Jürgen Kuhlmann

Tür auf - Tür zu

Plädoyer für ein ökumenisches Grundprinzip

Viele sind sich einig: der ökumenische Schwung hat arg nachgelassen. Resignation breitet sich aus. Unlösbarer und schwieriger als je scheint der Streit zwischen Wahrheit und Liebe. Denn soviel ist klar: zwei gute Prinzipien kämpfen gegeneinander. Wer zwischen Voranstürmenden und Widerstrebenden einfach die Front von Licht und Finsternis zu sehen meint, der hat von der eigentlichen Aufgabe noch nichts verstanden. Vielmehr verläuft die Front zwischen zwei göttlichen Attributen! In Gott selbst sind sie freilich kein Gegensatz, wohl aber sind das ihre Abbilder im Weltgeschehen. Gottes Liebe drängt uns, mit allen Menschen eins zu sein. Und Gottes Wahrheit fordert von uns, daß wir gegen alle menschliche Rücksicht treu an dem festhalten, was uns offenbart worden ist.

Solange dieser Kampf dem einzelnen Christen innerlich bleibt, ist er kein Problem. Ohne weiteres kann ich auch dem verblendetsten Irrgläubigen von Herzen wohlgesonnen sein, ihn als Bruder oder Schwester achten und lieben. Warum? Nun ich weiß ja, daß ich dadurch keine Glaubenswahrheit preisgebe; für mich selbst gibt es kein Mißverständnis.

Sobald ich aber meine Liebe einerseits, meinen Glauben andererseits auch äußerlich bezeugen muß, wird es mehr als schwierig. Denn in unserer Welt läßt ein fremdes Innenleben sich nicht unmittelbar erkennen, sondern nur aus Äußerungen erschließen. Jede solche Äußerung ist aber notwendig zweideutig und mißverständlich. Sooft ein anderer Mensch "in der Wahrheit von mir getrennt ist", weil er einer meiner Überzeugungen widerspricht, gerate ich unausweichlich in die Zwickmühle zwischen Wahrheit und Liebe: entweder ich zeige mich nach außen mit ihm verbunden: das spricht (für alle Beobachter, die meine innere Einstellung nicht kennen, sondern erschließen müssen) zwar für meine Liebe, aber gegen meine Überzeugtheit von meiner Wahrheit; anscheinend nehme ich die nicht sehr ernst, wenn ich mich mit dem eins zeige, der gegen sie ist. Oder aber ich zeige mich deutlich getrennt von dem anderen: das spricht zwar für mein Verwurzeltsein in meiner Wahrheit, läßt aber an meiner Liebe zweifeln. Ein Mittelweg ist auch keine Lösung, erweist mich vielmehr als kühlen Taktiker, der weder von der Wahrheit noch von der Liebe tief durchdrungen ist. Was tun?

Mit Recht ließe sich dieser Fassung des Problems vorwerfen, es werde hier zu sehr vereinfacht. Natürlich sollen die Christen nicht nur in Liebe eins sein, sie sind es auch in vielen tiefen Wahrheiten; weil das Zeugnis für sie durch die Spaltung verdunkelt wird, gerade darum gibt es auch einen Ökumenismus im Interesse der Wahrheit. Umgekehrt verlangt in einer Zeit drohender Nivellierung und Sinnentleerung eben die wohlverstandene Liebe, daß man den Menschen nicht aus den bergenden Räumen vertrauter Überzeugungen vertreibt, um ihm den grauen Einheitsgroßraum zur ungemütlichen Unterkunft anzuweisen. All das ist richtig. Genau gesprochen, steht also nicht Wahrheit gegen Liebe, sondern vereinende Wahrheit gegen trennende Wahrheit, und verbindende Liebe gegen distanzierte. Doch ist die simplere Redeweise darum nicht falsch; insofern meine Wahrheit unteilbar ist, trennt sie mich von den anderen; die Liebe hingegen macht mich mit ihnen eins. Kann ich beiden gerecht werden?

In der Hirtenrede bei Johannes gibt es ein seltsames Gleichnis: Jesus sagt da von sich: "Ich bin die Tür; wer durch mich eintritt, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden" (10,9). Hier ist freilich im Wortsinn nur von einem einzigen Pferch die Rede und durchaus nicht von der ökumenischen Problematik. Doch hatte immerhin schon Augustinus Schwierigkeiten mit dem "Herausgehen" der Schafe: aus der Kirche zu gehen könne doch nicht gut sein! Das sei aber auch nicht gemeint, vielmehr das Herausgehen überhaupt, das gläubige Sterben (in Joh 45,15). Das nun gewiß nicht, will mir scheinen - doch lassen wir derlei Spekulationen. Es ist ein uraltes christliches Recht, die biblischen Aussagen selbständig und in eigener Verantwortung weiterzudenken. Nicht Exegese soll die folgende Überlegung sein, sondern ein aktueller Lösungsvorschlag zum bitteren Problem der Kirchenspaltung.

"Ich bin die Tür", sagt Christus und meint damit: die Tür zu dem Bereich, wo Gottes Heil für den Menschen da ist. Nun gibt es aber - um von der Frage der außerchristlichen Heilswege hier einmal abzusehen - in der empirischen Christenheit mehrere solcher Bereiche: nämlich kleinere und größere Gemeinschaften, die sich jeweils als Angebotsort des göttlichen Heiles verstehen. Das Spektrum reicht von der katholischen Weltkirche und den im Ökumenischen Rat zusammengeschlossenen Kirchen bis hin zur winzigen Basisgemeinde, wo Christen verbindlich miteinander leben. Zwischen all diesen Gruppen, Gemeinden, Kirchen gibt es jeweils eine Tür, und diese Tür ist Christus. "Er ist unser Friede" (Eph 2,14).

Entscheidend ist nun die Einsicht: für eine Tür ist es wesentlich, daß sie sich öffnen oder schließen, daß sie offen oder zu sein kann. Immer offen, wäre sie keine Tür, sondern ein Durchlaß; immer geschlossen, wäre sie keine Tür, sondern ein Stück Wand. Es heißt aber weder: "Ich bin der Durchlaß", noch "Ich bin die Wand", sondern es heißt: "Ich bin die Tür."

Wann ist die Tür geschlossen? Wenn die jeweilige Gemeinde ihr bestimmtes Sonderleben vollzieht: zum Beispiel Gottesdienst am Reformationstag oder Festmesse am 15. August oder feierliches Beisammensein der Integrierten Gemeinde. Wenn an solchen Vollzügen andersgläubige Gäste teilnehmen, so ändert ihre Anwesenheit doch nichts daran, daß ein bestimmter Glaube sich äußert. Um diesen Ausdruck überhaupt zu ermöglichen, muß der Raum umgrenzt, die Tür geschlossen sein: auch die geschlossene Tür bedeutet aber Christus selbst. Denn der Herr will, daß gerade diese bestimmte Wahrheit gelebt werde. Davon ist die betreffende Gemeinde in ihrem Glauben überzeugt.

Es gibt aber auch Vollzüge, bei denen die Tür zwischen verschiedenen Gemeinden offen steht. Das reicht vom freundlichen Gruß auf der Straße bis hin zur Interkommunionfeier eines ökumenischen Arbeitskreises. Auch die offene Tür bedeutet Christus: nach seinem Willen und in seinem Geist sollen wir Christen erleben und bezeugen, daß wir in ihm schon eins sind. Daraus folgt: das ökumenische Problem läßt sich weder durch Einreißen noch durch Zumauern aller Türen lösen. Wer nur stets offene Durchgänge erträgt, ist ein Schwärmer und wird sich bald im Glauben erkälten. Wer sich allein zwischen festen Wänden wohlfühlt, ist ein Konfessionalist und wird bald an Atem(hebräisch = ruach, griechisch = pneuma)-Not leiden. Zu beiden sagt der Christ: Nein!

Vielleicht Gottes wunderbarste Idee ist die Zeit; Abwechslung erfreut nicht nur, sondern ist tatsächlich die einzige Möglichkeit, um in einem endlichen Bewußtsein allmählich eine Ahnung der göttlichen Fülle wachsen zu lassen. Nur eine ausdrückliche, friedfertige Abwechslung von Tür auf und Tür zu löst das ökumenische Problem. Wann soll die Tür aber offen sein und wann geschlossen? Wie stellen wir es an, die "Zeiten oder Termine zu erfahren, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat" (Apg 1,7)? Wann wollen wir uns, getrennt, innerhalb der vielen Wohnungen im Hause des Vaters (Joh 14,2) treffen und wann unter Gottes Himmel alle zusammen wie Salomon beten: "Siehe, der Himmel und die höchsten Himmel können dich nicht fassen - wieviel weniger dieses Haus" (3 Kön 8,27)? Ist vielleicht gar - solange die Wohnungen derart gegeneinander versperrt sind - auch das provozierende und störende Hausen auf einer Matratze im Treppenflur eine erlaubte, manchem sogar gebotene christliche Existenzform?

Fragen über Fragen - die keine theoretische Abhandlung lösen kann. Doch wäre bereits viel erreicht, wenn das vorgeschlagene Tür-Gleichnis nicht als hübsche Illustration abgetan, sondern als eine begriffliche Unterscheidung anerkannt würde, die in allem Ernst und mit strengen Folgerungen das ökumenische Problem so ähnlich anpackt, wie die Unterscheidung zwischen Natur und Person in Nikaia und Chalkedon die trinitarischen und christologischen Streitigkeiten sagbar und damit befriedbar gemacht hat.

Die anfangs beschriebene Mißverständlichkeit aller Glaubens- und Liebesäußerungen bleibt bestehen. Jede Kirche hat jedoch im Ritus ihres eigenen liturgischen Jahres ein gelebtes Modell dafür, wie "geordnete Abwechslung" die Zweideutigkeit überwindet. Das Leid des Karfreitags wäre aus sich allein auch als Verzweiflung interpretierbar, der österliche Jubel auch als fröhliche Naivität: erst zusammen und gegeneinander weisen beide Riten den willig Glaubenden wirksam in das göttliche Pascha-Geheimnis ein. Ähnlich würde und sollte eine geregelte Abfolge von Tür zu und Tür auf die Christen dazu bringen, im bleibenden Nebeneinander der Konfessionen langsam einen Ausdruck jener "vielbunten Weisheit Gottes" (Eph 3,10) glauben zu lernen, die durch die ganze Kirche kundwerden soll. Keine Gruppe hat das Recht, die ihr übertragene Farbe gegen andere oder gegen einen öden Mischmasch einzutauschen. Jede hat aber nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, sich zuweilen mit den anderen Farben zusammen als eines zu erleben - nicht als schmutziges Braun des Indifferentismus, wohl aber als das Licht der Welt (Mt 5,14 ).

Tür auf - Tür zu: kann es denn aber sein, daß alles so einfach ist? Ja. Denn Gott selbst ist ganz und gar einfach; je göttlicher etwas ist, um so einfacher ist es auch, Die Lösung des ökumenischen Problems ist göttlich einfach. Wehe dem, der es für weltlich einfach hält. Erst recht wehe aber denen, die es für teuflisch kompliziert erklären! Gegen sie sei die ungeduldige Jugend von Herzen bestärkt: "Euch jungen Leuten schreibe ich: ihr habt den Bösen besiegt!" (1 Joh 2,13).

[1972; veröffentlicht in UNA SANCTA 1982, 82-84]


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