Jürgen Kuhlmann

Das unspaltbare Licht


Goethes Farbenprophetie

"Goethe? Was er über die Farben gemeint hat, können Sie vergessen. Er sah sie bloß ästhetisch. In Wirklichkeit, da hat Newton recht, setzt das Sonnenlicht sich aus den Spektralfarben zusammen." Mein Freund, der Physiklehrer, ist sich völlig sicher. Kein Wunder: So hat er es als Schüler und Student gelernt und später selbst jahrzehntelang seinen Schülern gezeigt: wie der Sonnenstrahl durch das Glasprisma scheint und ein buntes Band auf die weiße Wand zaubert, weil eben im weißen Licht Strahlen verschiedener Wellenlänge beisammen sind, die dann durch das Prisma verschieden stark gebrochen und deshalb auseinandergezogen werden.

Goethe war anderer Ansicht und hat leidenschaftlich für sie gekämpft: "Wer aber das Licht in Farben will spalten, den mußt du für einen Affen halten." Darin sah er seine Aufgabe: "Ich erkannte das Licht in seiner Reinheit und Wahrheit, und ich hielt es meines Amtes, dafür zu streiten." Der größte deutsche Dichter war auf seine Verse weniger stolz als auf seine Farbenlehre; mit achtzig Jahren zog er sein "Bewußtsein der Superiorität" aus der unbeirrbaren Überzeugung, daß er "unter Millionen der einzige sei, der in diesem großen Naturgegenstande allein das Rechte wisse".

"Goethes Farbentheologie" nannte der Göttinger Germanist Albrecht Schöne seinen Forschungsbericht, der Ende 1987 bei Beck erschienen ist. Im Titel steckt die These: Goethe habe seinen Kampf für die Reinheit des Lichts als religiöse Lebensaufgabe empfunden. Am Anfang stand ein Offenbarungserlebnis. Beim Blick durch ein Prisma erschien die Wand nach wie vor weiß, "und ich sprach wie durch einen Instinkt sogleich vor mich laut aus, daß die Newtonische Lehre falsch sei". Detektivisch zeigt Schöne, wie der Lichtprophet in verschiedenen Figuren der Kirchengeschichte sich selbst wiederfindet, etwa in Arius (der von der Dreifaltigkeitslehre nichts wissen wollte); die Newtonianer hingegen verspottet er als orthodoxe Kirche, z.B. in dem frechen (zu Lebzeiten nicht veröffentlichten) Xenion: "Das ist ein pfäffischer Einfall! Denn lange spaltet die Kirche / Ihren Gott sich in drei wie ihr in sieben das Licht." Auch als neuen Luther hat Goethe sich gesehen: Luther habe die Finsternis der Pfaffen geerbt, "und mir ist der Irrtum der Newtonischen Lehre zuteil geworden". Schönes Buch liest sich spannend und mißt weite Horizonte aus. Erhellende Texte anderer Denker, z.B. von Rudolf Steiner, Karl Jaspers und Werner Heisenberg, vertiefen das Rätsel. In einem Anhang werden sämtliche Gedichte Goethes abgedruckt und kommentiert, die sich auf die Farbenproblematik beziehen.

"Die Nachgeborenen," schreibt Schöne, "werden dieses tief befremdliche und anstößige Werk mit neuen Augen lesen müssen" (135). Im Anschluß an die Rezension versuche ich, einen Beitrag zu solcher Blickerneuerung zu leisten. Germanisten erforschen Goethes Texte, Physiker widersprechen ihm; beides ist wichtig, genügt aber nicht. Wagen wir uns deshalb an die philosophische Fragestellung. Angenommen, Goethe habe im Kern recht gehabt: wie läßt sich seine Wahrheit dann mit den physikalischen Tatsachen versöhnen? Nun, schon Newton sagt: "Streng genommen sind die Strahlen nicht farbig; in ihnen liegt nichts als eine gewisse Kraft oder Fähigkeit, die Empfindung dieser oder jener Farbe zu erregen." Ein heutiger Experte unterscheidet zwischen erlebter Farbe und physikalisch-biologischem "Farbreiz" (N.Treitz, Farben, Stuttgart 1985,11). Mithin geht es den Physikern um die Strahlen, nicht um die Farben; Goethe hingegen liegt an den Strahlen nichts. Wochen vor seinem Tod schreibt er zum Thema Regenbogen: "Von Strahlen ist gar die Rede nicht, sie sind eine Abstraktion ..."

Wenn Goethe unter Licht und Farben aber nicht die Strahlen der Physik verstand, was dann? Etwa bloß Bewußtseinsinhalte, subjektive Eindrücke? Bestimmt nicht. Mit Recht wendet Schöne sich auch gegen die anthroposophische Deutung, als hätte Goethe nicht vom realen Sonnenlicht gesprochen, sondern vom Licht als einer "rein geistigen Entität". Um das rechte Verständnis der Wirklichkeit kämpft Goethe. Eben vom realen Licht aber sagen die Physiker: Wird das Licht durch ein Prisma geleitet, so zerfällt es in Farben, also besteht das Licht aus Farben. Ich erfinde einen formal gleichen "Beweis": Wird ein Kaninchen durch eine Wurstschneidemaschine geleitet, so zerfällt es in Scheiben, also besteht das Kaninchen aus Scheiben. Das ist offenkundig Unsinn; nicht das Kaninchen besteht aus Scheiben, sondern der Kadaver. Dieser Vergleich ist in Goethes Sinn, er nannte den Prismenversuch eine Folterung, ja Kreuzigung des Lichtes. - Das Licht ist aber doch kein Lebewesen! Richtig. Trotzdem gilt der Vergleich. Denn, ähnlich wie ein Lebewesen, ist das Sonnenlicht nicht bloß die tote Summe seiner Teile, sondern ein Ganzes, etwas echt Eines, Unteilbares.

Das Licht ist die Beziehung der physikalischen Strahlung auf ein (pflanzliches, tierisches oder menschliches) Lebewesen. Ein Pol dieser Beziehung ist die Strahlung, der andere das Lebewesen. Mit dieser Antwort kommt freilich nur zurecht, wer sich das herrschende Vorurteil zertrümmern läßt, als wäre Sein so etwas wie Klotz-Sein: real dort draußen. Nein: Was dort draußen real ist, macht stets nur den einen Pol eines Wirklichen aus, sein anderer Pol ist das (mehr oder minder) bewußt erfahrende Lebewesen. Kurz: Seiend, wirklich ist nicht das objektiv Reale als solches (das von der Wissenschaft erforscht und der Technik benutzt wird), sondern wirklich ist die Spannung zwischen diesem Objektiven und einem erlebenden Subjekt.

Das Sonnenlicht ist somit jene reine, belebende Helle, die uns an einem schönen Tag beglückend umfängt. Sie ist tatsächlich unteilbar eins, nämlich ein Realsymbol der unfaßbar reinen göttlichen Einheit selbst. Hätte Goethe statt einer dekadenten Dreifaltigkeitslehre z.B. die Lichtmystik des Athos kennengelernt, dann hätte er nicht über den gespaltenen Gott gespottet, sondern seine Lichtanbetung vielleicht als das erkannt, was sie im Grunde ist: die Verehrung der reinen, in Gott selbst den unendlichen Abgrund überwölbenden Einheit des Heiligen Geistes.

Ihn symbolisiert das Himmelslicht, solcher Hinweis ist sein Sinn; die Beziehung der Strahlen zum Bewußtsein, wie sie durch Auge und Haut vermittelt wird, ist sein Sein. Die Strahlung aus Wellen schließlich, die sich im Prisma brechen, ist nicht das Licht, sondern nur sein objektiver Pol. Insofern hat Goethe also gegen Newton recht: Das Licht besteht nicht aus Farben, sondern ist eins und rein. Freilich hat auch Goethe mit Strahlen und Prisma hantiert, sich auf die Fragestellung der Physiker eingelassen und insofern seinen Windmühlenkampf verlieren müssen.

Das ist aber nicht entscheidend. Daß wir heute, zweihundert Jahre nach Goethes chromatologischem Durchbruch (1790), dank seiner unermüdlichen Halsstarrigkeit vielleicht über den objektivistisch entfremdeten Seinsbegriff der Neuzeit doch hinwegkommen und neu erfassen können, was "Wirklichkeit" für uns Menschen wirklich bedeutet: das ist, da hatte der Alte schon recht, für die Menschheit wirklich wichtiger, als wenn Johann Wolfgang von Goethe noch vier Dramen mehr verfaßt hätte.

25. Juli 1989

Veröffentlicht in der Nürnberger Zeitung vom 12. August 1989. Albrecht Schöne schrieb mir am 23. September in einem handschriftlichen Brief:

"Danke für Ihren Brief und die Nürnberger Besprechung. Das Kaninchen-Gleichnis mag ja ein wenig hinken (oder hoppeln), aber doch nur ein wenig. Ihre weiterführende, auch über die Einsichten des Farbenlehrers selbst hinausgreifende These leuchtet mir durchaus ein. -
Weil Sie danach fragen: es hat eine ganze Reihe von Besprechungen gegeben. Aber sehr deutlich wird doch (was besonders Rezensionen in den wissenschaftlichen Zeitschriften angeht) die Scheu der hist.- oder naturwiss. oder theolog. Fachleute vor einer Sache, die so entschieden zwischen den Stühlen sitzt. Das war vorauszusehen."


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