Jürgen Kuhlmann

Unser göttlicher Rhythmus

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Angstlos in den Winter

Bunt sind noch die Wälder, bald aber werden sie kahl sein. Hier und dort leuchten an den Ästen die letzten vergessenen Äpfel, schon droht der Frost. Kürzer und dunkler werden die Tage, der Herbst kann sich nicht halten, unaufhaltsam drängt der Winter ihn zurück in die Vergangenheit, wohin Frühling und Sommer schon entschwunden sind. Wir Heutigen erleben den Einbruch der Finsternis nicht mehr so hart wie früher die Menschen; wieviel Elend verbirgt sich z.B. hinter der Statistik, daß es in Norwegen nach der Einführung des elektrischen Lichtes weniger Selbstmorde gab! Wenn während der Polarnacht monatelang die Sonne überhaupt nicht aufgeht - welch ein trübes Leben bei matten Funzeln muß das gewesen sein, mit wieviel Wehmut mögen die Menschen den Wechsel vom Herbst zum Winter empfunden haben!

Bitterer als im Jahreskreis würgt derselbe Wechsel uns in seiner großen Gestalt. Auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai, der Schnee auf dem Haupt aber wird von keinen Jugendlocken mehr abgelöst. Im noch größeren Zusammenhang schon, da spielt die Großmutter mit dem Enkel, ähnlich den Jahren folgen sich die Generationen. Wohl dem alten Menschen, der sich am Schwung der Jungen neidlos mitfreuen kann. Läge in solch weisem Verzicht aber schon die ganze Wahrheit, dann wäre auch das neueste Glück im Kern vergiftet, weil jeder weiß: auch ich werde bald hinfällig sein. Müßten wir des Lebens Winter für das Ende ohne neuen Frühling halten, dann würde - anders als das Tier lebt der Mensch ja immer auch in der Zukunft - der künftige Frost schon im Voraus die Blüten morden: jene häßlich braunen Leichen sovieler frostzerstörter Kirschblüten, die uns heuer schmerzten, wären dann ein Gleichnis der verzweifelten Innenwahrheit aller irdischen Freude gewesen.

So ist es aber nicht. Das Menschenleben gleicht nicht einem Pfeil, der abgeschossen wird, schräg aufsteigt, seinen Höhepunkt durchmißt und wieder abwärts gleitet, bis sein Flug zu Ende ist, für immer vorbei. Diese Vorstellung, als wäre die Zeit ein Pfeil der Geschichte zwischen Anfang und Ende, ist zwar weit verbreitet, vor allem bei uns im Abendland. Sie ist aber nicht die Wahrheit, nur ihr äußerer Anschein, genauer: das eine Gesicht, das die Zeit einem Teil der Menschheit zeigt, vor allem uns im Abendland.

Das andere, ebenso einseitige Gesicht ist das der kreisenden Zeit. So fühlen die Naturvölker, bis vor kurzem auch die großen Kulturen Ostasiens. Wie Tages- und Jahreskreis ist ihnen auch das Ganze immer wieder dasselbe, wesenhaft Neues gab es nie und wird es nicht geben. Der einzelne Mensch gleicht dem Blatt eines Laubbaums, sein Wachsen und Welken bedeutet nichts im immerwährenden Atmen der Natur.

Sinnlich spürbar wird der Gegensatz beider Vorstellungen bei der Musik. Westliche Musik hat Pfeilform; denken wir an die großen Passionen, Sinfonien, Opern: das fängt an, drängt auf Höhepunkte zu und endet, je nachdem strahlend, verzweifelt, traurig, aber es hört auf. Hat man nicht bei den herrlichsten Stücken zuweilen den Eindruck, eine gewaltige Brücke hinüber in ein anderes, besseres Land breche plötzlich ab? Ganz anders die östliche (und auch manche moderne) Musik. Das fängt nicht wirklich an, sondern setzt irgendwo mittendrin ein, kreist in kleineren oder größeren Rhythmen und hört bloß äußerlich auf, nicht weil es aus wäre, sondern eher wie ein Besucher irgendwann den Konzertsaal verläßt, weil er auch noch anderes zu tun hat, von sich aus könnte die Musik aber andauernd weiter kreisen. Am Beispiel beider Musikarten kann der Gegensatz von Pfeil und Kreis jedem Menschen aufgehen.

Was ist die Zeit aber wirklich? Pfeil oder Kreis, was ist sie mehr? Als westliche Menschen, aber auch als Christen, sind wir schnell geneigt, unsere Musik für tiefer zu halten: hat nicht "am Anfang" Gott die Welt erschaffen, ist er nicht an ihrem Höhepunkt in eigener Person einer von uns geworden, wird nicht am Jüngsten, d.h. letzten Tag die Zeit der Schöpfung vorbei sein? Offenbar ist die Welt im Großen ähnlich gebaut, wie im Kleinen eine Oper oder Sinfonie.

Diese Überzeugung ist jedoch durch die Entdeckungen der Wissenschaft arg ins Wanken geraten. Zwar beharren manche Sekten darauf, die Erde sei nicht älter als 6000 Jahre; die großen Kirchen wissen aber, daß recht verstandener Glaube sich nicht gegen wissenschaftlich erwiesene Wahrheiten stellen darf. Viele Milliarden Jahre ist das Universum alt. Derart unermeßlich lange kreisen die Galaxien, daß die ganze Zeit der Menschheit im Weltall nicht mehr bedeutet als auf Erden das Aufwachsen einer Sonnenblume, mit der es bald wieder vorbei ist. Hat also die östliche Musik doch mehr recht? Ist jede Entwicklung kein einmaliger Sinnpfeil, sondern bloß ein winziges Teilstück des kosmischen Kreisens ohne Anfang und Ziel?

So sieht es aus. Auf solche Weise setzt ein heute herrschendes Grundgefühl Pfeil und Kreis zusammen: Die Zeit gleicht einem gewaltigen Kreis ohne Anfang und Ende, allerdings ist sein Umfang derart riesig, daß er uns Eintagsfliegen wie eine gerade Linie vorkommt, die aber nicht ganz gerade ist, vielmehr wellenförmig auf und ab steigt: viele winzige Pfeilbewegungen bilden miteinander den Kreis, so wie ein Jahr aus Sonnenauf- und -untergängen besteht und ein Jahrtausend aus vielen Wechseln von Frühling und Herbst. Ist der christliche Glaube an den einen Geschichtspfeil von der Schöpfung bis zum Jüngsten Tag also nichts als eine kindliche Illusion, die vor der Größe der wirklichen Zeit ebenso zerplatzt, wie angesichts der Realität die Einbildung des kleinen Kindes, sein Vater sei allmächtig und überaus klug? So sieht es, kein Wunder, der ungläubige Zeitgeist. Was kann der Glaube ihm erwidern?

Er gibt zu, daß die Verfasser der heiligen Schriften die kosmischen Zeiträume unterschätzt haben. Das war aber nur ein wissenschaftlicher Irrtum, vor solchen ist auch kein Wissenschaftler geschützt. Die Zeit ist auch jenes gewaltige kosmische Kreisen, von dem das heutige Weltbild weiß. Soviel räumt der Glaube ein. Aber, setzt er hinzu, sie ist auch der Pfeil der Geschichte, und zwar ist der Pfeil nicht nur ein winziges Gekräusel der Kreislinie, wie der Zeitgeist es sieht. Dem Glauben sind die "kleinen Pfeile" der Tage, Jahre, Menschenleben, Zivilisationen und Planeten keineswegs schon das Eigentliche, vielmehr nur zeichenhafte Schauspiele, irdische Darstellungen des großen Schöpfungspfeils vom Nichts zur Gottheit.

Derselben Wissenschaft, die den naiven Pfeilgedanken des früheren Glaubens zerrissen hat, verdankt heutiger Glaube das packendste Gleichnis für sein genaueres Selbstverständnis: den Satelliten. Erst dreht er sich mit der Erde im Kreise, dann steigt er als Pfeil zum Himmel empor und erreicht, während die ausgebrannten Raketenstufen zur Erde zurückfallen, seine himmlische Kreisbahn. Ähnlich bedeutet das große kosmische Kreisen, das für den ungläubigen Zeitgeist schon alles scheint, dem Glauben nur die irdische Basis des eigentlichen Geschehens, das alles Reale aus seinem Nichts bis zur Teilhabe am ewigen göttlichen Leben emporträgt. Was wir auf Erden als Rückfall ins Nichts erleben, das abendliche Dunkeln, winterliche Welken und Hinsinken im Alter, es betrifft nicht die Rakete selbst, nur ihre ausgebrannten Vorstufen.

So können wir jetzt, beim Übergang des Herbstes in den Winter, das seltsame Doppelgesicht des Kommenden verstehen. Aufs Irdische gesehen, bringt es Schwächung bis hin zum Ende. Den Tag vertreibt die Nacht, den Farbenglanz der Natur der graue Winter, den Schwung des Lebens das "verfluchte Greisenalter" (Sartre). Dies ist das Geschick unserer irdischen Hülle; sofern wir als Personen mit ihr verbunden sind, ist es auch unser Geschick "und man ist dazu da, daß man's ertragt," weiß (mit der Marschallin im Rosenkavalier) unser Herz. Wenn jemand es vertrauensvoll erträgt, dann mag er auf einmal das beglückende Geheimnis der Nacht, des Winters und des Todes ahnen: Sie bringen das Ende nur dem Treibsatz des Werdens, der Rakete hingegen ihr Ziel, das Ruhe zugleich und Schwung ist, ein endloser himmlischer Fall ohne Absturz, ins ewige Sein.

Auf diese wunderbare Heilsbedeutung des Winters weist uns das Kirchenjahr hin. Was irdische Anstrengungen nicht erreichen und was der Erde doch so not tut, das ereignet sich am finstersten Punkt des Jahres. Mitten in die Nacht nach dem dunkelsten der Tage leuchtet der Weihnachtsstern. "Liebt doch Gott die leeren Hände und der Mangel wird Gewinn. Immerdar enthüllt das Ende sich als strahlender Beginn" (Bergengruen). Sooft irgendeine Lebensgestalt zu Ende geht, sollen wir uns also fragen: Klammere ich mich an die Treibstufe an? Dann verglühe ich bei ihrem Absturz mit. Oder finde ich den Weg nach innen, zur Rakete selbst? Dann wartet auf mich Himmlisches Bleiben. Die Gesinnung macht es. Ein Knecht, dessen Knechtszeit vorbei ist, erleidet den Pensionsschock und stirbt. Nicht so der Freund einer Freundin, dessen bloße Freundeszeit in der Hochzeitsnacht zu Ende geht. Wie sagt, aus Jesu Mund, zu uns die göttliche Liebe? Ich nenne euch nicht mehr Knechte, sondern Freunde (Joh 15,15).

Ja: "Zur Hochzeit ruft der Tod" (Novalis). Wir erinnern uns wieder an das Beziehungsgefüge der göttlichen Personen: Des Vaters DU bezieht sich auf das ICH des Sohnes im EINS des Heiligen Geistes. Nicht mein, sondern dein Wille geschehe, hat Jesus am Ölberg gebetet, dann ist das grausig Fremde über ihn hereingebrochen. Und dann? Dann liegt der Tote auf dem Schoß seiner Mutter, der Pietà, wie so viele Künstler es dargestellt haben. "Nackt bin ich kommen aus meiner Mutter Leib, und nackt kehre ich dorthin zurück," sagt geheimnisvoll Ijob (1,21). Wieso dorthin? Meint der Verfasser die Mutter Erde? Oder der Heilige Geist sich selbst, die göttliche Mutter, das Ur-EINS von DU und ICH, wohin zuletzt alles heimfindet? Wer hier Beweise verlangt, geht leer aus.

Einen Hinweis aber gibt uns das Atmen. Denn beim kürzesten der Sinn-Rhythmen findet der jetzt bedachte Übergang am Ende des Ausatmens statt: der Sänger, Trompeter oder Taucher hat keine Luft mehr, seine aktive Zeit ist um, alles ist leer in ihm, öde wie auf einem tiefverschneiten Feld. Aber: Sie ist da, Sie die "wilde Luft, weltmutternde Luft" (so nennt der englische Priesterdichter G. M. Hopkins die geschaffene Gnade, die Heilige Jungfrau). Sie, Symbol der unerschaffenen Gnade, läßt uns nicht ersticken, wenn wir dem Wechsel der Sinnzeiten zustimmen.

Am Ende von "Singet", der gewaltigsten aller Bach-Motetten, beginnt der Baß unmittelbar nach einer anderen Melodie (so daß zum Atmen kaum Zeit bleibt) mit einer langen Koloratur die Schlußfuge auf den Text "Alles, was Odem hat, lobe den Herrn". Der Hauptakzent ("lo") kommt erst als 35. Note! Einmal hatte ein Sänger so gut wie keinen Odem mehr, als der Nebensatz endlich vorbei und das entscheidende Bekenntnis dran war; mit letzter Kraft warf er sich auf diese Silbe, schmetterte sie ins Schweigen des Jüngsten Gerichtes hinein mit dem brennenden Vertrauen: dies soll gelten von meinem Leben, wenn alles vorbei ist, dies - und nichts von dem, was ihm widerspricht. Später begriff er die winzige Teilhabe am Geschick Christi. Hat nicht auch Jesus, der die Fülle des Odems hatte, den Heiligen Geist, mit letztem Atem ("er gab den Geist auf" - Joh 19,30) Gott verherrlicht?

Nicht jeder unserer Atemzüge zeigt so deutlich, was jeder ist, ein gottgeschenktes Unterpfand der wilden Hoffnung: Das Ende unseres (längst begonnenen) Sterbens werde zugleich der Anbruch jener seligen Gottesfülle für uns sein, die keine Finsternis, Kälte und Leere mehr kennt.


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