Jürgen Kuhlmann

Ist der Weg das Ziel?

»Sie meinen also, daß der Weg das Ziel ist?« fragt die junge Frau.

Ich stocke. Meine ich das wirklich? Freue ich mich nicht auf das strahlende Ziel nach allen Wegen, daheim, in patria, nicht bloß in via? Diese Grundunterscheidung der mittelalterlichen Glaubensdenker wische ich nicht weg. Und doch - was bin ich? Nichts als dieser zeitliche Mensch, unterwegs vom Mutterschoß zur Bahre. Deshalb gehört der Weg wesentlich zu mir, somit auch, wenn es eines gibt, zu meinem Ziel. Was soll ich erwidern?

Statt zu Worten greife ich zum Stift und zeichne eine verworrene Linie aufs Papier, die sich vielfach überkreuzt. Schauen Sie, das ist der Weg. In jedem Moment überblicken wir nur eine winzige Strecke. Er formt sich aber allmählich zu einer Figur. Und die, als ganze, ist zuletzt das Ziel.

So ist der Weg das Ziel und trotzdem ist das Ziel mehr als der Weg, weil es auf einmal und wunderbar zugleich alles in sich faßt, was während des Weges auseinanderlag. Das hoffen wir für jedes Einzelleben, und für uns insgesamt. Alle so verschiedenen Wege ergeben schließlich das unendlich bunte Ziel. Ähnlich, wie im Orchester alle Instrumente zuerst je einzeln üben und sich beim Konzert zu einer Sinfonie zusammenfinden. Das Ziel ist mehr als der Weg, denn kein Musiker, während er in seiner Kammer übt, ahnt die Pracht der Sinfonie. Und doch ist der Weg das Ziel, denn nichts anderes als das neue Ineinander aller je geübten Teilmelodien ist zuletzt das Konzert.

Um so schöner wird es, je aufmerksamer wir jetzt schon auf den Willen des Dirigenten achten, der uns geheimnisvoll nahe ist und mitteilt, wie (Er)[,] das Ganze[,] sich denkt. Denn - hier versagt das Konzert-Gleichnis, aber die Linien-Figur stimmt - nichts anderes ist DANN die Figur als die lebendige Summe aller Jetzt-Etappen des Weges. Scheinbar übst du erst für dich - in Wahrheit sind wir schon mitten bei der Aufführung, deren Gesamtklang uns freilich erst DANN erreicht. Und nie mehr verklingt.

Juli 1997

Siehe auch die erweiterte Fassung dieser Gedanken vom Mai 2001.

Siehe dazu auch: Reich Gottes oder Nirwana? Vergleich des christlichen und buddhistischen Heilswegs.


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