Jürgen Kuhlmann

Ewiges Leben
Tag um Tag neu

Wir haben uns klargemacht, daß die Wirklichkeit eine Spannungseinheit aus Mysterium und Kosmos ist: das unendlich einfache Innerste und die bunte Vielfalt der Welt sind untrennbar ineinander. Das Denken muß sie zwar zunächst unterscheiden; bliebe es dabei stehen, brächte es jedoch nur tote und tötende Ideologie hervor, erfände Sachlügen über nicht bestehende Realitätsstrukturen, statt dem unbegreiflichen Blick der Wirklichkeit stammelnd zu entsprechen.

Weiter haben wir gesehen, wie in den drei Dimensionen der Kosmos je verschieden erscheint: als Schöpfung des persönlichen Gottes (Du), als Insgesamt selbständiger Wesen (Ich), als strömender Lebensrausch durch all seine ungetrennten Momente hindurch (Eins). Diese Überlegung gilt es jetzt fortzuführen und zu ergänzen. Wir haben nämlich bisher so getan, als wäre alles q jetzt. Der Kosmos wird aber nicht nur vom Raum bestimmt, sondern von Raum und Zeit. Deshalb müssen wir die Betrachtung der Zeit nunmehr nachholen.

Ähnlich wie die trinitarischen Dimensionen unseren Vorstellungsraum gliedern, so auch den Ablauf der Zeit. Räumlich vorgestellt, ist das Eigentliche entweder "oben" (DU, Gott) oder hier (ich, dieser Einzelne) oder wirbelnd überall (Eins). Zeitlich vorgestellt, ist das Eigentliche entweder jetzt (ich) oder damals/dann (Du) oder zeitlos wirbelnd (eins).

Was ist die Zeit? Auf vier Sterbebildchen und einen Spiegel fällt mein Blick, fünf Gesichter schauen mich an, zwei ernst, zwei lächelnd, eines neugierig gespannt. Ja, wie wird es sein? Wird überhaupt etwas sein? "Lachen tat ich ja, wenn alles nicht stimmen tat," ulkte vor Jahrzehnten mein Mitstudent im Priesterseminar. "Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen" (Lk 6,21) - auch darüber, wie lustig so vieles nicht stimmt? Trotzdem muß jede Generation der Christen neu an der Glaubenssprache arbeiten, damit wir unsere Hoffnung verstehen und verständlich weitersagen können. Denn die christliche Botschaft ist q eine und eine ganz bestimmte, zugleich aber so reich, daß sie ganz anders klingen muß, je nachdem, auf welches Vorverständnis sie bei ihrem Empfänger trifft.

Jede der trinitarischen Dimensionen führt zu einem klaren, scharf gegen die anderen abgehobenen Zeitverständnis. Dem nur Frommen ist das irdische Jetzt im Grunde nichts als ein unwesentliches Zwischenspiel, eingebettet in Gottes Ewigkeit vor und nach der Zeit. Längst vor unserem Beginn hat Gott schon Seine Pläne mit uns: "Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleib bereitete, und habe dich erwählt, ehe du von der Mutter geboren wurdest," spricht Gott zum Propheten Jeremias (1,5). Und nach der Zeit erwartet uns zuerst das Gericht, dann das eigentliche, ewige Leben, hoffentlich bei Gott im Himmel, nicht fern von Ihm in der Hölle. Was sich hier im Tal der Tränen abspielt, ist bloß Probe, Bewährung, Vorbereitung. Je nach dem in einer Kultur herrschenden Ideal stellt man sich auch das Jenseits vor: als ewige Jagdgründe die Rothaut, als schwertklirrendes Walhall der Germane, als Gottesschau der christliche Theoretiker - immer jedoch als eine Art unendlicher Verlängerung des irdischen Daseins, zwar qualitativ unvergleichbar höherwertig, grundsätzlich aber doch ähnlich, weil auch das "ewige" Leben in einer ihm eigenen Zeitform vorgestellt wird, als Zeit nach der Zeit.

Für den Unfrommen hingegen ist das irdische Jetzt die einzige Wirklichkeit; alles Reden von nachtodlicher Ewigkeit sei nur ablenkende Illusion. Auch im Mittelalter waren einzelne der Meinung, mit dem Tod sei alles aus, erst in der Neuzeit aber tritt sie als kämpferischer Massenglaube auf. 1849 sagt Ludwig Feuerbach in der letzten seiner Heidelberger Vorlesungen über das Wesen der Religion: "Das Christentum hat sich die Erfüllung der unerfüllbaren Wünsche des Menschen zum Ziel gesetzt, aber eben deswegen die erreichbaren Wünsche des Menschen außer Acht gelassen; es hat den Menschen durch die Verheißung des ewigen Lebens um das zeitliche Leben, durch das Vertrauen auf Gottes Hilfe um das Vertrauen zu seinen eigenen Kräften, durch den Glauben an ein besseres Leben im Himmel um den Glauben an ein besseres Leben auf Erden und das Bestreben, ein solches zu verwirklichen, gebracht." - Sigmund Freud kämpft gegen "die Zukunft einer Illusion". Jenseitserwartung schätzt er als kindische Illusion einer noch unreifen Menschheit ein. Natürlich wird, wer ohne sie auskommen muß, es schwer haben. "Er wird in derselben Lage sein wie das Kind, welches das Vaterhaus verlassen hat, in dem es ihm so warm und behaglich war. Aber nicht wahr, der Infantilismus ist dazu bestimmt, überwunden zu werden? Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben ... Dadurch, daß er seine Erwartungen vom Jenseits abzieht und alle freigewordenen Kräfte auf das irdische Leben konzentriert, wird er wahrscheinlich erreichen können, daß das Leben für alle erträglich wird und die Kultur keinen mehr erdrückt. Dann wird er ohne Bedauern mit einem unserer Unglaubensgenossen sagen dürfen: Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen."

Es kommt etwas nachher - nichts kommt nachher. Ein klarer, eindeutiger Widerspruch scheint das zu sein; nur eine der beiden Seiten kann recht behalten. Doch dieses Entweder/Oder erweist sich als Zwickmühle, sobald wir jede der beiden Positionen vom gegnerischen Standpunkt aus kritisieren. Angenommen, etwas unvergleichbar Herrliches komme nachher, dann werden dem, der darauf hofft, alle Augenblicke dieses Lebens innerlich entwertet. Durch den Sog des Jenseits vertrocknet das Diesseits wie Tautropfen unter der Wüstensonne. Ist hingegen mit dem Tod alles aus, dann kommt es zur umgekehrten Entwertung, die (wie der Atheist um Gottes willen, Ernst Bloch, es ausdrückt) "weit über die individuelle Vernichtung hinaus das gesamte Menschheitswerk einsam, sinnlos, vergeblich macht - mit dem schließlichen Hintergrund kosmischer Entropie oder vorher des Atomtods auf Erden". So oder so scheint das irdische Leben sinnleer - entweder weil es nur Vorspiel eines anderen, eigentlichen Lebens ist, oder aber weil das Raumschiff Erde und jeder von uns nirgends ankommen kann, sondern ziellos - wie lange noch? - durchs All treibt.

Stunden gibt es, drittens, da ist der Mensch dieser Zwickmühle plötzlich entkommen, er weiß nicht, wie. Wen gerade die Wonne einer großen Liebe umfängt oder wer vor dem Korb seines Neugeborenen steht, den birgt die zeitlose Eins-Wahrheit, über ihn hat die vergehende Zeit keine Macht mehr. Denn das Leben ist. Alles ist eins, wir sind dabei, "und die Sonne Homers, siehe sie leuchtet auch uns". Zwischen damals, jetzt und dann gibt es keinen Gegensatz mehr. Freilich wird das Leben bald ohne mich weitergehen, das stört mich aber jetzt nicht. Altern und Abschied muß sein, denn in einer endlichen Welt wäre ja sonst nie Platz für Neues. Stellen wir uns vor, Cäsar wäre immer noch am Ruder: wie viele bedeutende Herrscher hätten nie zum Zug kommen können. So auch im Kleinen. Wer gegen seine Vergänglichkeit protestiert, benimmt sich kindisch; nie hätten wir unsere Chance gehabt, wären nicht alle Früheren dahingesunken.

Und doch! Kindisch? Meinetwegen, dann will ich kindisch sein. Fort ist die Weisheit von eben, weggesengt von der Stichflamme der Hoffnung. Läßt mein Vater mich ins Nichts stürzen? Nimmermehr! Wenn ich mit meiner winzigen Kraft für meine Kinder sorge, dann erwarte ich dasselbe im Großen, mein Gott, von Dir.

Gibt es einen Ausweg aus dem Tretrad der Widersprüche? Ja, aber nicht für den nach Sachauskunft gierenden Verstand. Wie sollen wir Menschen, die ganz und gar in die Zeit eingetaucht und von ihr durchflutet sind, ihr ewiges Geheimnis begreifen? All unsere Worte und Vorstellungen stammen von Wirklichkeiten innerhalb des raumzeitlichen Universums her und taugen deshalb nicht dazu, es als ganzes in den (Be-)Griff zu nehmen und gegen jene (Über-)Wirklichkeit abzusetzen, aus der Raum und Zeit entspringen. Schon der Wortlaut der Frage "kommt etwas nach dem Tod?" ist verräterisch. Nach "etwas" fragen wir und wissen doch genau, daß jegliches Etwas im großen All ähnlich aufgebaut ist wie die Dinge der uns näher bekannten Raumzeitprovinz Terra.

Versuchen wir deshalb, unsere Hoffnung so zu verstehen, daß alle drei trinitarischen Dimensionen ineinander schwingen. Dann ist das Ich im jeweiligen Jetzt der Inhalt der Hoffnung: q nicht irgendein anderes Lied später erhoffe ich, sondern wie ich jetzt klinge, so sei ich ewig. Das Du im endgültigen DANN hingegen ist die Form der Hoffnung: Nur Du, Gott, kannst mein jetziges Lebenslied ewig bewahren, mir fehlt die dazu nötige unendliche Kraft. Und das ewige Eins verknüpft Inhalt und Form zum großen Gesamtklang: Nicht für sich will mein Lied bleiben, sondern als Teilmelodie ins universale Konzert eingehen und in ihm nie verhallend dauern.

Nicht um irgendein postmortales, gar parapsychisches Etwas also geht es; die häufig so gestellte Frage leitet dermaßen irre, daß sie falsch heißen muß. "Nach dem Tod" ist nicht zeithaft gemeint, von keiner Distanz innerhalb der Zeitdimension ist die Rede, sondern von der Distanz der gesamten Zeitlichkeit zum Ewigen Sein, die wir freilich, weil wir zeitliche Wesen sind, nicht anders als zeithaft uns vorstellen können. Denken aber sollen wir sie nicht in der Verlängerung unserer Lebenslinie oder auch jener Jahrmillionen, die der Erde vermutlich noch zugemessen sind, sondern (sozusagen als vertikale Zeit) unmittelbar von jedem Moment aus.

Zu diesem - dem Ungeübten höchst überraschenden - Verständnis hilft der Blick auf eine Digitaluhr. Hier gibt es keinen Zeiger, der am Ende eines langen Weges vielleicht auf ein anderes, sog. ewiges Zifferblatt versetzt wird und dort wiederum zeithaft kreist. Solch ins Weglose drängende Vorstellung kommt erst gar nicht auf. Sondern jede ins Sein springende Sekundenziffer ist sogleich auch wieder verschwunden. Wohin? Ins Nichts, ängstigt sich die Verzweiflung. Der Christ glaubt: In Gottes Ewigkeit, die jede Gegenwart sämtlicher Welten in den unvergänglichen Leib des mystischen Christus aufnimmt. Jede solche Sekundenziffer steht für mich selbst und meine Welt, wie sie gerade in diesem Augenblick ist. Ihre "Verewigung" geschieht nicht irgendwann später, sondern sofort, Nu für Nu: Der von eben vorhin war ich nicht bloß, sondern bin ich, gewesen zwar, das heißt aber nicht vernichtet, vielmehr in Gottes Gesamtleben bleibend aufgehoben, auch mir selbst aufgehoben, und zwar zum einen in der Zeit, zum anderen im ewigen DANN.

In seltenen mystischen Augenblicken tut sich plötzlich der Zugang zu einem bestimmten Moment der Vergangenheit auf, der als verewigter ja immer da ist, uns Werdewesen aber normalerweise entzogen. Solches "Wiederfinden der Zeit", das zu beschreiben Marcel Proust als sein Lebenswerk erkannte, es ereignet sich uns Menschen "auf der Suche nach der verlorenen Zeit" dann und wann in Blitzen der Seligkeit, und zwar nicht "rein geistig" (was sollte das sein?), sondern so leibhaftig, prall sinnlich (die griechischen Kirchenväter sprechen von "göttlicher Sinnlichkeit"!), wie wir Erdgeschöpfe Gott sei Dank geschaffen sind. So riß zuweilen der Geschmack eines Backwerks aus der Kindheit, ein seltsam vertrauter Duft oder Klang einen Spalt in jenen Vorhang, der mich von einem verewigten Gestern trennt, so "daß das Glück, welches ich verspürte, nicht mehr aus einer rein subjektiven Spannung meiner Nerven herrührte, die uns von der Vergangenheit isoliert, sondern im Gegenteil von einer Ausweitung meines Geistes, in dem sich die Vergangenheit neu gestaltete, zur Gegenwart wurde und mir - nur für den Augenblick, ach! - Ewigkeitswert verlieh."

Nicht allein für solch mystische Momente in der Zeit ist unsere Vergangenheit aber aufgehoben, sondern erst recht für DANN, für unser im Tod endlich ganz gewordenes Selbst, das alle früheren Augenblicke er-innernd umfaßt. Nur in diesem Sinn einer dem Bewußtsein inneren Zeit kommt die Ewigkeit "nach" dem Tod, das Wort "nach" meint hier überhaupt nicht die (von Uhr und Kalender gemessene) physikalische Zeit. Doch wird ein geschöpflicher Geist notwendig von einer ihm inneren Zeit insofern auseinandergespannt, als sein Werden, das heißt die Nach-und-nach-Abfolge seiner Konzentrationsvollzüge auf bestimmte Einzelmomente sich von seinem Gewordensein, dem einheitlich lebendigen Gesamtvollzug unterscheiden muß.

Von der physikalischen, objektiven Zeit sehen wir jetzt ab; als leerer gleichmäßiger Zeitfluß ist sie die notwendige materielle Voraussetzung für Werden, Vergehen und Abwechslung, stellt aber selbst kein Sinnproblem dar. Problematisch ist die Zeit vielmehr, insofern unser Werdeleben scheinbar ins Vergehen und zuletzt ins Nichts läuft. Ich kann meine Momente nicht zusammenhalten, jeder Augenblick ist im nächsten schon verloren. Was wird aus mir, wenn ich doch nichts anderes bin als diese Reihe flüchtiger Momente?

Dir, Gott, sei Dank, ich bin nicht nur mein ohnmächtiges Ich, sondern auch Dein Du. Und Du hältst all meine Zeit in treuer Hand, wo ich sie DANN wiederfinde. Das Je-Jetzt der Ich-Zeit ist etwa jeder der 256 Takte eines Klavierstücks oder die Entstehungsgeschichte eines Gemäldes Strich nach Strich. Diese Zeit ist ein vielfaches Werde-Kontinuum, ihr Sein besteht im Werden und Vergehen nach und nach (beim Bild vergeht zwar nicht die Farbe auf der Leinwand, wohl aber der jeweilige partielle Schöpfungsakt). Ganz anders das Dann der Du-Zeit. Sie ist kein vielfaches Kontinuum von Werden und Vergehen, sondern dessen unvergängliches Gewordensein. Jetzt übt der Pianist Takt für Takt, dann kann er das Stück als ganzes. Jetzt setzt die Malerin Strich an Strich, dann tritt sie zurück, beurteilt und genießt ihr ganzes Werk.

Beide Zeitdimensionen beziehen sich aufeinander: als Ich-Pol und Du-Pol des einen Menschen. Beide haben denselben Inhalt: einen bestimmten Teil des objektiven Universums, während die Beziehung beider Zeitpole die Tiefe des Subjekts ausmißt, innerhalb des Bewußtseins sein Werden auf sein Gewordensein bezieht. Subjektives Werden jetzt in mir und subjektives Gewordensein DANN in DIR haben es aber mit demselben objektiven Inhalt zu tun; beide Spannungspole der Lebens-Zeit beziehen sich, als das eine Subjekt, auf dasselbe Stück der physikalischen Sach-Zeit.

Diese Einsicht ist entscheidend, wenn wir die christliche Auferstehungshoffnung mit der Wahrheit der Jenseitsankläger versöhnen wollen. Denn wer von einem Jenseits nichts wissen will, hat schlicht die Ich-Zeit des Werdens im Blick, wer aufs Ewige Leben hofft, dagegen die Du-Zeit des Seins. Deshalb und insofern haben beide Seiten recht.

Sofern jemand ich ist, hier und jetzt, gibt es für mich keinen anderen Punkt im objektiven Raumzeituniversum, jegliche Phantasie von Himmelswiesen und Nektarparties wäre dummer, ablenkender Aberglaube. Ludwig Thomas Bayer im Himmel gehört ins kritische Religionsbuch. Alle Diesseitsmahner unserer Kultur, von Epikur und Lukrez über Heinrich Heine ("den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen") und den dies beifällig zitierenden Sigmund Freud bis hin zu Herrn und Frau NN, die jeder von uns kennt, sie alle kommen mir wie jener wackere Klavierlehrer vor, dessen Schüler - er hatte für einen Wettbewerb ein 256-Takte-Stück zu üben - dies zwar tat, immer wieder ließ er sich aber durch ein seltsames Gerücht ablenken. Man munkelte nämlich in Schülerkreisen, das Stück sei in Wahrheit viel gewaltiger, enthalte noch Tausende weiterer Takte. Sooft die quirligen Läufe dem Schüler lästig wurden, ließ er die Hände sinken und träumte von jenen anderen Takten. Da fuhr der Lehrer ihn an: Laß dich nicht verführen. Dein Stück sind diese 256 Takte, nicht einer mehr. Mit dem Schlußstrich ist es aus, nach ihm kommt nichts mehr. 47 kannst du schon ordentlich, mach dich jetzt an Takt 48.

"Laßt euch nicht verführen" (B.Brecht), im Kontext dieser Mahnung steht die Abwehr postmortaler Existenz. Das heißt: Laßt euch nicht durch Jenseits-Illusionen von dem einzigen ablenken, was es für euch wirklich gibt: dem jeweiligen Hier und Jetzt. Die euch vom Himmel predigen, haben selbst Irdisches im Sinn. Auf "etwas nach dem Tode" weisen sie euch deshalb hin, weil sie gern vor ihrem Tode das eine oder andere Etwas haben möchten, das euch zusteht und das ihr euch erkämpfen könntet, wären eure Augen nicht auf den leeren Himmel und jenes illusorische Etwas gerichtet, das es nie und nirgends geben wird, weil seine einzige Realität im Realitätssinn derer besteht, die es euch vorgaukeln.

Haben die Engel damals nicht dasselbe gesagt? "Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel hinauf" (Apg 1,11)? Nein, nicht aus der Situation weg, nicht fort von meiner Raumzeitstelle hin zu einem irgendwie, irgendwo und irgendwann phantasierten anderen Etwas will die Osterhoffnung uns leiten; wofern sie das täte, wäre sie nichts als Aberglaube. Nicht weg von dem mir anvertrauten Stück Schöpfung, sondern tief in sein geheimnisvolles Herz hinein strebt die christliche Erwartung; nicht verdrängt sie die eben laufende Minute und harrt auf eine spätere, jede spätere wird nämlich, sobald sie einem späteren Wesen dran ist, gleichfalls ein bloßes Jetzt sein und keineswegs das DANN der eschatologischen Hoffnung. - Soviel zur Ich-Wahrheit des Diesseits.

Sofern ich jedoch "in diesem Leben" durch und durch ein werdendes Subjekt bin, brauche ich meine radikale Gespanntheit auf mein endgültiges Sein nicht zu verdrängen. Es wird zwar objektiv keine andere Zeit enthalten als eben die meine zwischen Zeugung und Tod - denn "in meinem Fleisch werde ich Gott schauen" (Ijob 19,26), zu meinem Fleisch aber gehören dessen Raum- und Zeitkoordinaten unwegdenkbar hinzu - doch wird die Weise, wie ich dasselbe objektive Jetzt subjektiv-DANN erlebe, sich vom subjektiv-Jetzt ähnlich strahlend abheben wie der Schmetterling von der Raupe und die festliche Aufführung des Weihnachtsoratoriums von der objektiv identischen Musik während der mühseligen Probenzeit.

Kommt etwas für mich nach dem Tod? Nein, kein anderes Etwas kommt, denn ich bin objektiv nichts anderes als die Summe aller Gestalten dieses meines Lebens. Insofern kommt also nichts nachher. Wahrer aber, weil auch auf die subjektive Fragerichtung eingehend, ist die Botschaft: Alles kommt. Deine Zeit ist unverloren. "Die Lieb' ist freigegeben und keine Trennung mehr" (Novalis); alles getrennt Werdende wird uns DANN ungetrennt und endgültig sein.

Aus: Friedliche Spannung (1992)


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