mich überhaupt ernstnehmen, andernfalls wird Stereo-Denken

b) als unnütz abgetan. Wer denkt, müsse klar Position beziehen, dürfe sich keinesfalls selbst widersprechen. Schlimmer: Wer auf zwei Schultern trägt, wird allseits verachtet. »Ich hasse, die zwiefachen Herzens sind«, ruft nicht nur (119,113) der Psalmist.

Auf diesen Einwand antworte ich: Es gibt zweierlei Denken (und Verhalten): Sich äußerndes zum einen, vernehmendes zum andern. Auf Äußerungen trifft der Einwand zu. Wer einen Satz ausspricht, kann nicht zugleich das Gegenteil behaupten, schließt es implizit aus. Insofern gäbe es kein Stereo-Denken. Doch empfiehlt es sich nicht, den Begriff »Denken« derart eng zu definieren. Wer aufmerksam zuhört, denkt ebenfalls, erst recht wenn er das Gehörte zunächst als falsch empfindet, weil es seinem eigenen Denken widerspricht. Wer solche Spannung aushält, jene Empfindung nicht sofort zum Urteil »Unsinn!« verfestigt sondern diesem Drang widersteht, mit der Begrenztheit der eigenen Position rechnet und deshalb zurückfragt: Bitte, wie meinst du das? - ein solcher Mensch denkt stereo.

Auch das verdeutliche ein Gleichnis. Im Orchester kann die Klarinettistin nicht zugleich Cellotöne erzeugen. Sie ist auf ihr Instrument festgelegt. Wer auf allen spielen wollte, würde kein großer Künstler. Das heißt aber nicht, daß sie stets nur allein spielen will. Sie sucht sich Partner: für Duette, Trios, Sinfonien. Während sie sich mono äußert, vernimmt sie die Gegenstimmen stereo: Weil der Celloton von dort drüben kommt, widerspricht er - selbst bei Dissonanzen - nicht ihrem eigenen Klang hier sondern bildet mit ihm zusammen jene Spannung, die nicht nur Komponist und Dirigent wollen sondern jeder Musiker: nicht als eigenen Beitrag aber durch ihn und als das Ganze , zu dem das Eigene gehören darf.

Beim Musizieren wirken vernommene Partner auf die eigene Äußerung zurück, solches Ineinanderschwingen ist eine hohe Freude. Ebenso werden beim Denken meine Sätze anders sein, je nachdem ob ich sie grob auf meiner Mono-Schiene formuliere oder dialogbereit auf die fremde Wahrheit gespannt und meine Mißverständnisse neugierig bin. Andere möglichst wenig zu verletzen ist das Ziel.

Erweitern wir das Gleichnis. Musiker sind nicht nur die Virtuosen eines Instruments sondern auch Dirigenten und Tonmeister. Äußern sich diese? Ja, aber nicht direkt durch Töne die das Publikum hört sondern in Metasprache: durch flehentliche Gesten der Dirigent, durch Hantieren mit Reglern der Tonmeister. Beide bewirken nicht den Einzelton sondern den Gesamtklang. Auch ihre Äußerungen sind (bei Dirigenten soll es Ausnahmen geben) klar und genau, in ihrer Metasprache jedoch, nicht unmittelbar hörbar. Dem entspricht beim Denken der systematische Versuch, polare Gegenwahrheiten aufeinander zu beziehen. Dürfen gegensätzliche Pole miteinander gleich stark tönen, ergibt sich ein Paradox. Beispiele: »Ich bin Atheist um Gottes willen« (Bloch); »Gott sei Dank bin ich Atheist« (Buñuel); »wir wissen von Gott nichts aber das ist ein Nichtwissen von Gott « (Franz Rosenzweig). Werden die polaren Gegensätze hingegen nacheinander so angeordnet, daß zuerst der eine hervortritt und dann der andere, wodurch ihre Geltungsbereiche sich deutlich unterscheiden, so daß - bei bleibendem Gegensatz - der Widerspruch verschwindet, dann gerät das Bewußtsein bestenfalls in immer schnelleres Oszillieren, bis sich plötzlich ein Stereoblitz ereignet und der Mensch einen Augenblick lang weiß, daß die Gegensätze in Wahrheit zusammenfallen. Doch kann er solches Wissen weder selbst behalten noch anderen vermitteln. Gibt es Gott? Es gibt Gott nicht aber Gott ist wirklicher als alles was es gibt, so wie in Aida kein Verdi auftritt. Wer das irgendwann nicht nur logisch sondern existentiell verstanden hat, kann danach mit Frommen wie Gottlosen gleich gut Freund sein.

Wie ist jener Psalmvers also zu erklären? Der Beter haßt die »Zwiegegabelten« (Buber) oder »Zwiespältigen« (Einheitsübersetzung), dabei liegt der Ton auf der inneren Einstellung der Unentschiedenheit. Luther schreibt »Flattergeister«, das rügt die äußere Abwechslung von Opportunisten. Beides ist von Übel, wofern das Gewissen Standpunkt und Treue verlangt. Stereo-Denken beim Vernehmen wird aber auch jetzt gefordert, so sehr als Ausdruck ein klares Mono-Zeugnis der einfältigen [wörtlich: unvermischten] Taube (Mt 10,16) dran ist.

Auf andere Situationen paßt nicht der Psalmvers sondern Jesu zu ihm polarer Rat »seid klug wie die Schlangen!«. Schon im Paradies hat die Schlange gegen dessen unschuldige Einfalt auf eine zuvor undenkbare andere Möglichkeit hingewiesen. So verderblich der Ich-Apfel als Monospeise gegen Gottes Gebot sich erweist, so wichtig ist er - bis in Ewigkeit - als ein Bestandteil des ganzen Stereo-Heils EINS-DU-ICH. »Wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den Gemeinden sagt: Wer siegt, dem werde ich zu essen geben vom Baum des Lebens, der im Paradiese Gottes steht« (Offb 2,7).

Der Gegensatz Taube/Schlange steht quer zu dem üblichen von Taube und Falke. Die fundamentalistisch aggressive Taube hackt - falkengleich - der ökumenisch klugen Schlange die Augen aus; umgekehrt beißt die Schlange die Taube tot, wo Ökumenismus zu respektloser Glaubensmischerei entartet. - Wann soll ich Klarinette und nicht Cello spielen? Wann als Tonmeister beide Klänge (nicht mischen aber) verbinden? Die Frage ist nur aktuell nicht prinzipiell zu entscheiden, allein von einem Gewissen ohne starre Tauben- oder Schlangen-Ideologie.