Jürgen Kuhlmann

DIE UNTATEN
ODER DIE BÄUME?

Bausteine zu einer Fundamental-Moral

"Was sind das für Zeiten, wo
ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist,
weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt."
(Bertolt Brecht)

Es sind offenbar verrückte Zeiten - und da wundern die Leute sich, wenn ein. Großteil der Jugend ebenfalls zusehends verrückter wird.

I

Beispiel 1:

Vor dem Großstadtkaplan liegt der Brief eines jungen Lehrers aus der Umgebung. Darin heißt es: "Ich möchte Sie heute bitten, mal tief zu schnaufen, die Berichte über Biafra zu lesen und dann Antwort zu geben. Nicht mir, Ihrem Gewissen! Es geht uns verdammt viel an, wenn solches Elend über Biafras Kinder gekommen ist - und wir seelenruhig unser Amt weiterveramten. Es gibt nichts Notwendigeres in der Welt, was getan werden müßte, als hier zu helfen. Bitte, sprechen Sie mit ... er weiß Bescheid." Und helfen Sie ihm. Ich habe hier mit noch zwei Freunden in dem kleinen Nest DM 30.000 eingetascht und es wird von Tag zu Tag mehr. Und Nürnberg? Entschuldigen Sie meine aufdringliche Art - aber ich kann nicht leise klopfen, wenn so viele wegen unserer Trägheit sterben."

Nichts vernünftiger als dieser Brief, weder Tatsachen noch Prinzipien lassen sich bestreiten. Nichts verrückter mithin, als daß ich mit der Möglichkeit spiele, nichts für Biafra zu unternehmen.

Beispiel 2:

Wilson, Großlieferant von Mord und Totschlag, besucht unser Land, Biafranische und deutsche Studenten möchten ihn mit Farbbeuteln und faulen Tomaten bewerfen. Das wird ihnen in der Presse widerraten und von der Polizei unmöglich gemacht. Es sei ungastlich, gegen alle Höflichkeit. Wer das nicht einsehe, dem fehle der primitivste Anstand. Mag sein. Fehlt aber nicht den Vielen auch etwas, vielleicht die Phantasie, oder einfach eine ausgereifte menschliche Solidarität? Was wiegt schwerer: Tausende von hautbespannten Kindergerippen oder ein paar Kleckse auf der weißen Weste?

Beispiel 3:

Diesseits und jenseits der Zonengrenze stehen zwei milliarden-teure, raffiniert präzise Kriegsmaschinen einander gegenüber. Unzählbar die Mühen von Menschenhirn und Menschenhand, bis das alles funktioniert. Trotz gewisser Mängel hier wie dort müssen doch sogar Fachleute zugeben: BRD und DDR können stolz sein auf ihre Friedensarmeen. Wie aber, wenn man beide zusammen sieht, das Ganze sozusagen aus der geistigen Vogelschau betrachtet ? Dann ist es offensichtlich verrückt. Ich habe die Lage in einer Predigt der Frühmesse vor Jahren einmal mit dem Hof einer Speditionsfirma verglichen, wo zwei kraftvolle Lastwagen nichts weiter tun als stundenlang Kühler an Kühler gegeneinander loszuwüten, bis Motoren, Getriebe und die Nerven der Fahrer völlig zerrüttet sind und der verantwortliche Chef fürsorglich ins Irrenhaus geleitet wird. Ich durfte die Predigt - das Städtchen hat eine Garnison - im Amt nicht wiederholen; der Pfarrer machte schnell eine eigene. Ich sah diese Verfügung damals sogar ein: wären die jungen Soldaten nicht mit Recht arg gekränkt gewesen?

II

Es scheint, daß die Bibel doch nicht übertreibt: "Die ganze Welt liegt im Bösen" (1 Joh 5,19), strampelt darin herum wie Münchhausen im Sumpf, kann sich jedoch, anders als dieser, nicht am eigenen Schopf herausziehen. Wer ist nun aber verrückter: der eine, welcher wegen der Untaten die Bäume verschweigt und um der sterbenden Kinder willen den Anstand verletzt - oder der andere, der es fertigbringt, trotz des Mordens ringsumher noch an so etwas wie Bäume und Schicklichkeit zu denken? Mir scheint, eben hier verlaufe die Denk- und Entscheidungsfront von heute. Die Verantwortung für das bedrohte Ganze, für die Vernunft im Großen, (= totale Rationalität), für die zertretenen Rechte der Fremdesten, sie widerstreitet der Verantwortung für meinen gewachsenen überschaubaren Bereich, für das Einzelne, Überkommene, mir ganz besonders Aufgegebene, die rational nie aufrechenbaren Ansprüche meiner nächsten Umwelt. Beide Pflichten sind grundsätzlich unversöhnbar. Dieser entsetzlich bitteren Erkenntnis wird sich auf die Dauer weder der Bibel- noch der Zeitungsleser entziehen können. "Es gibt nichts Notwendigeres in der Welt", schreit der von Biafra Ergriffene und hat recht. Dennoch meinen viele, sie sollten lieber dies und das tun, statt daranzugehen, in ihrer Stadt eine ergiebige Schau für Biafra abzuziehen. Warum? Umgekehrt hat aber unbestreitbar auch der mehr verlästerte ale gelesene Herbert Marcuse recht, wenn er die - von leidenschaftlicher Solidarität gepackte - neue Linke grundsätzlich verteidigt: "Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen" ("Repressive Toleranz", in: Wolff, Moore, Marcuse: Kritik der reinen Toleranz, Edition Suhrkamp 181, Seite 127 ff).

Beide Seiten denken nicht mehr innerhalb eines Horizontes; die Bewahrer des bei ihnen schon einigermaßen Gewordenen klagen ihre Gegner einer fürchterlichen "Politisierung" aller Bereiche an, weil sie Universität, wissenschaftliche Kongresse, künstlerische Ereignisse, eben einfach alles, beständig stören, um immer nur alles mit ihrer öden Protestflut zu überschwemmen; die Vorkämpfer einer noch ausstehenden helleren Zukunft für alle hingegen mißtrauen auch noch dem Besten der bekämpften repressiven Gesellschaft, weil es das schreiende Unrecht des Ganzen mit rosa Pflästerchen zuzudecken geeignet ist.

Diese unüberbrückbare Front ist keineswegs neu; in einer mehr statisch-theistisch denkenden Zeit steht auf der einen Seite der besonnene Inhaber der Weisheit: "Der Herr gibt Weisheit, aus seinem Munde stammen Erkenntnis und Einsicht; er spart für die Redlichen Erfolg, ist ein Schild denen, die lauter wandeln, indem er hütet die Pfade des Rechts und den Weg seiner Frommen bewacht" (Spr 2,6-8). Das Gegenteil meint der tiefe Skeptiker Kohelet: "Nichtig Nichtigkeit, alles ist nichtig ... Beides sah ich in meinen nichtigen Lebenstagen: Da ist ein Gerechter, der in seiner Gerechtigkeit zugrunde geht, und da ist ein Gottloser, der lange lebt in seiner Bosheit" (1,1; 7,15). Man braucht nur, statt oder im Auftrag Gottes, im Menschen selbst den für die menschlichen Zustände Verantwortlichen zu sehen, und schon sagt der Weise "Reform" und der Prediger "Revolution". Da unmittelbar praktisch, ist dieser Konflikt freilich unvergleichlich schärfer als der frühere.

III

Der Christ kann die einen wie die anderen verstehen. Denn er weiß, daß Gott zugleich ganz für die Bäume und ganz gegen die Untaten ist. Darum muß der Christ ausdrücklich anerkennen, was alle erleben, und spricht von der unausweichlichen Macht der Sünde. Der Schöpfer kann nicht anders als beides zu befehlen: das gegebene Einzelne um mich her zu hüten, wie auch das erst mögliche vernünftige Ganze zu befördern. Ohne Dies da (Höflichkeit bei Staatsbesuchen) wäre Alles (eine geordnete Welt ohne verhungernde Kinder) nicht das gesollte Alles; ohne vernünftigen Gesamtrahmen ist jedes Dies nur ein unerheblicher Zufall.

Die gebrachten und tausend andere Beispiele zeigen, daß es hier durchaus nicht um jenes (Leibniz zugeschriebene) vormoralische "bloß metaphysische Übel" geht. Vielmehr stehen wir mitten im Teufelskreis der Ethik. Beides wäre nicht bloß irgendwie ganz nett, sondern beides soll ich. Beides kann ich aber nicht. Es ist darum sowohl recht gemeint, wie auch etwas lustig, wenn Prediger jammern, es werde heutzutage zu wenig von der Sünde gesprochen. Man sagt vielleicht nicht mehr so, man legt auch nicht mehr jeden "unkeuschen Gedanken" auf die Goldwaage: wann aber hat die Menschheit bewußter unter ihrer moralischen Unzulänglichkeit gelitten als im Zeitalter von Biafra und Contergan? Sei es mit der Ursünde wie es will: wer die Erbsünde leugnet, ist kein Realist.

"Wo die Fülle der Sünde war, da kam es zur Überfülle der Gnade" (Röm 5,20). Seit Ostern können die Christen nicht mehr vergessen, daß in einem Menschen die unmögliche Einheit von einzelnem und allgemeinem, das Reich Gottes, bereits unverlierbare Wirklichkeit geworden ist. Damit ist dies und alles im Innersten verwandelt, und das ist die christliche Botschaft. Weil Gott dreieinig und sein Leben das unsere ist, darum vermögen wir sie nur als Summe dreier wesensgleicher und doch aufeinander bezogener Aspekte zu verstehen und weiterzusagen:

a) "Wer mich sieht, sieht den Vater": der Glaubende kennt Gott zuinnerst nicht mehr bloß als den Schöpfer, der Unmögliches fordern muß, sondern als Vater, der seinen Kindern bestimmte, freilich mit dem Maße ihrer Mündigkeit wachsende!) erfüllbare Aufgaben anweist, ohne feige die volle Verantwortung für die ganze Welt und alles einzelne in ihr auf sie abzuschieben. Daß sich die erdrückende Last eines antlitzlosen Gesetzes in den aufmunternden Blick eines liebenden Gegenübers wandle: dieser entscheidende Schritt auf dem psychologischen Weg vom Kleinkind zum Erwachsenen ist zugleich das erlösende Neue, was die biblische Religion der Menschheit als ganzer gebracht hat - mögen auch noch so viele "Christen" nie dorthin gelangen.

b) "Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist." Dieser Vaterwille (wie auch jedes irdischen Vaters Erziehungsziel) ist allerdings, wo nicht über unsere Kraft, so doch über unsere Willigkeit hinaus: es gibt nicht bloß die Erbsünde, sondern auch echte, völlig sinnlose persönliche Sünden. Die sind aber, wofern nicht ein klar erkannter wichtiger Auftrag des Vaters zu gerade diesem Ausdruck der Liebe mißachtet wird, für das eigentliche Leben so wenig tödlich, wie ein gelinder Ungehorsam für ein gesundes Familienleben. Als Christen leben wir in und aus der frohen Gewißheit der Vergebung. Das tiefe Wir von Gott und seinem Kind (eben das ist, schon abgesehen von der Schöpfung, und darum auch in ihr, der Heilige Geist!) ist unendlich stärker als jegliches Versagen des Geschöpfes vor den ungeheuren und trotzdem ethisch verbindlichen Ansprüchen der Wirklichkeit. Für diese ihre Grundeinsicht haben Paulus wie Luther mit Recht so unnachgiebig gekämpft: wenn der einzige christliche Erfolg darin bestehen kann, Gottes erlösende Liebe glaubhaft zu machen, dann darf weder innerer noch äußerer sog. Mißerfolg uns die Gewißheit unserer Erlöstheit rauben: denn wo die Freude des Heiligen Geistes fehlt, ist nicht erst der Erfolg, sondern schon der Inhalt unserer Berufsmühe nicht da; der mürrische Apostel tippt seine Epistel ohne Farbband.

c) "Wie in Adam alle sterben, so werden auch in Christus alle belebt werden." Wem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden, der darf seine Mitmenschen nicht zugrunde gehen lassen: so einfach löst sich für den Christen das eschatologische Problem. Wem es sich anders löst, mag ein wertvoller Mensch, auch ein notwendiger Dialogpartner sein - ein Christ ist er nicht. In Christus ist jeder Mensch zu Gottes Du vergöttlicht worden; nur so kann er zum Vater - und mit ihm eins - sein; dadurch ist er aber notwendig, wie von der Überlast des Schöpfungsgesetzes, so auch von der Enge der Schöpfungszeit erlöst.

Kurz: Allein im Osterlicht ist die sonst unerträgliche Kluft zwischen dem Anspruch der Bäume und dem Anspruch der Untaten zu ertragen. Weil Christus die Auferstehung und das Leben sowohl der Kinder Biafras sein will, wie auch der in ihrem Dienst hingeopferten anderen Lebensmöglichkeiten und Aufgaben ihrer tapferen Helfer: nur deshalb ist die Vergebung unserer Sünden gegen die einen oder die anderen mehr als illusorischer Selbstbetrug, nur deshalb dürfen wir vom tödlichen Gesetz zum Vater des Lebens fliehen.

IV

Nehmen wir Christen unsere Weltpflichten weniger ernst als "die anderen, die keine Hoffnung haben" (1 Thess 4,13)? Natürlich gibt es, wie jeder weiß, hier und dort solche und solche. Wollen wir über diese Plattheit hinausgelangen, dann achten wir am besten auf den Doppelsinn von "ernst". Vielleicht läßt sich sagen: der Christ nimmt seine Aufgaben ebenso ernst wie der andere, insofern beide das, was sie tatsächlich tun können, grundsätzlich mit demselben Einsatz tun. Vielleicht reicht der des Christen sogar etwas weiter, weil ein Blick auch dort noch Macht über den Menschen hat, wo Pflicht und Vorsatz allein nichts mehr ausrichten.

Andererseits nimmt der mündige Christ "seine Aufgaben" auch minder ernst als die anderen, und noch alle Ideologen haben ihm das, die Jahrhunderte hindurch, übelgenommen. Denn "wenn euch der Sohn befreit hat, seid ihr wahrhaft frei" (Joh 8,36). Sowohl dem Drang des nahen Konkreten nach ungestörtem Bestand wie dem Zug der "an sich" zu befördernden vernünftigeren Zukunft darf der Christ in einer letzten Gelassenheit begegnen. Jetzt hält er es mit dem einen, dann mit den anderen. Kaum hat man ihn endlich links eingeordnet, taucht er ganz rechts auf; heute ist er den Managern zu faul, morgen den Gammlern zu fleißig; übers Jahr den Reformern zu umstürzlerisch, heuer den Revolutionären zu lahm. Nie wird die Quelle seiner Motive ihm selbst und den anderen eindeutig faßbar: denn stets teilt er seine Ansichten und Handlungen mit vielen anderen, die ebenso ernst dabei sind wie er - meist aber nicht ebenso frei. Wen nicht, wenigstens anonym, der Sohn befreit hat, der ist irgendeiner Ideologie verhaftet: entweder der des einfachen Konkreten ("nichts geht über eine Tasse Kaffee am Morgen") oder der des allgemeinen Wohles, so oder so verstanden. Insofern er diese Bestimmtheit verinnerlicht hat, seine Brille sozusagen dem Auge eingewachsen ist, kommt er sich sehr frei vor und wundert sich nur mitleidig über alle, die die Welt nicht durch seine Brille sehen.

Dem von Christus Ergriffenen hingegen wird immer wieder der Mut zu der Frage des geblendeten Paulus geschenkt: "Herr, was willst Du, daß ich tun soll?" Wer diese "Methode" als individualistisch tadelt, hat sie wahrscheinlich nie ausprobiert; denn oft genug ist Gottes Antwort, heute wie damals, diese: "Geh da und da hin, dort wird man dir sagen, was du tun sollst." Auch die Spaltung zwischen individuellem und kollektivem Entscheidungskriterium ist für den Christen grundsätzlich überwunden. Wem diese Lösung nichts weiter schiene als eine mythologisch gefärbte Überich-Illusion, dem ist wohl nicht mehr anders zu antworten als mit der ruhigen Gewißheit des Glaubenden: "Vielleicht ist es aber doch wahr!" Der Auferstandene zeigt sich als Herr auch über das Überich der Seinen. Wer sich ihm ausliefert, vertauscht alle unbewußte Sklaverei mit bewußter, freier Bindung an den Gott, welcher ebenso das All wie das geringste Einzelne liebt und erfüllt, und darum als Einziger ganz vernünftig entscheiden kann, in welche Bahnen welche Energien fließen sollen.

"Was sind das für Zeiten, wo
ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist,
weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt."

Die schlimmste aller Untaten geschah an einem Baum. Seit dem Kreuz ist heimlich stets bei beiden zugleich, wer guten Gewissens, in Gedanken, Worten und Werken, eines der beiden Themen behandelt. "Den Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch."

Burg Feuerstein, am Fest der hl. Kaiserin Kunigunde (3. März) 1969

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