Jürgen Kuhlmann

Meine Schlauheit -
deine Güte ?


Christ und Manipulation

Eine längst vergangene Geschichte läßt mir keine Ruhe. Ihr erster Akt spielt in den frühen Fünfzigern. Ich hatte gerade ein amerikanisches Erfolgsbuch gelesen; derzeit schmückt es wieder die Schaufenster der Buchläden: Dale Carnegie, Wie man Freunde gewinnt und Menschen beeinflußt. Bei Konflikten mit amtlichen Autoritätspersonen rät er, auf keinen Fall recht haben zu wollen; dann sähen sie ihre Autorität bedroht und sich gezwungen, sie durch Strenge zu sichern. Nein, wir sollten das Recht des andern ausdrücklich betonen, ja sogar andeuten, er könne gar nicht anders als gegen unsere Verfehlung scharf durchzugreifen. Dann hätte er keinen Grund mehr, die offene Tür einzutreten, und fühle sich eher zu zeigen veranlaßt, daß er weder Unmensch noch Sklave seines Apparates sei.

Eines Abends radelte ich mit meinem Freund lichtlos dahin, als ein Polizist uns stoppte und die Räder zu schieben befahl. Wir taten es, stiegen aber bald wieder auf.1 In einer Tram überholte er uns. Was tun? "Laß mich das machen," flüstere ich meinem Freund zu und lege los. Ich verdemütige uns in Grund und Boden, beschwöre den Uniformierten geradezu, uns schrecklich zu strafen, wo kämen wir da hin und überhaupt sei es ohne Licht furchtbar gefährlich ... Bis er mich begütigend unterbrach, so schlimm sei es nun auch nicht - und uns laufen ließ. Wie habe ich triumphiert !

Beim zweiten Akt war ich fast doppelt so alt. Ich besuchte die Eltern eines Kommunionkindes, der Vater war ein junger Polizist. Arglos (?) erzählte ich ihm die Geschichte. Seine Reaktion war eisiger Zorn. Vermutlich war ihm Ähnliches auch schon passiert und er sah sich plötzlich in einem Zerrspiegel: Wo er von der eigenen Großzügigkeit überzeugt war, mußte er das überlistete Opfer schlauer Manipulation erblicken. Ein klärendes Gespräch fand nicht mehr statt.

Auch jener Abend ist nun schon wieder zwanzig Jahre her und endlich geht der alte Knoten auf. Falsch war, so sehe ich es jetzt, nicht mein Spiel mit den Gefühlen des Ordnungshüters gewesen. Gott hat die Welt als einen Kampfplatz geschaffen, er will den Wettbewerb, das gnostische Ideal undifferenziert friedlicher Einheit ist von der Kirche als Irrglaube verworfen worden. Wo der Kampf scheinbar verboten ist, statt seiner "Harmoniezwang" herrscht (wie in manchen Häusern, die geistlich sein wollen), da gilt tatsächlich nicht der göttliche, sondern ein fauler Friede, der stärkste Faktor würgt alle Eigenständigkeit der schwächeren ab. Bei einer unkirchlich-weihevollen Hochzeitsfeier saßen im Sommer 1986 die Gäste in einem weiten Kreis unter Bäumen und jeder hatte etwas Geistliches mitgebracht. Eine der geladenen Damen sagte, statt ein Gedicht oder einen Bibelvers vorzutragen, dem Brautpaar nur einen einzigen Satz: "Ich wünsche Euch Mut zum Konflikt." Einige wirkten irritiert - das bei solchem Anlaß? Erfahrene Eheleute aber stimmten ihr zu.

Ja: In der Geschichte geht es ohne Kampf nicht ab. Treffen gegensätzliche Interessen aufeinander, so kann nicht jedes die Situation bestimmen. Entweder wird das Zebra gefressen oder der Löwe verhungert. Und doch soll in der Welt, wie Gott sie will, das Lamm neben dem Löwen ruhen. Wie zweideutig es hier zugeht, zeigt Davids Kampf gegen Goliath. Die Katechetin erklärt, David habe sich in seiner Schwachheit ganz auf Gott verlassen und sei deshalb mit dem Sieg beschenkt worden. Militärhistoriker rühmen ihn als den Erfinder einer fortschrittlichen Taktik. Ähnlich wandte ich damals ein schlaues Rezept an; ein Heiliger wie Dostojewskis Idiot hätte scheinbar dasselbe sagen, es aber ehrlich meinen können. "Seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben" (Mt 10,16), rät das Wort Gottes in Person. Wie erklärt der christliche Theologe dieses scheinbar unmögliche "und" unseres Herrn ?

Versetzen wir uns in die Stimmung der Zeit seines Auftretens zurück. "Das Reich Gottes ist nahe," war der Grundton der Bergpredigt. Weil die Welt dann wider Erwarten doch nicht unterging, weil die Christen sich in der weiterlaufenden Zeit einrichten mußten, deshalb müssen wir stets fragen: Welche "innere Zeit" gilt für mich in dieser Situation? Ist jetzt die geschichtliche Schöpfungszeit "dran", soll ich mich schlangenklug meiner, unserer Haut wehren? Oder ist "jetzt die Zeit der Gnade" (2 Kor 6,2), "die letzte Stunde" (1 Joh 2,18), da meine Gewaltlosigkeit ein göttliches Zeichen der ewigen Entmachtung aller irdischen Konflikte sein darf?

Es heißt Ernst machen damit, daß dies zwei grundverschiedene göttliche Dimensionen sind. In der Schöpfungszeit gilt der Gegensatz von Subjekt und Objekt, er hat in der Beziehung Vater/Sohn seine innergöttliche Wurzel. Wenn zwei Schachmeister einander gegenübersitzen, ist jeder Subjekt der eigenen und Objekt der fremden Pläne; wer diese besser durchschaut, gewinnt den Kampf. In der Heilszeit hingegen gilt die Wir-Einheit, nicht die Ich-Du-Distanz, ihre göttliche Wurzel ist die personhafte Liebe, der Heilige Geist. Das Leben der Einzelnen und Gemeinschaften wird von einem trinitarischen Rhythmus bestimmt: "Es gibt eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen, eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden" (Qoh 3,8), d.h. der Kairós des Ich-Du-Gegensatzes unterscheidet sich vom Kairós der Wir-Einheit.

Zurück zur Story. Nicht die Manipulation war falsch, in der Schöpfungszeit ist Kampf nicht zu vermeiden, einer der Hauptkampfplätze aber sind die Gefühle der Menschen, die sich durch List beeinflussen lassen.

Falsch war der Triumph hinterher. Und zwar aus zwei Gründen. Zum einen hatte ich (innerhalb der Ich-Du-Dimension) den Polizisten nur für das Objekt meiner Schlauheit gehalten, ihn nicht als das Subjekt anerkannt, das er doch auch war. Vielleicht hatte sich die Geschichte ja völlig anders abgespielt. Vielleicht hatte er mein billiges Spiel durchschaut, es mit der Überlegenheit des Erwachsenen einfach umgedreht und sich gedacht: Ich lasse dem Buben das Vergnügen eines leichten Sieges; wer weiß, wie schwer er es sonst hat, der Erfolg stärkt sein Selbstbewußtsein und das ist für das Gemeinwohl, dem ich als Beamter verpflichtet bin, auf die Dauer besser als der Grimm eines wieder einmal geduckten Muckers. Daß ich diese Möglichkeit nicht einmal erwog, muß schlicht dumm heißen. Gibt es aber nicht auch eine Menge Erwachsener, die sich viel auf ihre menschenlenkende Schlauheit zugute tun und gar nicht merken, wie die Objekte den Spieß umdrehen, sie lächelnd in ihrem Wahn belassend ?

Schlimmer, und wahrscheinlich der Grund für den Zorn des anderen Polizisten, war aber meine Beschränkung auf die Ich-Du-Dimension: die Tatsache, daß ich die Wir-Dimension des Heiligen Geistes völlig vergaß. Mit der Freiheit zum Guten in der Person des andern hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Was bei ihm - vielleicht - ein Augenblick der Gnade war, der Teilhabe an der Liebe des Ganzen zu jedem Wesen, das hatte ich zum mechanischen Effekt meiner Einwirkung auf seinen psychischen Apparat herabgewürdigt. Dies war, ich muß es gestehen, ähnlich geistlos, wie wenn jemand ein Violinkonzert für ein Kratzen von Pferdehaaren über Katzendärme hält oder die Frage nach der Blume eines großen Weines mit einer Reihe chemischer Formeln beantwortet.

Richtig wäre gewesen, mich freundlich von ihm zu verabschieden, im Bewußtsein unserer menschlichen Einheit, die alle Differenzen übersteigt, und ohne Überlegenheitsgefühl an diesem Bewußtsein festzuhalten, weil nach einer Geschichte niemand wissen kann, wie die Einflüsse von Schicksal und Tüchtigkeit, Freiheit und Gnade sich ineinander verschränken. "Richtet nicht!" Weil auf Erden jedes Ende der einen Geschichte in den Beginn einer anderen verschwimmt, deshalb kann eine eschatologische Heilsfrucht (im strengen Sinn der Worte: Heil = whole, friedliche Wir-Ganzheit als Ende einer Ich/Du-Polarisierung) dann zugleich zur protologisch-paradiesischen Knospe neuer Schöpfungszeit werden, jetzt aber auf höherem, geistlicherem Niveau.

Ja, wir Christen sind solche, die wahrhaft "das Ende der Zeiten erreicht hat" (1 Kor 10,11). Und doch wird die Welt an unserem sechsten Tag gerade erst geschaffen. Im Herzen des Glaubenden gelten beide Wahrheitspole immer; denn jeglicher Augenblick wird sofort verewigt. Was aber den sichtbaren Ausdruck auf den Brettern der Weltbühne betrifft, heißt es immer wieder nach dem Kairós fragen. Und sich nicht wundern, wenn Gott dieselbe Manipulation einem Franziskus verbietet, einem Ignatius aufträgt. Im Spannungsfeld der Dreifaltigkeit gibt es mehr als eine Weise von heilig.


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