Jürgen Kuhlmann

Treu und Neu -
oder: den Papst verstehen

Eine Übung im katholischen Stereo-Denken

[Es war noch niemals von Nutzen, wenn die heißen Eisen der innerkirchlichen Diskussion nicht angepackt. wurden. Andere ergriffen sie und schmiedeten sie um zu Waffen gegen die Kirche. Deshalb ist die Schriftleitung dankbar, daß im vorliegenden Aufsatz ein solches heißes Eisen mutig angepackt und das Thema ausgewogen behandelt wird. Der Verfasser des Beitrags wünscht sich nichts lieber, als daß andere auf seinen Beitrag eingehen, ihn weiterführen oder kritisieren und dabei vom gleichen Geist der gegenseitigen Achtung und kirchlichen Mitdenkens und Mitfühlens sich tragen lassen. Die Schriftleitung]

Keinen einzigen Priester, heißt es, hat der Papst bisher vom Zölibat dispensiert. Der Vergleich mit den zweitausend jährlich unter Paul VI. macht betroffen. Anscheinend ist die Weigerung Johannes Pauls II. nicht als vorläufiges Abwarten auszulegen, sondern entspringt einem festen Entschluß. "Priester auf ewig, eine solche Gabe geben wir nicht zurück", betonte er in Amerika. Im Folgenden wollen wir versuchen, diesen Gegensatz zweier Päpste zu verstehen.

I. Ineins der Gegensätze

Meine These lautet: Der Widerspruch in der Kirchenpolitik ist ein sinnvoller Ausdruck der unaufhebbaren Spannung zwischen zwei gegensätzlichen Gottesbildern, die nur miteinander wahr sind. - Zunächst seien die beiden Pole je für sich dargestellt.

Den einen erlebt etwa ein Priester, der den Zölibat als Erwachsener und in vollem Bewußtsein übernommen hat, Jahre hindurch in Höhen und Niederungen seines Dienstes Freude finden und weitergeben durfte - und eines Tages mitten beim friedlichen Breviergebet plötzlich weiß, daß er diese bestimmte Frau heiraten wird. Er entsinnt sich der gotterfüllten Aufbruchstimmung ehedem bei seinem Entschluß zum Priestertum und ist gewiß: dasselbe ruhig-starke Licht wie damals weist mir auch jetzt wieder meinen neuen Weg.

Den anderen Pol stellt ihm dann vielleicht sein Bischof vor Augen, dem er sich anvertraut. Er warnt ihn vor der gleißnerischen Welt der Unverbindlichkeit, die dem Menschen jegliche Freiheit gewährt, nur nicht die eine, köstlichste: seine Freiheit auf immer an ein geliebtes Du wegzuschenken. Soll denn alles beliebig rücknehmbar sein? Muß deine Übereignung an Gott nicht mindestens so erregend endgültig sein wie das Einwerfen eines Briefes (Chesterton)? Eine arme Welt, in der du stets nur von Tag zu Tag leben kannst und nie weißt, wo die Laune dich morgen hinwehen wird. Erst deine Treue, die auf Gottes Treue eingeht, macht dich aus dem haltlosen Schilfrohr zu einem verläßlichen Menschen, der dann auch anderen zur Orientierung helfen kann.

Kein Zweifel: der Bischof hat recht. Jener Priester aber auch. Auf's äußere Handeln gesehen, ist ihr Konflikt zunächst unlösbar. Und doch reimt sich Neu auf Treu, nicht bloß sprachlich, auch im Geist. Was ist das Gegenteil von Treu? Offenbar: Beliebig. Beliebigkeit ist das Kennzeichen eines Lebens, das sich im Innersten nicht gebunden hat. Ein solcher Mensch weiß immerfort: ich kann tun, was mir beliebt. Am Anfang erfährt er seine Ungebundenheit positiv: als Freiheit. Je älter er wird, je mehr seine Freunde sich festgelegt und durch eine Bindung "verwirklicht" haben, um so schmerzlicher spürt er, daß Beliebigkeit ebenfalls ein Zwang ist: wer immerfort frei sein muß, ist gerade nicht frei. Freiheit ist ja nichts weiter als die Möglichkeit zum bindenden Entschluß; wer sie sich stets offenhält, dem ist der Entschluß nicht möglich, er ist nicht frei. Sartre hat diese Dialektik packend dargestellt.

[So sagt in Sartres "Zeit der Reife" (Hamburg 1969, S. 130 f) ein kommunistischer Freund zum "Helden" Mathieu: "Du bist deinen Weg gegangen. Du bist der Sohn eines Bürgers, du konntest nicht so einfach zu uns stoßen, du mußtest dich frei machen. Nun ist's geschehen, du bist frei. Aber was soll denn die Freiheit, wenn man sich nicht bindet? Fünfunddreißig Jahre hast du dazu gebraucht, dich auszumisten. Und das Resultat? Leere! Weißt du, du bist ein komischer Kauz. Du lebst im luftleeren Raum, du hast deine bürgerlichen Bindungen aufgegeben, hast keine Beziehung zum Proletariat, du schwimmst, du bist was Abstraktes, bist gar nicht richtig da ... Um ganz frei zu sein, hast du auf alles verzichtet. Geh noch einen Schritt weiter, verzicte auch auf deine Freiheit; und alles wird dir wieder zurückgegeben." "Du redest wie ein Pfaffe", sagte Mathieu lachend.]

Mit solcher Beliebigkeit ist es für den Christen, der sich durch ein Gelübde an Gott oder in der Ehe an einen menschlichen Partner gebunden hat, ein für allemal vorbei. Für unser Thema heißt das: Wer als Priester oder Mönch seine Freiheit dem lebendigen Gott geschenkt hat, darf sie nicht zurückverlangen, ist frei von der Unruhe des Herzens, das jede Frau daraufhin prüft, ob sie etwa die Richtige wäre. Stattdessen kann er auch bei ihr einfach für den Menschen da sein - so unbefangen wie es kein Junggeselle, so total wie es kein Ehemann kann; denn ungestillte Sehnsucht macht wacher, als emotionale Sattheit sich das gemeinhin vorstellt. Der Brief ist gewissermaßen im Kasten, und da ich ihn sowieso nicht wieder herausholen kann, gibt es keinen Grund, dauernd ruhelos an der Klappe zu rütteln.

Wenden wir uns jetzt dem anderen Wahrheitspol zu. Was ist das Gegenteil von Neu? Offenbar: Alt. Ich assoziiere Altpapiersammlung, Altkleideraktion. Von Altem, Abgelebtem nicht lassen zu können ist eine Krankheit. Während ich als Umzugshelfer eine Unmenge Gerümpel vom alten Keller auf den "neuen" Speicher brachte, befiel mich neulich ein recht melancholisches Gefühl. - Der lebendige Christ läßt die Toten ihre Toten begraben, sich selbst aber nicht von totem Altem belasten. Unser Gott ist jeden Morgen neu. Seit Jahrzehnten tut Mutter Teresa Tag für Tag dieselbe harte Arbeit (wozu auch der Umgang mit Toten gehört; der Glaube überwindet die Zweideutigkeit der Wörter) - und welch unverwelkte Frische strahlt aus ihren Runzeln! Ja: singen wir das Neue Lied, suchen wir das Neue Gebot zu erfüllen, schaffen wir fort den alten Sauerteig der Beliebigkeit oder der Starrheit, seien wir neue Menschen, des ewig jungen Gottes neuer Winke Stunde für Stunde gewärtig.

Nein, Treu und Neu sind kein Widerspruch, sondern im Unendlichen dasselbe und im Leben unseres Herzens vereinbar, mehr: nur miteinander möglich; jede Untreue macht älter. Frei nach Paulus dürfen wir also feststellen: Da ist nicht mehr Jude und Heide, weder Sklave noch Herr, weder Mann noch Frau, weder alt noch beliebig, sondern ihr seid ein neues Leben im treuen Christus.

Und doch besteht in der äußeren Erscheinung weiterhin der Gegensatz zwischen Mann und Frau, zwischen Juden und Heiden, zwischen Untergebenem und Vorgesetztem, und so auch zwischen denen, die im Zölibat verbleiben, und solchen, die auf einmal anders leben wollen. Beide sind sie der Verachtung der jeweils anderen Seite ausgesetzt. Für die außerkirchliche "Welt" ist Treue Gott gegenüber nichts als gesellschaftlicher oder neurotischer Zwang. Der in der Kirche Schwachgläubige hingegen kann den radikal neuen Entschluß eines Gottgeweihten nur als Abfall deuten, der möglichst zu verdrängen ist.

Wer die Einheit von Treu und Neu im Zölibat wirklich lebt, der hört brüderlich zu, wenn sein Gegenpart von seiner Erfahrung berichtet, und wird ihn nicht verdammen. In Chestertons Gleichnis klingt sie etwa so: Unter den vielen freundlichen Antworten, die ich von meiner Partnerin, der ewigen Liebe, auf das Geschenk meiner Freiheit immer wieder erhalte, finde ich eines Tages - zu meiner größten Überraschung - ein bestimmtes Bild von IHR, in welchem SIE, die ich bisher bildlos verehrt habe, mir hinfort auch im Fleisch nahe sein will.

Was soll für jemand, der den Gott der Heilsgeschichte aus den Geschichten der Bibel kennt, an einer solchen Wendung unannehmbar sein? Was äußerlich wie ein Rückfall in die Beliebigkeit aussieht, kann Tat-sächlich doch die neue Konkretisierung der bleibenden Treue sein. Wer mit einer solchen Möglichkeit von vornherein nicht rechnen will, hat Anlaß zu der Frage, ob er im Ernst an Gottes Taten glaubt oder ob sein Gottesbild nicht eher aus einer Art metaphysischem Beton ist. Die Treue selbst reicht (hoffentlich) bis zum leiblichen Tod. Auch ihr Ausdruck? Wer mag, kann auch so denken. In der Bibel findet er dafür entsprechende Aussagen.

[Möglicherweise wird die "process theology" ein besseres Begriffsmaterial zur Erfassung der Dialektik von Neu und Treu, von Neu und Alt bereitstellen, als es andere theologische Denkweisen bereithalten. Der Philosoph A. N. Whitehead (1861-1947) gilt als einer der Väter dieser theologischen Richtung. Er schrieb 1928: "Eine Persönlichkeit, die in der zeitlichen Welt dauert, ist eine Linie von Gelegenheiten, bei welcher die Nachfolger ihre Vorgänger in besonderer Vollständigkeit zusammenfassen." Welch erregende Formulierung der Glaubensbotschaft in der Sprache dieser Theologie gelingt, zeigt die folgende Kostprobe: "Jene meine vergangene Erfahrung mag erinnert werden, sie wird aber jetzt von mir nicht in voller Unmittelbarkeit erfahren. Wohl aber von Gott. Da die Wiederverwirklichung der subjektiven Form in Gott vollkommen ist, ohne irgendwelche Abstriche, ist mein vergangenes Selbst in Gott voller selbst als in meinem jetzigen Selbst. Wenn mein vergangenes Selbst bewußt war, dann ist es jetzt in Gott bewußt, da Bewußtheit ein Zug der wiederverwirklichten subjektiven Form ist, aber es ist die Bewußtheit jenes vergangenen Selbst, nicht meines jetzigen Selbst. Denn in der zeitlichen Welt ist jener vergangene Bewußtseinsakt untergegangen, um meinem jetzigen Bewußtseinsakt Platz zu machen ... Sowie jedes Selbst stirbt, erwacht es zu neuem Leben in Gott, seine Nachfolger können dies aber nicht erleben, bevor sie selber diese große Reise unternehmen." (L. Ford und M. Suchocki in "Process Studies", Heft 7, 1978, 9)]

Ist unser Gott nicht einer, der aus Abgestorbenem neues Leben weckt? War Sara nicht genetisch tot, als sie das Kind der Verheißung empfing? Wenn mein Studienfreund, der am Matterhorn abstürzte, in Ewigkeit Priester bleibt, warum soll das dann nicht für den anderen Freund gelten, bei dem das Ende des irdischen Priesteramtes zeitlich mit dem Beginn eines neuen Lebensabschnittes zusammenfällt? Nicht neue Strophen fügt die Ewigkeit unserem Lebenslied an, sondern das unverlierbare Echo schenkt sie ihm. Darum ist "Priester auf ewig" die tiefe Hoffnung auch dessen, der sein Priester-Ich schon "gestorben und mit Christus zusammen verborgen bei Gott" (Kol 3,3) aufgehoben weiß, während die Freuden und Sorgen des Familienvaters sein späteres Ich erfüllen.

Kurz: Der Gott der Heilsgeschichte ist ein freier, nie berechenbarer Partner seiner Bundesfreunde. Seine Treue ist Tag um Tag neu, ob er dem einen die stets neue Kraft zur Treue schenkt oder dem anderen plötzlich den Mut zu einer neuen Treue.

Soziologisch sichtbar ist nur der Gegensatz zwischen Bleiben und Veränderung; ob das Bleiben lebendige Treue bedeutet oder bloß starres Haften am Alten - ob die Veränderung auf einem neuen Heilsereignis beruht oder Ausfluß der Beliebigkeit ist, darüber steht dem Beobachter kein Urteil zu. Keinen Widerspruch gibt es zwischen Treu und Neu, vielmehr pulst im Bewußtsein des Glaubenden das lebendige Ineins beider Aspekte. Nur wo ihre Spannung sich durchhält, hat er es mit dem wirklichen Gott zu tun; jeder Abfall vom Stereo-Denken zur einen oder anderen Mono-Ideologie wäre der Tod des Glaubens, würde den lebendigen Gott entweder zur unverbindlichen Illusion verflüchtigen oder ihn erstarren lassen zur unpersönlichen Last.

II. Das Wort ist Fleisch geworden,
und das Fleisch ist Recht geworden

Für die Kirche als Organisation scheint die Aufgabe, dieses in sich schwingende Gottesbild in ihrem amtlichen Handeln darzustellen, etwas Ähnliches wie die Quadratur des Kreises zu erfordern. Entweder die Pflicht zur Treue wird institutionalisiert oder aber die Freiheit zum neuen Aufbruch. Im einen Fall ist das Verbleiben im gewählten Priesterstand formales Kriterium der vollen Kirchenzugehörigkeit; wer dem Zölibat untreu wird, hat damit den kirchlichen Pferch überhaupt verlassen, gilt als Abtrünniger. - Scheut die Institution anderseits vor solch harter Konsequenz zurück und erlaubt dem einzelnen einen neuen Beginn, dann hat die Treue es schwer, überhaupt tief bewußt zu werden. Jeder vorkonziliare Priester erinnert sich der letzten Tage vor seiner Subdiakonatsweihe, ehe jener Schritt geschah, nach welchem es kein Zurück mehr gab. Wie soll ich meine Freiheit verschenken, wenn ich von vornherein weiß: ich kann sie mir jederzeit wieder nehmen? Wie soll ich mein endgültiges Ja selig und zitternd in den Kasten werfen - wenn ich den Schlüssel zu ihm stets in meiner Tasche spüre?

Entweder - Oder; die formale Struktur einer Rechtswirklichkeit duldet keine inneren Widersprüche. Daneben weiß die Organisations-Soziologie freilich, daß es ohne Illegalität grundsätzlich auch nicht geht, "daß soziale Systeme eine widersprüchliche Normorientierung erfordern und daß, wenn sie sich eine widerspruchsfreie formale Normordnung schaffen, ein gewisses Maß an Illegalität unvermeidlich wird" [N. Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964, Kapitel "Brauchbare Illegalität", 305].

Als Einwohner der verwalteten Welt sollten wir, analog zu "übernatürlich", den Begriff "überbürokratisch" erfinden. Nicht nur die Kirche, die das "überbürokratische Mysterium" mit amtlichen Mitteln darstellen muß, sondern offenbar jede Organisation, die dem überbürokratischen Wesen Mensch gerecht werden will, muß jenseits ihrer formal widerspruchsfreien Struktur eine gehörige Portion Illegalität dulden, ja dazu ermuntern, wenn sie bestehen will (Luhmann bringt Beispiele in Fülle). Wie sieht solches Zusammenspiel von formaler Ordnung und nicht vermeidbarer Unordentlichkeit bei unserem Thema aus?

Das Zauberwort des Kirchenrechts heißt: Dispens. Der Papst kann vom Zölibat im Einzelfall dispensieren, muß es aber nicht. Damit ist formal alles klar und in bester Ordnung. Wem der Papst die Dispens verweigert, der ist kirchenamtlich weiterhin zur Treue verpflichtet; wer die Dispens erhält, darf die neue Etappe sakramental beginnen, im Frieden und mit dem liturgischen Segen der Kirche.

Das Prinzip "Treu" und das Prinzip "Neu" institutionell auszubalancieren - diese Aufgabe kann die Dispens freilich nur leisten, solange ihr "Ob" unberechenbar bleibt. Wenn sie - denken wir an die Mischehenpraxis - zur reinen "Formalität" verdünnt ist, zwar erforderlich, aber nie versagt, dann ist der kunstvolle Spannungsbogen dahin. So weit war es unter Paul VI. am Ende fast gekommen - wenn nicht tatsächlich, so doch in der öffentlichen Meinung. Nach wie vor blieb der Zölibat zwar mit dem Priestertum gekoppelt, sein existentieller Treue-Aspekt aber war amtlich am Verwelken. Jeder Neupriester wußte: wenn im doch einmal heiraten will, bedeutet das nicht Bruch mit der Kirche, sondern schlimmstenfalls Berufswechsel. Damit war aber das Geschenk der Freiheit an Gott im Grunde zu einem bloß privaten Vorgang ohne kirchenöffentliche Sichtbarkeit geworden. Das mag mancher als Fortschritt begrüßen; ich halte es deshalb für unkatholisch, weil die Kirche wesentlich Zeichen des Heiles ist. Zum Heil gehört es, seine Freiheit ganz an Gott verschenken zu können, und ein Zeichen muß sichtbar sein - darum muß es in der Kirche die Chance geben, seine Freiheit institutionell bindend an Gott zu verschenken. Bis vor einem Jahr begann diese Chance tatsächlich der Kirche verlorenzugehen.

Umgekehrt hatte die Spannung Treu/Neu allerdings auch vor dem letzten Konzil gefehlt. "In dieser Angelegenheit pflegt der Heilige Stuhl nicht zu dispensieren", so haben wir es damals gelernt und gewußt - ein abgefallener Priester war eine seltene Ungeheuerlichkeit. Aus dem geistlichen Prinzip Treue war die bürokratische Maxime "Daumen drauf" geworden, das Gegenprinzip des neuen Anfangs schien total vergessen.

Soll es nach dem Willen des jetzigen Papstes so wieder werden? Das wäre schade, würde den Verlust einer ganzen Heilsdimension bedeuten. Ganz gleich aber, was der Papst persönlich denkt, wird es nicht wieder so werden. Denn eins ist klar: niemand weiß, wie der nächste Papst entscheiden wird. Deshalb ist die Dispensfrage grundsätzlich offen, nur das aber ist nötig, damit die geistliche Balance von Treu und Neu auch institutionell gewahrt sei.

Wie diese Waage sich in der Biographie des einzelnen einstellt, hängt letztlich nicht von den Wechselfällen der Kirchenpolitik ab. Jeder Historiker weiß, daß Schurken Mitren aufhatten, während Heilige in Verliesen der Inquisition saßen. Auch beim Zölibat kommen innere und äußere Heilsgeschichte nicht immer zur Deckung. Zwei Extreme sind denkbar.

- Der eine erliegt dem Taumel einer süßen Stunde, weiß die Umstände so einzurichten, daß er dispensiert wird; nicht viel später scheitert seine Ehe. Gern stünde er wieder am Altar, findet aber keinen Bischof, der es mit ihm wagt. Hier hätte von Gott her der Treue-Pol den Ausschlag gegeben - wie soll eine Behörde aber feststellen, was Gott von einem bestimmten Menschen will? Dessen Fehler war es, daß er die amtliche Dispens zu leichtfertig für die göttliche nahm.

- Der andere hat seine Entscheidung sorgfältig getroffen; er kennt die Regeln zur Unterscheidung der Geister und ist gewiß, daß die friedlich helle Stimme in ihm ihn jetzt zu dieser Ehe beruft. Eine kirchliche Dispens bekommt er aber nicht. Soll er dem ermunternden Gott mehr gehorchen als den Menschen? Oder wird die Entscheidungswaage durch das päpstliche Nein zur Dispens so wesentlich verändert, wiegt der Friede mit der Kirche so schwer, daß er deshalb trotzdem nicht heiraten darf? - Auch diese Wahl gehört wieder vor Gott getragen. (In diesem Punkt, scheint mir, bedürfen des Ignatius' Exerzitien einer kirchenkritischen Erweiterung. Daß er selber eine Wahl gegen amtskirchliche Bestimmungen von vorneherein ausschloß, war das Ergebnis seiner persönlichen Entscheidung. Gegen die ist nichts zu sagen; zudem war ein Gegenpol gegen Luther damals gewiß sinnvoll. Sie ist für uns aber auch nicht bindend - wenigstens soweit wir keine Jesuiten sind.) Angenommen, das Gewissen unseres anderen Priesters weise ihn klar auf den neuen Weg der Ehe: dann wird er auch ohne Dispens auf ihm geistliches Glück finden - und der Kirchenleitung hoffentlich nicht gram sein. Denn nochmals: wie soll eine Behörde feststellen, was Gott von ihm will?

"Eng ist die Welt und das Gehirn ist weit - leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen" (Schiller). Das göttliche Doppellicht Treu/Neu muß in der engen Welt zum nicht recht faßbaren Zwielicht werden. Weil der eine Papst dispensiert, darf kein Katholik alle Abgesprungenen durch die Bank verurteilen. Weil der andere Papst nicht dispensiert, braucht keiner einen solchen Absprung zu billigen. Niemand weiß im Einzelfall, wo das scheinbar Neue in Wahrheit nur ein Fall des uralten Wankelmutes ist oder aber wann die scheinbare Treue tatsächlich bloß auf feige Resignation hinausläuft. "Richtet nicht ..." Eben um der Erhaltung dieses notwendigen Zwielichtes willen kann ich die Haltung des jetzigen Papstes in der Zölibatsfrage aufs Ganze gesehen, begrüßen - so bitter sie sich für viele auswirkt.

Ihretwegen braucht es einen letzten Hinweis. Mit Recht betonte der Papst in den USA, das Verlangen mancher Frauen nach der Priesterweihe beruhe nicht auf einem Menschenrecht. Natürlich nicht; wie könnte der Inhalt einer innerkirchlichen Sonderberufung ein allgemeines Menschenrecht sein! Wohl aber gehört - der Papst hat es selbst vor der UNO ausgesprochen - die Gründung einer Familie zu den Menschenrechten. Selbstverständlich auch für Priester. Darum fällt der Kirche hier eine Doppelaufgabe zu: sie muß vor Staat und Gesellschaft eindeutig als Menschenrecht verteidigen, was sie nach innen mit guten Gründen mißbilligt. Solche Gespaltenheit ist aber in der modernen Gesellschaft an der Tagesordnung, auch die Kirche sollte sich ihr nicht länger entziehen.

Freilich muß im derzeitigen Polen ein Expriester, wenn er sich bei einer Behörde bewirbt, wohl kaum seine Laisierungs-Urkunde vorlegen; ob der Papst sich vorstellen kann, daß es in Westdeutschland derlei Fälle gibt? Christlich verantwortbar und vor den Menschen glaubwürdig erscheint Johannes Pauls II. innerkirchliche Haltung in der Zölibatsfrage mir nur, wenn er zugleich deutlich macht, daß den nicht dispensierten Expriestern deshalb kein weltlicher Schaden erwachsen soll, auch nicht in katholischen Gesellschaften. Regelungen wie jene unmenschliche Bestimmung des (früheren?) Konkordates mit Italien, infolge deren ein solcher in Rom nicht einmal Trambahnfahrer werden durfte, müssen von der Kirche an Basis und Spitze ausdrücklich bekämpft werden, soll das Wort "Menschenrechte" ihr nicht im eigenen Mund verfaulen.

Veröffentlicht in "Geist und Leben" 53/1980, 55-60

Auf diesen Aufsatz sprach mich Karl Rahner während des Atheismus-Kongresses beim Frühstück im Speisesaal des Germanikums schmunzelnd an: wie "sie" darauf wohl reagieren würden ...? Von seiner Liebschaft mit Luise Rinser wußte man damals noch nichts.

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