WCRP
Pfingsten 1972
Prisma-Prinzip
St. Sebald 1977
P. Klein 1982
1988 in Nürnberg
Dialog-Treffen
 April 1989
Drei-einiger
 Frieden
Vortrag in Mainz
Etappen
Brief an Dekan
 Joh. Friedrich
Buch 2001
Friedenslampe
Gespräche
 Anima/Christian
Ehrfurcht-Buch
Friedliche Spannung

Wie der Dreieinigkeitsglaube
den Pluralismus entgiftet

Vortrag im November 1990 vor Religionslehrern in Mainz

Vor einem Jahr traf sich hier im Haus die deutsche Gruppe der Weltkonferenz der Religionen für den Frieden. Beim Abschiedsessen saß ich mit einem Buddhisten und einem Bahai zusammen am Tisch, zwei ebenso aufgeschlossenen wie überzeugten jungen Deutschen. Sie können sich vorstellen, wie seltsam ein katholisches Gemüt sich da fühlt: Einerseits ist mein Glaube der absolut wahre, anderseits protestiert mein christlicher Sinn dagegen, daß ich vor der Ewigen Wahrheit besser dastehen soll als diese liebenswürdigen Mitmenschen - wollte Jesus nicht gerade Schluß machen mit allen Rangstreitigkeiten? Dies ist jetzt unser Thema: Wie müssen wir uns als Christen selbst verstehen, damit wir mit diesem Widerspruch geistlich zurecht kommen. Es geht also um die Frage der christlichen Identität.

A) Extreme Einstellung: Truhen-Identität

Lange war die Christenheit der Meinung, sie habe das Monopol auf Wahrheit und Heil. Was macht Würde und Reichtum des Christen aus? Daß er - meinen viele - die Wahrheit besitzt. Uns ist die volle, absolute Wahrheit von Gott gegeben. Stellen wir uns solches Be-Sitzen plastisch vor: hier stehe eine offene Truhe, Gott kommt und legt die Schätze, Sätze seiner Wahrheit hinein, schließt die Truhe und lädt dich ein: setz dich drauf. Tu tust es und fühlst dich als Be-sitzer der Wahrheit. Wer mir widerspricht, besitzt sie deshalb nicht. Ich habe sie, mein Gegner hat sie nicht. So einfach ist das. Nicht durch mein Verdienst, aber es ist halt so. Ob ich solchen Bedauernswerten dann mitleidig oder verachtungsvoll gegenübertrete; ob mein Bekehrungseifer den anderen zur Taufe oder auf den Scheiterhaufen bringt - oder aber mich zum Gespött der Welt macht, all das ist zweitrangig. Ich habe die Wahrheit, die anderen nicht. Das ist die Denkart von Sekten und Fundamentalisten, außer der Kirche und in ihr.

Über tausend Jahre hindurch war es auch die offizielle katholische Lehre; ich bringe Ihnen nur ein einziges Zitat: "Die hochheilige römische Kirche, von der Stimme unseres Herrn und Heilands gegründet ... glaubt fest, bekennt und verkündet, daß niemand, der nicht innerhalb der katholischen Kirche existiert, nicht bloß Heiden, sondern auch Juden oder Häretiker oder Schismatiker nicht, des ewigen Lebens teilhaft werden kann, sondern sie werden ins ewige Feuer gehen, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist, wenn sie nicht vor dem Lebensende ihr eingegliedert worden sind ..." [D 714; das Dekret des Konzils von Florenz für die Jakobiten (1442) bekräftigt mit seiner Autorität diese extremen Sätze des hl. (?) Bischofs Fulgentius (+532)].

Sage keiner, daß er diesen geistigen Besitzerstolz gar nicht kennt. Wir Menschen haben uns aus bescheidenen Anfängen heraus entwickelt; wenn wir uns um die Wahrheit so ähnlich raufen wie unsere äffischen Vorfahren um Bananen und Nüsse, dann ist das nicht erstaunlich, sondern normal. Wir sollen aber auf dieser Stufe nicht stehen bleiben, zu unserer Vergangenheit gehört auch Jesus der Gottmensch, und von ihm können wir lernen, daß die ideologische Truhen-Mentalität ein Mißverständnis und des erlösten Menschen nicht würdig ist.

B) Gemilderte Einstellung: Die Lichtungs-Identität

Die Enzyklika "Ecclesiam Suam" Pauls VI. (1964) handelt in ihrem 3.Teil vom Dialog der Kirche mit der Welt. Deren verschiedene Positionen werden dabei verglichen mit "Kreisen um eine Mitte herum, in welche die göttliche Hand Uns versetzt hat". Von außen nach innen umfassen diese Kreise alle Menschen (an ferne Planeten denkt der Papst noch nicht), die Gottgläubigen, die getrennten christlichen Brüder und die katholischen Christen.

Dieses Schema übernimmt das Konzil [ Alle Zitate stammen aus der Kirchenkonstitution Lumen Gentium vom November 1964. Meine Hervorhebungen sind bereits Kommentar].

"Zu dieser katholischen Einheit des Gottesvolkes, die den allumfassenden Frieden vorbezeichnet und fördert, sind alle Menschen berufen. Auf verschiedene Weise gehören ihr zu oder sind ihr zugeordnet die katholischen Gläubigen, die anderen an Christus Glaubenden und schließlich alle Menschen überhaupt, die durch die Gnade Gottes zum Heil berufen sind" (13, Schluß).

In der Mitte sind die Katholiken: "Jene werden der Gemeinschaft der Kirche voll eingegliedert, die, im Besitze des Geistes Christi, ihre ganze Ordnung und alle in ihr eingerichteten Heilsmittel annehmen und in ihrem sichtbaren Verband mit Christus, der sie durch den Papst und die Bischöfe leitet, verbunden sind... Alle Kinder der Kirche sollen aber bedenken, daß ihre ausgezeichnete Stellung nicht den eigenen Verdiensten, sondern der besonderen Gnade Christi zuzuschreiben ist; wenn sie ihr im Denken, Reden und Handeln nicht entsprechen, wird ihnen statt Heil strengeres Gericht zuteil" (14).

Den nächsten Kreis bilden die nichtkatholischen Christen: "Mit jenen, die durch die Taufe des Christennamens teilhaft sind, den vollen Glauben aber nicht bekennen oder die Einheit der Gemeinschaft unter dem Nachfolger Petri nicht wahren, weiß sich die Kirche aus mehrfachem Grunde verbunden" (15).

"Diejenigen endlich, die das Evangelium noch nicht empfangen haben, sind auf das Gottesvolk auf verschiedene Weisen hingeordnet." Dies sind "in erster Linie" die Juden, sodann solche, "die den Schöpfer anerkennen", da wieder " besonders die Muslim, die sich zum Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einen Gott anbeten". "Aber auch den anderen, die in Schatten und Bildern den unbekannten Gott suchen, auch solchen ist Gott nicht ferne." Und es gilt sogar: "Die göttliche Vorsehung verweigert auch denen das zum Heil Notwendige nicht, die ohne Schuld noch nicht zur ausdrücklichen Anerkennung Gottes gekommen sind, jedoch, nicht ohne die göttliche Gnade, ein rechtes Leben zu führen sich bemühen" (16).

Verglichen mit dem Monopol-Anspruch der mittelalterlichen Kirche ist diese neue katholische Erklärung ein ungeheurer Sprung vorwärts zu ihrem Ursprung. Hinter ihn kann sie nie mehr zurück. Er hat sie aber noch nicht weit genug getragen. Das Volk Gottes erscheint hier wie ein Kraft- oder Schwerefeld, das in seiner Mitte am stärksten ist und nach außen zu immer schwächer und leerer wird. Ich spreche deshalb von der "Lichtungs-Identität": Wir leben im hellen Schein der ganzen Wahrheit, die anderen seien froh, wenn davon etwas in ihr Dunkel dringt. Für Katholiken mag dies eine angenehme Vorstellung sein - kann sie aber auch den Dialogpartnern behagen?

Ein uns überaus wohlgesinnter meint: "Es ist dann evident, daß die äußeren Kreise sich immer mehr der Mitte nähern sollen, die von der römischen Kirche oder dem Papst gebildet wird. Die Aufgaben sind in diesem Fall ungleich verteilt: Der Mittelpunkt bleibt in der Ruhe, die Dynamik aber kommt den Außenstehenden zu. Und die römische Kirche schließt sich letztlich selbst von dem eschatologischen Aufbruch aus, zu dem sie die anderen gerade aufruft...Es erscheint nicht als eine gute Ausgangsbasis für ein Gespräch mit Andersgläubigen jeder Art, wenn diese sich in die Rolle des Unwissenden versetzt fühlen müssen, der dem Wissenden gegenübersteht. Denn ganz abgesehen von einem natürlichen Aufbegehren gegen diese Klassifizierung muß der beabsichtigte Dialog solchermaßen zur durchaus einseitigen Belehrung werden" [Alle Zitate stammen aus der Kirchenkonstitution Lumen Gentium vom November 1964. Meine Hervorhebungen sind bereits Kommentar].

Wie anders wird dem Wesen der Kirche jene Haltung gerecht, die der 78jährige Erzbischof des früheren Saigon im Sommer 1988 im Gespräch mit Ludwig Kaufmann so ausgedrückt hat: "Wir wollen, daß die anderen sich öffnen, aber wir selber bleiben zurück; wir wollen nicht verstehen, daß die anderen von uns das gleiche verlangen, wie wir von ihnen ... Wir sollten nicht gegeneinander, sondern zusammenleben. Die christliche Liebe sucht die Annäherung, nicht die Trennung [ Paul Nguyen Van Binh, Orientierung 52/1988,216]."

Nein, wir dürfen unsere Dialogpartner nicht zu geistigen Randfiguren erniedrigen, die weniger voll, schwächer zum Volk Gottes gehörten, d.h. doch im tiefsten weniger voll Menschen seien als wir selber. Schlechthin lächerlich klingt es, wenn wir Menschen wie Gandhi oder den Dalai Lama für prinzipiell weniger erleuchtet erklären als uns selbst. Ein solches Prinzip ist falsch, irgendwo steckt ein grundlegender Fehler. Anscheinend sind wir  - das ist nicht unsere Schuld - zwar im wahren Glauben aufgezogen worden, aber in einer falschen Philosophie, die dem wahren Glauben scheinbar untrennbar beigemischt wurde, so ähnlich, als wäre der Abendmahlswein verzuckert worden. Das würde das Sakrament nicht ungültig machen; trotzdem hat das, was unserem Fleisch da so süß schmeckt, keine göttliche Würde. Ähnlich ist es mit der Wahrheit des Glaubens, die unsere christliche Identität bestimmt. Daß sie das tut, glauben wir mit unfehlbarer Gewißheit. Wie sie das tue: das ist eine philosophische Frage, die oft falsch erklärt worden ist. Dem Fleisch unseres Verstandes schmeckt solche Unreinheit süß, sie gehört jedoch - in Gottes Namen - bekämpft. Wir brauchen ein Denkzeug, daß die Besonderheit unserer Berufung nicht graduell deutet (so daß wir mehr in der Wahrheit wären als andere), sondern modal (so daß wir auf unsere und die anderen auf je ihre besondere Weise der Wahrheit dienen).

Zusammenfassung: Der Gegensatz zwischen uns und den anderen ist nicht der zwischen Ja und Nein, Wahr und Falsch:  Es ist auch nicht der zwischen mehr und minder wahr, zwischen hell in der Mitte und dunkler gegen die Ränder zu: sondern wie? Oder haben wir das Konzil mißverstanden? Geht es bei den Kreisen um die Mitte gar nicht um den Gegensatz hell / finster? Um welchen aber sonst?

C) Relationale Identität

Tatsächlich muß der Gegensatz zwischen uns und den anderen als Polarität verstanden werden. Was ist das aber für eine Beziehung? Welche Spannung trennt und verbindet welche  Pole ?

I. Die Mitte dient der Runde

Ein zentrales Wort Jesu gibt uns die Antwort (Übersetzung von Fridolin Stier): "Und es geschah: Ein Streit entstand unter ihnen, wer als ihr Größter zu gelten habe. Er aber sprach zu ihnen: Die Könige der Völker sind deren Herren, und ihre Großmachthaber werden Wohltäter genannt. Aber ihr - nicht so! Vielmehr: Der Größte bei euch werde wie der Jüngste, und der Fürst wie der Dienende. Denn: Wer ist größer - der zu Tisch liegt oder der dienst? Nicht der zu Tisch liegt? Ich aber bin in eurer Runde wie der Dienende" (Lk 22,24-27). Der letzte Satz enthält unser gesuchtes Prinzip. In der gewohnten Übersetzung heißt er: Ich bin in eurer Mitte wie der Dienende. Seien wir Fridolin Stier für seine Sprachkraft dankbar; lang hatte ich vergeblich gegrübelt und hätte das rechte Wort für den Gegenpol zur dienenden Mitte allein nicht gefunden. Üblicherweise unterscheidet man zwischen Mitte und Rand, Apparatschiks sagen Zentrale und Peripherie; "draußen in den Pfarreien," heißt es im Ordinariat, bei den Leuten in der Zentrale meines gegenwärtigen Apparates sagt man: "draußen in den Ämtern". Im Gespräch mit solchen ziehe ich gern meinen Ehering ab, halte ihn hoch und erkläre: In unserer Behörde ist es wie bei einem Ring: Alle Substanz ist draußen.

Gottes Wahrheit ist ja aber gerade kein Apparat; "Außenstehende" sollen uns nicht als Randfiguren gelten. Anders klingt "Runde". Die Runde von Freunden oder Gästen weiß: wir sind die Hauptpersonen, um uns geht es. Wer in der Mitte das Seine tut, will uns erfreuen, belehren, nähren, je nachdem. Die Mitte ist für die Runde da. Nun: An solcher Beziehung zwischen dienender Mitte und von ihr bedienter Runde teilzuhaben, das macht den Christen aus, darin besteht seine relationale Identität.

II. Christus das Ja

Wir sprechen von der Wahrheit. Worin kann ein "Wahrheits-Dienst" aber bestehen? Doch wohl darin, daß ich etwas weiß, was der andere nicht weiß und von mir erfährt. Also weiß ich, solange er mir noch nicht glaubt, doch mehr als er? Und dieses "Propaganda-Modell" des Dialogs wollen wir gerade loswerden. Wie Sie wissen, stammt das Wort Propaganda von der päpstlichen Kongregation "De Pro-paganda Fide": Pagus heißt Dorf oder Landvolk, schon im Wort Propaganda steckt also die Arroganz der Lichtungs-Identität. Läßt sich ein Wahrheitsdienst auch anders auffassen, so daß der angebliche Diener nicht in Wirklichkeit doch der Herr ist? Ja.

Es gibt im Neuen Testament einen Namen Jesu, den die meisten Christen nicht kennen, weil viele Pfarrer über ihn nie predigen. Trotzdem ist gerade er, wie ich glaube, der für die Zukunft entscheidendste; denn er gestattet uns, die uns anvertraute Wahrheit offen zu bekennen, ohne doch irgendeinen anders Überzeugten durch jene Anmaßung zu kränken, die bei der Christenheit leider schon so lange üblich ist.

Wörtlich schreibt Paulus über Jesus Christus: "Er ist nicht Ja und Nein geworden, sondern Ja ist in Ihm geworden; denn soviele Verheißungen Gottes, in Ihm das Ja" (2 Kor 1,19f). Ein erstaunlicher Satz. Warum ist er so unbekannt? Ich vermute den Grund im Latein: die mittelalterliche Wissenschaftssprache kennt weder einen Artikel noch das Wörtlein "ja". Ersetzt wurde es durch "sic" (= so). "Das Ja" als Hauptwort war den Theologen früher ein fast nicht denkbarer Begriff! Anders heute. Ja und nein sind die Grundgrößen des digitalen Zeitalters, genau genommen die einzigen; über ihnen allein baut jede Information sich auf.

Warum ist dieser Christusname so wichtig für den Dialog? Deshalb, weil das Ja sich wesentlich auf die Verheißung bezieht. Es ist kein Mono-Pol, setzt vielmehr die Verheißung als Usprungs-Pol voraus, der vom Ja, seinem Gegenpol, endgültig besiegelt wird. Nicht für den eigenen Glauben braucht die Verheißung das Ja (auch in ihr ist Gott), wohl aber, um sich ihrer selbst ausdrücklich und vor der Öffentlichkeit zu vergewissern.

Schon Blick und Kuß der Freundin sind voller Verheißung, ähnlich beim Vorstellungsgespräch Miene und Stimmklang des Chefs. Sofern der Bewerber solcher Verheißung glaubt, bringt das Ja ihm nichts Neues; und auch das Ja muß er glauben. Doch sind Kuß und Blick, Miene und Stimme noch so unausdrücklich, daß man sich auf sie nicht berufen kann, wenn andere (oder das eigene zweifelnde Herz) nach den Gründen der Ja-Gewißheit fragen. Zwar traue ich der Verheißung, daß ich schon bejaht bin, kann sie aber weder vor mir noch gar vor der Welt als glaubhaft auch rechtfertigen, verifizieren. Sobald ich das Ja-Wort vernommen habe, kann ich das. Weil zum vollen Menschenleben auch das Feld ausdrücklicher Rede gehört, ist das Ja (insofern!) für die Gültigkeit der Verheißung nötig: erklänge es nie, so wäre sie Illusion gewesen. Das Ja bedeutet die ausdrückliche, aufweisbare und öffentlich verkündbare Bestätigung dessen, was die Verheißung nur auf ihre heimlichere, eben noch ungesagte Weise versprochen hatte. Der Inhalt des Ja ist nichts anderes als die Verheißung, aber auf solidere, greifbare Weise.

Wie kommt Paulus dazu, diesen Begriff auf Christus anzuwenden? Sehr einfach: Weil für einen Christen das Rätsel des Ganzen sich in Jesus von Nazaret ähnlich gelöst hat, wie einem Verliebten das Rätsel seiner Angebeteten sich bei deren Ja zu seinem Heiratsantrag löst. Immer wieder erfahren wir: die Welt ist ein furchtbares Rätsel. Es gibt da nicht nur Freude und Sonnenschein, auch zerreißende Schmerzen, kalte Bosheit, zuletzt den Tod. Immer wieder packt einen dieses Rätsel, würgt einen bis fast zum Ersticken und man fragt: Was soll das Ganze?

Die wunderbare christliche Antwort heißt: Der Sinn des Ganzen ist Gott, und Gott ist kein blindes Schicksal, Gott ist kein launischer Sadist. Nein: Gott ist die LIEBE. Das hat Jesus zuinnerst gewußt, durch seinen Foltertod und seine Auferstehung hindurch leibhaft erfahren; von dieser Botschaft war auch Paulus erfüllt. Deshalb ist das wahrste Zeichen für Gott eben nicht der vieldeutige Sternenhimmel, sondern Jesus der Mensch, das klar vernehmbare Ja-Wort der Menschlichkeit Gottes selber. In diesem sehr präzisen Sinn ist Jesus Christus also das Licht der Welt und ist die Menschheit auf den Verkündigungsdienst der Kirche angewiesen. Wir werden gebraucht.

Nicht einseitig aber, nicht wie die reiche Fülle vom leeren Hunger, nicht wie die sichere Mitte vom abbröckelnd gefährdeten Rand. Sondern auch wir Christen brauchen die anderen. Ohne den Ursprungspol einer bestimmten, aus sich schon gültigen Verheißung wäre unser Ja ortlos, hätte keinerlei Sinn. Vielmehr ist die christliche Wahrheit auf die Erfahrungen und Sinnentwürfe der Kulturen, Völker und Menschen angewiesen, denen sie im Lauf ihrer Geschichte begegnet. Ihres eigenen Glaubens gewiß zu sein, dazu bedürfen die Einwohner anderer Sinnwelten nicht des christlichen Ja. Ihren festen Grund trägt jede Verheißung in sich. Die Erfahrungen der Begnadeten drücken sich in Worten aus, die zu Traditionen werden; in ihnen fühlen die Nachfahren sich geborgen, ganz ohne Stütze von außen.

Aber die Menschheit ist auch eine, fragt als ganze nach dem Sinn. Man tauscht sich gegenseitig aus. Angesichts kritisch fragender Dialogpartner ist meine Sinnwelt auf einmal nicht mehr selbstverständlich, trägt mein Herz, nicht mehr aber meinen Kopf, der jetzt Einwände anhören und Gründe vorbringen muß. Auf diesem Forum fühlt der Christ sich zuhause. Rechenschaft zu geben ist seine Sache. Christi Auferstehung ist ein Glaubensgeheimnis - und doch zugleich ein Argument. Nicht beweisbar ist der Glaube, wohl aber vor der Vernunft verantwortbar, und zwar rational.

Wäre Jesus nicht auferstanden, so gäbe es keine Kirche, die Jünger wären als resignierte Fischer gestorben, nicht als Apostel und Martyrer. Der Schwung einer Lügensekte ist bald erloschen; von Berufsschülern, denen ich gegen Ende der 60er Jahre die Melodie des Horst-Wessel-Liedes vorsang, konnte keiner es identifizieren ... Es gibt die Kirche, also ist Jesus auferstanden, also ist Gott menschlich, also bekräftigt das absolute Ja jedes ehrlichen Menschen Wahrheit, also gilt deine Verheißung, mein Partner A, ebenso aber die deine, mein Partner B, setzen wir uns in "herrschaftsfreier Kommunikation" zusammen und reden wir so lange miteinander, bis aus getrennten Inseln ein größeres Friedensland geworden ist. Dieses Klima zu schaffen ist der Christen Aufgabe.

III. Gott selbst ist relational

Ein Mensch kann seine Identität auch so auffassen, daß sie ihn von den anderen nicht trennt, sondern mit ihnen verbindet. Allerdings braucht unsere europäisch-abendländische Zivilisation dazu den Beitrag des recht verstandenen Christentums. Anderswo ist die Wirklichkeit schon seit altersher als Beziehung erlebt worden, denken wir an die Polarität von Yin und Yang im alten China (Sie kennen den Kreis mit den ineinander verschlungenen Fischen, der eine schwarz mit weißem Auge, der andere umgekehrt). Wir aber sind vom griechischen Denken bestimmt, und laut Aristoteles ist das eigentlich Wirkliche die Substanz, das Ding in sich, während er die Beziehung als ein äußeres Akzidens hinstellte. Tatsächlich ändert sich ja an meinem Wesen nichts, wenn jemand links neben mich tritt, so daß ich in Beziehung zu ihm rechts werde. Sie können sich denken, was passieren mußte, als auf diese - derartig aufs Wesen fixierte - Philosophie der christliche Dreieinigeitsglaube traf. Europa wurde in eine Denk-Krise gestürzt, die es bis heute nicht bewältigt hat.

Vor einer scheinbar unlöslichen Aufgabe standen die christlichen Denker: In Jesus war Gott selbst ein Mensch geworden, hatte uns in eigener Person das Beispiel gegeben, wie ein Mensch sein Leben in Gottes Sinn gestaltet. "Mein Herr und mein Gott!" So redet der staunende Thomas seinen auferstandenen Freund an, aus solcher Erfahrung wächst die Kirche. Zugleich hält sie aber am Trompetenstoß der Religion Israels fest: "Höre Israel, der Herr unser Gott, der Herr ist Einer!" Mit diesem Ruf auf den Lippen gingen viele Juden in den Tod, ihm darf die Kirche nicht widersprechen. Mögen Heiden an viele Götter glauben, der Christ bekennt, wie auch Jude und Moslem, streng Gottes Einheit.

Gott ist Einer, Jesus ist Gott, und doch hat Jesus zu Gott gebetet. Gott sagt Du zu Gott, und doch gibt es nur einen Gott. Wie kann das sein? Wie sind, damit das sein kann, die göttlichen Personen zu denken? Jahrhunderte lang ist diese logische Nuß von den Christen bearbeitet worden, bis ihr Kern sich enthüllte - verkostet haben die meisten ihn freilich immer noch nicht. Wie ist eine göttliche Person zu denken? Als reine, "in sich stehende Beziehung" (relatio subsistens), antwortet der heilige Thomas von Aquin. Was heißt das? Verschiedenerlei Zwei kennen wir: Nebeneinander und Zueinander. Zwei Äpfel liegen nebeneinander. Solche Vielheit ist in Gott unmöglich; denn Gott ist die Fülle und der Herr allen Seins. Anders ist es beim Zueinander. Denken wir uns in elektronischer Zukunft ein Liebespaar derart miteinander hirnverkabelt, daß jeder auch die Erlebnisse des andern innerlich kennt: Dann hätten beide schließlich ein und dasselbe Bewußtsein. Trotzdem hätten die Beziehungswörter Ich, Du und Wir auch dort ihren Sinn. Geistiges Nebeneinander gäbe es keines, wohl aber innerhalb des gemeinsamen Bewußtseins das reine Zueinander von Person zu Person. So können wir von fern ahnen, wie die Grundspannung in Jesu Bewußtsein jene unendlich tiefe Beziehung vermenschlicht, die sich im göttlichen Leben ewig vollzieht: ICH (der Logos, der selbstbewußte SINN) / DU (Gott Vater, auf den ich mich beziehe) / WIR (unsere völlige Einheit, der Heilige Geist).

Nun könnte jemand sagen (und viele tun das): Mich geht es doch nichts an, ob irgendwo im Himmel eine einzige Person lebt oder mehrere. Das ist aber falsch. Denn Gott ist nicht anderswo, sondern das Prinzip allen Seins; in ihrem Innersten trägt die Schöpfung des Schöpfers Wasserzeichen. Einen ungeheuren Unterschied macht es, ob das Wirkliche im Grunde eine Art Klotz ist oder aber die vibrierende Spannung zweier Pole.

Wäre sie jener Klotz, dann hätte die Truhen-Identität recht: einen Klotz kann man besitzen, zu ihm kann man als Teilklotz gehören. Weil die Wirklichkeit jedoch, in Teilhabe am dreieinig gespannten Gott, auch selbst im Grunde Polarität ist, deshalb widerstreitet der christliche Glaube der ideologischen Identität. Was uns zu Christen macht, ist vielmehr eine relationale Identität. Das heißt: Wir sind Christen, weil und sofern wir zwischen Seinspolen ausgestreckt, in Beziehungen einbezogen, von Spannungen durchpulst sind.   - "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben," sagt Christus (Joh 14,6). Gaston Fessard, ein ebenso bedeutender wie kirchlich unbekannter Jesuit, hat das so übersetzt: "Ich bin die Methode, Theorie und Praxis zu verbinden." Deshalb wollen wir das Prinzip der relationalen Identität jetzt noch auf zwei Spannungsfelder anwenden, erst auf das praktische, dann das theoretische.

D) Praktisches Spannungsfeld von Mitte und Runde

Ich nutze den Zeitpunkt unseres Treffens, um den folgenden Punkt in Form eines Rückblickes auf das Konzil zu behandeln. Denn vor einem Vierteljahrhundert, am 8.Dezember 1965, endete mit einer festlichen Schlußfeier auf dem Petersplatz das zweite Vatikanische Konzil. In vielen schwingt noch die Erinnerung, wie sich ihnen das Gesicht der Kirche damals neu gezeigt hat. Der große Papst Johannes XXIII. erhoffte vom Konzil ein "Neues Pfingsten" und hat sich nicht getäuscht: Glich die Kirche zuvor den Jüngern, die sich eingesperrt hatten, so trat sie dank dem Konzil freimütig vor die Welt.

Wir erinnern uns der Frontlinie zwischen den beiden Hauptparteien. Auf der einen Seite standen die sog. Konservativen. Sie traten auf als Vorkämpfer der gottgewollten Autorität. Greifen wir aus vielen Fragekreisen drei der wichtigsten heraus, dann verfocht die konservative Partei innerkirchlich den Vorrang des Papstes vor den Bischöfen in aller Welt; ökumenisch den Standpunkt, daß die katholische die einzig wahre Kirche sei; bei der Sinnfrage überhaupt den Anspruch des Christentums als der einzig wahren Religion, gegen alle übrigen Religionen und Weltanschauungen. Gegen den Papst, so meinten die Konservativen, kann man nicht katholisch sein, ohne den katholischen Glauben nicht wahrhaft christlich, ohne Christus nicht in der Lebenswahrheit Gottes.

All dem widersprach die sog. progressive Partei. Innerkirchlich verteidigte sie die eigenständige Würde der Bischöfe gegen die Anmaßungen der römischen Zentrale; ökumenisch sah sie die anderen Konfessionen als christliche Kirchen im Vollsinn an; bei der Sinnfrage überhaupt betonte sie das Recht eines jeden Menschen, seinem Gewissen zu folgen und sich dabei in der absoluten Wahrheit zu wissen.

Wie stellen sich, von der schließlich erreichten Versöhnung aus bewertet, die Denkwege beider Parteien dar? Nun, die Konservativen bekommen recht darin, daß Gott kein ungeordnetes Heil stiftet, sondern (irdisch-geschichtlich betrachtet) einer von ihm betrauten Mitte die Einheit des Ganzen als Aufgabe zuweist. Verzichten muß diese Partei aber auf ihr Mißverständnis, als sei solche Autorität so etwas wie die zentrale Instanz eines weltlichen Apparates, der die "Peripherie" ähnlich ausgeliefert sei wie die Zahnräder eines Getriebes dem Motor. Kurz: Mitte ja, Mitte aber nicht als Mono-Pol auf Herrschaft und Wahrheit, sondern als ein Pol einer nie endenden Spannung, der - in Jesu Nachfolge - nicht sich bedienen lassen, sondern dienen soll, nämlich der Würde und Einheit der anderen Pole im Ganzen. Polarität statt Chaos, Dialoge statt Sinnlärm, Leben statt Beziehungslosigkeit, fassen wir dieses Konzilsergebnis, von "rechts" gesehen, in die Formel dienende Mitte.

Umgekehrt bekommen die Progressiven darin recht, daß am Sinnlicht des Ganzen jeder unmittelbar Anteil hat. Gott will keine geistliche Herrschaft, sondern richtet vom Anfang der Zeiten bis zu ihrem Ende jede Person und jede Gruppe nach ihrer eigenen Gewissensüberzeugung, die von seiner "vielbunten Weisheit" (Eph 3,10) den Herzen mitgeteilt wird. Verzichten muß diese Partei jedoch auf ihr Mißverständnis, als folge aus der geistlichen Gleichberechtigung aller Seelen und Existenzwahrheiten das Fehlen eines geschichtlichen Einheitspoles. Nein: Die in Christus vergottete Menschheit ist kein wildwuchernder Krebs, sie ist ein Leib, dessen Integrität auch über ein Integrationsorgan verfügt, an das alle übrigen Organe, kraft ihrer eigenen Würde, einen Anspruch auf Fürsorge haben. Kurz: Ebenbürtigkeit ja, aber nicht als Chaos neben- und widereinander, vielmehr als Dauerspannung von Teilorgan und Einheitsorgan. Polarität statt Monopol, Dialoge statt Monolog, Leben statt Apparat, fassen wir dieses Konzilsergebnis, jetzt von "links" gesehen, in die Formel Eigenrecht und Würde aller. Dieser Begriff meint in der Sache exakt
dasselbe wie vorhin der "rechte" Ausdruck "dienende Mitte"; mir scheint: wer das einsieht, hat das Konzil im Kern mitvollzogen.

Erwägen wir nun, wie dieser vom Konzil neu geklärte christliche Grundsatz sich auf unsere drei Fragekreise auswirkt. Natürlich ist unser Thema jetzt keine der konkreten Spannungen, von denen in Kirche und Welt die Gläubigen fast zerrissen werden. Es gibt Macht und Machtmißbrauch, Schlauheit und Feigheit. Früher gab es Kirchensklaven, Hexen wurden unter klerikaler Leitung gefoltert, Knaben für den Chor von St.Peter kastriert. Was wird über heutige Praktiken später in den Schulbüchern stehen? Unser Thema jetzt sind jedoch, sozusagen im strukturellen Röntgenbild, die Pole als Pole, egal wie gesund oder krank sie sich im einzelnen verhalten. Z.B. rechtfertigt ein Ja zum Hinduismus nicht die Witwenverbrennung; und wer das Petrusamt im Prinzip bejaht, kann heftig gegen die päpstliche Personalpolitik sein. Mitte wie Runde müssen kritisiert werden: eben weil jede geistliche Identität irgendwo in diesem Spannungsfeld schwingt.

Innerkirchlich ist die dienende Mitte das Papstamt; ihm nicht unterworfen, sondern in Eigenwürde auf es bezogen ist die Gesamtkirche, repräsentiert durch die Gemeinschaft der Bischöfe. Wo es zum Konflikt kommt, gilt nicht die weltliche Regel "Ober sticht Unter", sondern die biblische Mahnung "Seid einander untertan" (Eph 5,21) [It. Meßbüchlein]. Sie ist nicht mehr in Paragraphen umsetzbar, fordert vielmehr einen Dauerdialog, bei dem jede Seite das fremde Gewissen respektiert. Ebenso gebaut ist die Beziehung des Bischofs zu seinen Priestern, des Pfarrers zu seinen "Laien", schließlich im "Kirchlein" (Ecclesiola) der Familie das Verhältnis der Eltern zueinander und zu den Kindern: in jedem ihrer Bereiche hat einer (oder eine) die Verantwortung für das Ganze, bezieht sich dabei aber nicht mechanisch auf einen "Hebel" der anderen, sondern geistlich auf ihre Freiheit. Daraus folgt für das katholische Selbstverständnis: Katholisch ist nicht, wer in jeder Frage mit dem Papst übereinstimmt. Eine relationale Identität macht den Katholiken aus. Denken wir uns zwischen der päpstlichen Mitte und irgendeiner Peripherie (etwa einer brasilianischen Basisgemeinde oder einem Tübinger Institut) ein straff gespanntes Seil, so besteht die kat-holische Identität in der Teilhabe an solcher Spannung, egal wo genau sie in jemandem vibriert. Im Gleichnis physikalisch, in der Weltkirche geistlich ist die Spannung überall eine und dieselbe, so verschieden die politischen oder theologischen Standpunkte auch seien.

Ähnlich ist es mit dem Christlich-Sein. Es besteht ebenfalls nicht in einem scharf umrissenen ideologischen Ort, sondern in der Teilhabe an der relationalen - zwischen katholischer Mitte und anderskonfessioneller Peripherie gespannten - Identität. Denn ökumenisch hat die katholische Kirche die Aufgabe der dienenden Mitte. Die "getrennten Brüder" werden als Christen anerkannt, ihre Konfessionen heißen ausdrücklich Kirchen oder kirchliche Gemeinschaften. Anders als früher ist die schon bestehende Einheit vom Konzil erfahren und bejaht worden. In der Aula saßen sichtbar auch die nichtkatholischen "Beobachter", Bischöfe hatten mit ihnen regen Kontakt und lernten, sie nicht als Ketzer zu verdammen, sondern das Christliche zu achten, das Gott spürbar (denken wir nur an die Gründer von Taizé) in ihnen wirkt. Auch hier kann das Prinzip "Seid einander untertan" nicht verrechtlicht werden. Die alten Streitpunkte (Abendmahlsgemeinschaft, Mischehe, Konfessionswechsel) werden an irgendwelchen Grenzen stets zu Konflikten führen; sollten auch die alten Spannungen einmal amtlich überbrückt sein: was ist mit neuen Gräben? Vor getrennten Brüdern hat man leichter Respekt als vor frisch verlorenen Söhnen ... Solange eine einvernehmliche offizielle Lösung nicht gelingt, läßt sich die Situation doch, wofern Eigenrecht und Würde aller uns leiten, menschlich und christlich fruchtbar bestehen.

Bei der Sinnfrage überhaupt schließlich hat das Konzil gleichfalls einen ungeheuren Sprung vollbracht. Was immer ein Mensch glaubt: wenn er nur "ein rechtes Leben zu führen sich bemüht", wird ihm "das zum Heil Notwendige" von Gott nicht versagt (Kirchendekret Art.16). Damit ist der unselige Slogan der alleinseligmachenden Kirche mit höchster Autorität zurückgenommen. Gewiß ist Jesus Christus die Mitte der Weltgeschichte, die dienende Mitte aber, nämlich das in unserem Fleisch erschienene JA Gottes zu allen seinen Verheißungen (2 Kor 1,20), wie immer diese sich in den Menschenherzen ausformen.

Für jeden Fragekreis gilt: In dem Maße, wie ihr Gewissen eine Person zum Einheitspol beruft, verlangt das rechte Leben auch die Treue zu ihm. Wer Überich und Gewissen zu unterscheiden weiß und sich dann im Gewissen als christlich, katholisch, päpstlich erfährt, der lebe diesen Pol. Ebenso wahr ist freilich die andere Seite, und für sie gilt es derzeit hart zu kämpfen, damit es den Übereifrigen (vgl. Röm 10,2) nicht gelingt, sie in den Herzen der Gläubigen zu verdunkeln: Wen das Gewissen jetzt auf die eigene Würde zu achten heißt und zum Widerstand gegen eine Einheitsinstanz ermuntert, der mache es wie Paulus: "Ich widerstand ihm (dem Petrus) ins Angesicht" (Gal 2,11). Wer z.B. das Verbot der Geburtenkontrolle nicht befolgen kann, darf sich dennoch als katholisch wissen (das haben unsere Bischöfe damals sofort nach der Enzyklika ausdrücklich betont; in der Königsteiner Erklärung heißt es: "Die Enzyklika ist aber auch auf Widerspruch gestoßen. Bei Katholiken beruht dieser nicht auf einer grundsätzlichen Ablehnung der päpstlichen Autorität"). Gläubige Evangelische sind (nach katholischer Lehre!) keine schlechteren Christen; Juden, Moslems, Hindus, Buddhisten, sogar "Atheisten" (die sich für gott-los halten, weil sie ein krankes Gottesbild losgeworden sind): sie alle sind dem Heil nicht ferner als der strengstgläubige Kardinal - was dieser, unter vier Augen gefragt, sofort einräumen wird. Und wir? Welches ist je mein Platz in diesem Spannungsfeld? Das erfahren wir nicht aus Büchern, sondern in Gespräch und Gebet. Dort wird uns auch die Kraft geschenkt, die oft schmerzlich zerrenden Spannungen in Heils-Energie zu wandeln, ins Adrenalin des Hl.Geistes.

Mir scheint, die so verstandene relationale Identität gleicht den Ergebnissen der alten Konzilien darin, daß sie die bloß rationale Denkweise des (Alltags- oder Wissenschafts-)Verstandes aufsprengt und die christliche Vernunft ins lebendige Geheimnis hineinreißt. Auch die drei "Personen" in einer göttlichen Natur, auch die zwei Naturen der einen Person Christus überfordern unseren Denkapparat. Die Kirche muß sich diese Dogmen immer wieder neu aneignen. Auch das in sich gespannte Sein des Katholiken, des Christen, des erlösten Menschen darf nicht zur Formel erstarren, muß durch Krisen und Konflikte hindurch stets aufs neue bewältigt werden. Dies ist, dank dem Konzil steht es fest, der katholische Glaube (von griechisch holos = ganz). Im Pariser Holographie-Museum gibt es das Bild einer Frau zu bewundern, deren Gesicht zugleich von ihren Händen verhüllt wird und den Betrachter groß anblickt, je nachdem, welche Bildtiefe er fixiert. Wenn eine irdische Künstlerin solches Ineins der Gegensätze schafft: wieviel mehr dürfen wir unserem Gott zutrauen, daß er seiner Schöpfung eine Mitte schenkt, die zugleich eben kein abwertendes Zentrum ist, sondern die Würde eines jeden anderen mit vollem Einsatz bejaht!

E) Theoretisches Spannungsfeld:  Die drei Sinn-Dimensionen

Wie läßt das rechte Verhältnis der Religionen und Ideologien zueinander sich verstehen? Nun, jeder von Ihnen kennt aus unmittelbarer Erfahrung eine Wirklichkeit, die aus lauter Gegensätzen besteht und doch harmonisch eins ist. Die Lebenswahrheit meines rechten Fußes (harter kühler Boden) ist verschieden von der meines linken Ohrs (Verkehrsgeräusche, Vogelgezwitscher) und dem Himmelsblau, als das meine Augen ihre Wahrheit erblicken, während die Kopfhaut linde Sonnenwärme verspürt. Zu Wort gebracht, verschärfen manche dieser Gegensätze sich zu Widersprüchen: scheinbar kann nicht kühl und warm zugleich die Wahrheit sein. Das Leben ist jedoch größer als die Logik eines beschränkten Sinn-Organs, das sich selbst für das Ganze hält. Davon ist jedes Kind überzeugt; viele Erwachsene wurden aber in der Schule zu abergläubischer Überschätzung eindeutiger Sätze verführt. Aus ihr sollen wir uns und unsere Schüler losreißen!  Die Wahrheit ist nicht in den Sätzen; wäre sie es, dann könnte keiner, der meinen Sätzen widerspricht, wahr denken; denn er wäre dann ja auch gegen die Wahrheit in meinen Sätzen. Was ist aber dann der Ort der Wahrheit, wenn die Sätze es nicht sind? Das lebendige menschliche Bewußtsein. In ihm findet sich die Wahrheit als Beziehung, nämlich als Spannungseinheit von Wissendem und Gewußtem. Ein wahrer Satz hingegen ist lediglich ein Ausdruck solcher Beziehung, in ihm wird sie faßbar, merkbar, weiterreichbar. Nur auf abgeleitete Weise also heißen Sätze "wahr". Der große Kirchenlehrer Thomas von Aquin erklärt dies mit einem deftigen Vergleich: Ein ausgesprochener Satz heiße wahr, weil er eine Wahrheit des Bewußtseins bedeutet, "nicht wegen einer Wahrheit, die in dem Satz wäre", ihm selber zukäme. Das sei so zu verstehen, "wie ein Urin gesund heißt, nicht wegen der Gesundheit, die in ihm wäre, sondern wegen der Gesundheit des Lebewesens, die er bedeutet" [S.Th. I q16 a7]. Oder, dürfen wir ergänzen, wie ein Fruchtsaft gesund heißt, weil er die Gesundheit des Lebewesens bewirkt. Wahre Sätze sind zuerst Ausdruck einer gelebten Wahrheit und werden dann zum Eindruck, der diese Wahrheit weitervermittelt. Nicht aber sind sie die Wahrheit, an die ich deshalb (weil jeder der Wahrheit gehorchen muß) auch meine Mitmenschen fesseln soll. Daraus folgt Entscheidendes für unser Zusammenleben im Alltag. Es ist anders, je nach welchem Grundmodell jemand es versteht. Der eine hat in der Schule gelernt, daß Wahrheit eine klare Sache ist. Zweimal zwei gibt vier, nicht fünf. Wahrheit gleicht einem Klotz, den man hat und bei Gelegenheit anderen auf den Kopf hauen kann: So zwingt man seine Kinder in die Kirche oder verspottet ihren frommen Eifer, verachtet jeden, der idiotischerweise für oder schäbigerweise gegen sozialistische Ideale ist usw.

Der andere weiß: In Gottes bunter Welt ist Wahrheit zutiefst kein logisches Kästchen, sondern lebendige Spannung. Wohl habe ich das Recht, ja die Pflicht, meine Sicht der Dinge zu bezeugen: eben damit das Wahrheitsmobile in der Balance bleibt - denn ich gehöre zum Ganzen, ohne die mir anvertraute Perspektive würde der Schöpfung etwas fehlen ähnlich wie mir, risse jemand meinen Daumen ab. Doch gilt meine Wahrheit nicht allein und gegen fremde Wahrheiten, sondern mit ihnen zusammen, auch wenn solcher Friede mitunter schwer zu erreichen ist. Warum? Wegen unserer Armut an Wörtern. Weil verschiedene Wahrheiten mit denselben Wörtern ausgedrückt werden, kommt es zum Gegensatz und Anschein des Widerspruchs. So läppisch der folgende Schulwitz sich anhört, enthält er doch das Lösungsprinzip so manchen Streits: Wer von euch kann mir ein Tier sagen, das bei uns nicht vorkommt? - Der Dackel. - Aber der kommt doch bei uns vor! - Nein. Bei uns liegt er unter dem Sofa, und auch wenn man ihn ruft, kommt er nicht vor. Lehrerin und Kind brauchen dasselbe Wort "vorkommen", weil sie aber Verschiedenes damit meinen, streiten zwar ihre Sätze widereinander, hoffentlich jedoch nicht die Menschen, die lachen über das Mißverständnis. So lustig geht es freilich nicht immer zu. Am Beispiel der Himmelfahrt Mariens habe ich in der Zeitschrift "Christ in der Gegenwart" (Nr.33/1990) zu zeigen versucht, daß wir Katholiken Wahres meinen, obwohl auch solche Protestanten, Feministinnen oder Ingenieure recht haben, die (in ihrer Sprache) das Dogma leugnen. Auf unendlich verschiedene Weisen läßt der Apfel der Wirklichkeit sich durchschneiden; je nach der Schnittfläche, auf die ich mich beziehe, ergibt sich eine andere Wahrheit. Und der Gebrauch derselben Wörter führt auf verschiedenen Flächen zu widersprüchlichen Sätzen. Der Friede ist nur dann in Gefahr, wenn ich meinen Satz für wahr und deshalb deinen Gegen-Satz für falsch erkläre - und du es ebenso machst. Sobald wir beide erkennen und anerkennen, daß die Wirklichkeit größer ist als unser Verstand, dann kann es zum Dialog kommen, aus dem wir zumindest tolerant und bestenfalls beide bereichert hervorgehen.

Wir sollten endlich den Tip aufgreifen, den eine der größten Prophetinnen dieses Jahrhunderts uns hinterlassen hat. "Die Kinder Gottes sollen hienieden kein anderes Vaterland haben als das Universum selbst, mit der Gesamtheit aller vernunftbegabten Geschöpfe, die es enthalten hat, enthält und enthalten wird. Dies ist die Heimat, die ein Anrecht auf unsere Liebe hat."

So schreibt im Mai 1942 Simone Weil aus Casablanca an den Dominikanerpater Perrin. Einige Zeilen zuvor macht sie eine für die künftige Christenheit wegweisende Unterscheidung: "Sie haben mir auch sehr weh getan, als Sie eines Tages das Wort 'falsch' gebrauchten, als Sie 'nicht-orthodox' sagen wollten. Sie haben sich alsbald verbessert. Meiner Ansicht nach liegt hier eine terminologische Verwechslung vor, die mit einer vollkommenen intellektuellen Redlichkeit unvereinbar ist. Es ist unmöglich, daß dies Christus gefällt, der die Wahrheit ist" [ Attente de Dieu, Fayard 1966, 78f. Dt. Text von HR Schlette zitiert in: imprimatur (Trier) 21/1988, 178].

Wie wenig diese blitzende Einsicht von der Kirche bisher verstanden und aufgenommen wurde, zeige ein Text des Konzils: "Fürs erste bekennt die Heilige Synode: Gott selbst hat dem Menschengeschlecht Kenntnis gegeben von dem Weg, auf dem die Menschen, ihm dienend, in Christus erlöst und selig werden können. Diese einzig wahre Religion, so glauben wir, ist verwirklicht in der katholischen, apostolischen Kirche, die von Jesus dem Herrn den Auftrag erhalten hat, sie unter allen Menschen zu verbreiten" [Dignitatis Humanae (über die Religionsfreiheit) Nr. 1].

Nein, die Rede von "einzig wahr" ist nicht christliche Glaubenstreue, sondern abendländische Arroganz. [Es folgte der Essay in Publik-Forum, der die Einladung veranlaßt hatte.]

Zum Schluß erzähle ich Ihnen kurz Buddhas berühmtes Elefantengleichnis. Ein König befahl einst einem seiner Leute, er solle alle Blindgeborenen der Stadt zusammenbringen und ihnen einen Elefanten zeigen. Der Mann wies einem den Kopf des Elefanten, dem zweiten die Ohren, dem dritten einen Stoßzahn, anderen den Rüssel, den Rumpf, einen Fuß, das Hinterteil, den Schwanz, das behaarte Schwanzende. Und allen erklärte er, daß dies ein Elefant sei. Dann begab sich der König zu ihnen und sprach: Blinde, habt ihr euch den Elefanten angesehen? Sie antworteten: Ja, Majestät. Nun, ihr Blinden, fragte daraufhin der König, wie ist denn ein Elefant? Wie ein Kessel, Majestät, sagten solche, die den Kopf berührt hatten; wie eine Pflugschar, sagten die Betaster des Stoßzahns. Und so ging es mit allen. Je nachdem, ob sie Rüssel, Rumpf, Fuß, Hinterteil, Schwanz oder Schwanzende kannten, verglichen sie den Elefanten mit einer Pflugstange, einem Kornspeicher, einem Pfeiler oder Mörser, einer Keule oder einem Besen. Und unter dem Geschrei: So ist ein Elefant, ein Elefant ist nicht so, gingen sie mit den Fäusten aufeinander los. Der König aber war darüber höchlichst ergötzt. Und Buddha kommentiert: "Es streiten sich und geraten in Widerrede die Menschen, die nur einen Teil sehen."

Recht verstanden, kann diese Geschichte uns tief trösten und dem Pluralismusproblem seine Bitterkeit nehmen. Buddha lehrt uns, lange vor Solowjow, die entscheidende Einsicht: Die ganze Wahrheit ist ein relational mit sich identischer Organismus mannigfacher Einzelwahrheiten; wo immer ein Mensch ihn packt, da hat er es letztlich mit derselben Gesamt-Wahrheit zu tun. Die uralte Legende ist also schon weit hinaus über den bei uns so verbreiteten Aberglauben, als könnte man den Sinn des Ganzen in glatte Formeln packen, die eindeutig stimmen und deren Gegenteil falsch ist. Sollten wir uns nicht der faszinierenden Hoffnung hingeben, daß die kommende geistliche Epoche der einen Erde jede ihrer spirituellen Traditionen damit zufrieden sehen wird, ein Organ des Gesamtsinnes zu sein, und das möglichst lebendig und zum Heile aller? Ich glaube: wenn wir uns in diesen göttlichen Schwung einschwingen, dann trägt er uns mit sich, durch manch schäbigen Alltag und bitteren Mißerfolg hindurch bis ins österliche Herz der Welt, gelobt sei sein heiliger Name.

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