Jürgen Kuhlmann

Etappen einer Liebesgeschichte

Judentum - Christentum - Islam - Bahaitum:

Wie läßt ihr Verhältnis zueinander sich gläubig verstehen?


A) Vorhandene Denkrahmen

1) Nur ein Glaube (der unsere) ist vor Gott der wahre, die anderen sind entweder abgetan oder spätere Fehlformen. So hat man Jahrhunderte lang überall gemeint. Heute - glauben wir - verbietet Gottes Geist diese exklusivistische Ideologie, auch in der milderen Form von Boccaccios und Lessings Ringparabel; sie krankt daran, daß bloß ein Ring (objektiv und vom Vater aus) der richtige ist; so kann Ökumene nicht gelingen.

2) Wir sind allesamt Kinder eines Vaters: Das sind wir zwar; die Bibel spricht symbolisch von Ismael und Isaak sowie dem (heidnisch lebenden) verlorenen Sohn und seinem älteren Bruder. Doch wird jeweils nur ihr Streit dargestellt, keine Versöhnung angedeutet. Tatsächlich ist die Besonderheit eines jeden Kindes bloß empirisch, an ihr ist nichts zu verstehen. Somit hilft das Denkbild nicht, das Zueinander der Geschwister als sinnvoll zu erfassen.

3) Dasselbe gilt für das Bild der Zweige eines Baumes. Des Paulus Bild vom aufgepfropften Ölzweig (Rm 11) hat sein Ziel, die Heidenchristen zur Demut zu rufen, in der Geschichte verfehlt: der Zweig, der wir Heidenchristen sind, hat die urprünglichen Zweige überwuchert, hätte sie am liebsten ganz verdrängt. Am Gegensatz von Zweigen ist nichts zu verstehen. Sie sind allzu gleich, als daß jeder seinen unverwechselbar besonderen Beitrag zum Ganzen leisten müßte.

4) Besser beschreibt 1973 die französische Bischofskonferenz die Beziehung von Juden und Christen: "Der erste Bund ist durch den Neuen Bund nicht hinfällig geworden. Der erste Bund ist die Wurzel und die Quelle des Neuen Bundes, sein Fundament und seine Verheißung" (zitiert in dem aufregenden Essay von Hans Hermann Henrix: »Der nie gekündigte Bund«). Ohne Wurzel kein Baum, ohne Quelle kein Fluß. Allerdings ist unser Denken vom Evolutionsgedanken derart durchtränkt, daß man sich die Erstreckung von Baum oder Fluß allzuleicht als bloß zeitlich vorstellt: wie eben die Urmenschen Wurzel und Quelle der heutigen Menschheit waren - nicht sind. Für der Christen Verhältnis zu den heutigen Juden (und gar Muslimen und Bahais) geben diese Bilder nichts her.

B) Ein tauglicher Denkrahmen müßte beides verbinden: die absolute Wahrheit des je eigenen Glaubens und seine sinnvolle Beziehung zu den anderen Glaubensweisen. Während langer Mitarbeit bei der Weltkonferenz der Religionen für den Frieden hat sich mir allmählich das folgende Gleichnis erschlossen, ich schlage es meinen jüdischen, christlichen, muslimischen und Bahai-Mitgläubigen als gemeinsamen Denkrahmen vor.

Unsere Glaubensweisen verhalten sich zueinander wie verschiedene Etappen der einen, ewigen Liebesgeschichte Gottes mit seiner Menschheit; weil sie ewig ist, kann bei ihr keine Etappe jemals vorbei sein, vielmehr bilden die Etappen miteinander ein für immer gültiges Sinn-Mobile. Jeder Pol wird von einer lebenden Glaubensgemeinschaft gültig repräsentiert, aktualisiert, für alle Menschen öffentlich veranschaulicht. Absolut wahr ist sowohl jede Etappe wie ihre Bezogenheit auf die anderen; falsch, wider Gottes Willen, sind ihre Feindschaften.

1) Verlobung. 750 Jahre vor Christus lebte der Prophet Hosea. Damals war es zwischen Gott und seiner erwählten Partnerin Israel zur schweren Krise gekommen, weil sie anderen Göttern nachlief, an ihrer Erwählung zweifelte und wie die anderen Völker sein wollte. Bei Hosea lesen wir nun, wie Gott seine Braut an die schöne Zeit ihres früheren Einverständnisses erinnert (damit ist der Bund am Berg Sinai gemeint) und die künftige Erneuerung dieses Bundes verheißt:

"Siehe ich will sie locken, in die Wüste sie führen, zu Herzen ihr reden ... Dann wird sie mich wieder lieben wie zur Zeit ihrer Jugend, als sie aus Ägypten heraufzog. An jenem Tage - Rede des Herrn - wirst du rufen: mein Mann! ... Dann verlobe ich dich mir auf ewig in Wahrheit und Recht, in Huld und Liebe" (2,14-22).

Die lebendige Erinnerung an die Brautzeit der Menschheit mit Gott, das sind, bis heute, die Juden. Dieser erste Bund ist einerseits unüberbietbar, keine spätere Entfaltung oder Erneuerung bringt Größeres als der Blitz der Begegnung gewesen ist, gewesen bleibt. Anderseits ist die Verlobung hingeordnet auf die

2) Hochzeit. Für sie stehen die Christen. Wir lesen bei Paulus: Christus ist das Ja für sämtliche Verheißungen Gottes (2 Kor 1,20). Die Christen sind die Menschheit, sofern sie sich an das öffentliche Jawort ihrer Hochzeit mit Gott erinnert. Bei der Inkarnation werden Gott und Mensch ein Fleisch; weil die Ehe diese Vereinigung bedeutet (Eph 5,32), deshalb heißt sie in katholischer Sprache ein Sakrament. Nicht mehrere Bräute hat Gott, eine einzige Partnerin liebt er von Anfang an bis zum Ende, sie aber in Etappen, die geistig aufeinander folgen, in der Welt aber - sobald sie in ihr erschienen sind - nebeneinander präsent bleiben, damit sie sich zueinander verhalten, so daß die Gläubigen einer bestimmten Etappe von den anderen gerade die göttlichen Akzente lernen können, die bei ihr selbst weniger belichtet sind. Viele Etappen, eine Geschichte.

3) Bewältigung der Ehekrise. Auch im Großen kam es zum bitteren Mißverständnis sovieler Ehen: das Ja ist von der Christenheit als Besitz-Titel mißbraucht worden: Statt Ihm als bleibend Freiem treu zu sein, hat sie Ihn für sich beschlagnahmt, aufs schändlichste monopolisiert. Dagegen berief Gott Mohammed. Verbildlichen wir das Gemeinte: Jetzt habe ich dich, sagte bald nach der Hochzeit die Frau und setzte sich auf die Kiste, darin ihr Mann war. Kein Wunder, daß ER dieses Mißverständnis des Ja korrigiert, eines Tages die Kiste sprengt und sich auf sein Recht beruft, jener souveräne Herr zu bleiben, der er wesenhaft ist. Zwar ist Er dem Bund treu, trotzdem bleibt Er frei, verliert nicht durch sein Ja zur Kirche das Recht, auch fernerhin den Menschen unmittelbar nahe zu sein, ohne kirchliche Vermittlung. Daran soll ein Christ sich mahnen lassen, sooft er Muslimen begegnet.

Die Frau (Menschheit), die sich des einmaligen, endgültigen hochzeitlichen Jawortes ihres Gottes erinnert, ist die Kirche; dieselbe Menschheit, die sich der ebenso endgültigen Freiheit ihres Gottes erinnert, ist die muslimische Umma. Beide Endgültigkeiten kann unser Verstand nicht zusammen begreifen (das wissen Eheleute aus bitterer Erfahrung), beide fordern einander aber in unserem Herzen (das wissen sie, ohne es je begreifen zu können, im Maße ihre Ehe gelingt ebenfalls).

Im Glauben der Bahai erreicht die Menschheit einen Zustand neuer Reife, gleicht der nachdenklichen Ehefrau, die im Album die Fotos früherer Etappen betrachtet und deren Gleichwichtigkeit erkennt. Das tun soll natürlich - mit den Denkmitteln je seiner Tradition - jeder Gläubige aller Religionen, insofern ist auch die Bahai-Wahrheit allgemeinverbindlich und heilsnotwendig; die Bahais bedeuten aber zeichenhaft gerade diese Etappe, entsprechen dem Foto der Frau vor den anderen Fotos, das die übrigen Erinnerungen nicht ersetzt noch vereinnahmt, aber ergänzt.

Sobald wir die offenbarte Wahrheit der Liebesgeschichte Gottes und seiner Menschheit gläubig annehmen, wird der Friede zwischen den Religionen möglich, so hart sich unser Verstand, der alles klar begreifen möchte, dabei auch tut. Eine Ehe ist kein Idyll, vielmehr ein ebenso konflikt- wie segensreiches Abenteuer. Wer es existentiell durchlebt und diese - gleichfalls unbegreifliche - Erfahrung (wegen des Wortes Gottes an Hosea) als Symbol des Ganzen nimmt, dem geht auf: Ein ökumenisches Prinzip durchspannt die ganze Heilsgeschichte vom ersten Menschenpaar bis hin zu Gottes Taten beim Ende der Welt. Es lautet: Jede Etappe der Liebesgeschichte Gottes und seiner Braut Menschheit hat ihren besonderen Schmelz, gehört unverlierbar zur ganzen Wahrheit, wird von früheren (zwar potentiell aber) nicht aktuell vorweggenommen und von späteren (zwar prinzipiell aber) nicht tatsächlich bewahrt.

»Ein schönes Bild«? Dem stimme ich zu, wofern wir uns gemeinsam unter das Wort stellen, daß »wir nur durch einen Spiegel blicken, im Rätselbild« (1 Kor 13,12). So gesehen, sind sämtliche Theologien nur Versuche, sich geoffenbarten Bildern denkend zu nähern. Sobald aber innerhalb der Denkwelt abrahamischer Offenbarung verhandelt wird, schlage ich keineswegs bloß ein hübsches Bild vor, sondern argumentiere begrifflich und verstehe meinen Vorschlag als verbindlich (weil eben diese Erweiterung der bisher allzu ideologisch-engen Kategorien heute dran, nämlich von Gott uns aufgetragen ist) und als wahr. »Religio« heißt im Kirchenlatein auch: Orden; eben als das müssen (nicht allein die christlichen Konfessionen, sondern sogar) die widersprüchlichen Religionen sich und einander verstehen, als gegensätzliche, je von Gott gestiftete besondere Glaubens-, Denk- und Lebensformen, die einander nicht verketzern dürfen. Ein Franziskaner kann nicht zugleich Jesuit sein, ein Jude nicht Moslem und ein Christ kein Bahai, denn »hart im Raume stoßen sich die Sachen.« Schiller mahnt aber auch: »Leicht beieinander wohnen die Gedanken.«

Dies ist keine schöngeistige Abhandlung, sondern eine theologische Hypothese und ein religionspolitischer Aufruf. Jede der Offenbarungsreligionen versteht das Insgesamt ihrer Aussagen nicht als blumige Poesie, vielmehr als Wahrheit über die Wirklichkeit. Dem ernsthaften Gespräch der Religionen über ihre gemeinsame Geschichte kann höchstens ein ungläubiger Banause die Rationalität absprechen. Allerdings dauert bei dieser Fragestellung die Verifikation einer Hypothese möglicherweise ähnlich lange wie ihr Thema; denn durchgesetzt hat ein neues Paradigma sich ja erst, wenn es von den bedeutenden Fachvertretern übernommen worden ist. Bis aber einflußreiche Rabbiner, Bischöfe und Mullahs sich als Repräsentanten gegensätzlicher Augenblicke derselben Gott-Menschheit-Liebesgeschichte begreifen und gegenseitig offiziell respektieren - das dürfte sich »noch eine kleine Weile« hinziehen. Doch bei Gott ist kein Ding unmöglich.

Dezember 1999

Ausführlicher dargestellt wird der Vorschlag in meinem Buch »Ehrfurcht vor fremder Wahrheit« (Nürnberg 1996), S. 34-58; in Form einer Hochzeitsansprache von 1991 findet er sich im Internet.

Volle Internet-Adresse dieser Seite: http://www.stereo-denken.de/etappen.htm

Zurück zur Leitseite von Jürgen Kuhlmann

Siehe auch des Verfassers Predigtkorb auf dem katholischen Server www.kath.de

Kommentare bitte an Jürgen Kuhlmann